11. Mai 2016

Rückblick Januar bis April 2016: Autorenklub, Streitraum, Poetry Slam, Karneval, Hommage und ((re-)re-)re-visited Stücke

Schon sind wieder vier Monate seit dem letzten Rückblick vergangen. Viel hat sich angesammelt an Erfahrungen und Erlebnissen. Ich habe 21 Stücke gesehen, 2 Autorenklubs von Wengenroth besucht und an 8 weiteren Theater-Veranstaltungen teilgenommen. Der April war natürlich vom FIND geprägt - dazu hatte ich bereits ausführlich berichtet. Auch Max Penthollow hat mir wieder geschrieben, seine Berichte habe ich im Text verlinkt.


JANUAR

08.01. Probedurchlauf Die Mutter von Bertolt Brecht (Schaubühne)
Studierende der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" zeigen zusammen mit Urusla Werner als Mutter einen Theaterklassiker "aus einer Zeit, in der die Utopie einer herrschaftsfreien Gesellschaft noch möglich schien" und blicken "auf eine Gegenwart, die Revolution und Veränderung immer nötiger hat". Wie immer führt Peter Kleinert Regie. Die Musik kommt von Hanns Eisler, die musikalische Leitung hat Mark Scheibe. Wir vom Freundeskreis dürfen diesen Probedurchlauf sehen, bevor die Student/innen vor dem "richtigen" Publikum spielen können.

Ursula Werner als "Die Mutter" mit Celina Rongen, Felix Witzlau (Foto: Gianmarco Bresadola)


16.01. PREMIERE Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs von Milo Rau (Schaubühne)
Eine großartige Ursina Lardi in einem bedrückenden wie beeindruckenden Stück über den Völkermord in Ruanda, die Grenzen des Humanismus und Mitleids. Der Text entstand als eine Art Zusammenschnitt von Interviews mit NGO-Mitarbeiter/innen und Kriegsopfern sowie eigenen Erfahrungen der Schauspielerin und des Regisseurs.

Ursina Lardi als Entwicklungshelferin in "Mitleid" (Foto: Daniel Seiffert)

18.01. Freunde der Schaubühne // Freunde feiern: Neujahrsempfang bei Friedrich Barner 
Bericht im Archiv des Freundeskreises

22.01. re-visited Stück Plastik (Schaubühne)
Hatte ich beim letzten mal erwähnt, wie gut das Stück im "Globe" funktioniert? Ohne diesen Bühnen- und Zuschauerraum wäre das Stück nicht das, was es ist. Und dass, obwohl es sich um ein zeitgenössisches Stück handelt.

Perfekt im Globe: "Stück Plastik" mit Robert Beyer, Jenny König, Sebastian Schwarz, Marie Burchard (Foto: Arno Declair)


28.01. Wengenroths Autorenklub: Stefan Zweig (Schaubühne)
Viele Flaschen Blauer Zweigelt. Eine Flasche Veronal. Gesang. Eine Bowie-Hommage von Eva Meckbach. Laurenz Laufenberg eingehüllt in einen Teppich. Ulrich Hoppe sterbend auf dem Sofa. Wengenroth as always: great. Texte über Europa. Stefan Zweig!


FEBRUAR
 
01.02. Brasch/Eidinger/Kranz (Schaubühne)
Bericht von Max Penthollow und mir "Eine Verbeugung vor Thomas Brasch"

02.02. re-re-visited thisisitgirl (Schaubühne)
Dieses Stück muss bitte noch lange gespielt und von vielen gesehen werden. Hier noch mal der Link zu meinem Bericht von der Premiere.

Männer und Feminismus: Ulrich Hoppe und Laurenz Laufenberg in "thisisitgirl" (Foto: Gianmarco Bresadola)


12.02. Freunde der Schaubühne // Freunde treffen Künstler: "Nehmense 'n andern" - Ein Abend mit Ulrich Hoppe
...aber zum Glück haben wir ihn doch eingeladen! Bericht im Archiv des Freundeskreises

14.02. PREMIERE Borgen (Schaubühne)
Bericht von Max Penthollow "Brillanter Trash"

Fernsehen im Theater: Sebastian Rudolph in "Borgen" (Foto: Arno Declair)
 
19.02. Filmreihe Luc Bondy: Wintermärchen (Schaubühne)
Zum Andenken an Luc Bondy wurden in der Schaubühne Aufzeichungen verschiedener Bondy-Inszenierungen gezeigt. Eine Hommage an einen großen (Schaubühnen-)Regisseur.

28.02. Jewgeni Onegin (Komische Oper)
Eine seltene Ausnahme: Ich bin mal in der Oper. Und ich genieße es. Tolles Bühnenbild. Tolle Sänger sowieso. Eine Inszenierung von Barrie Kosky.


MÄRZ   

01.03. re-visited Die kleinen Füchse (Schaubühne)
Beim zweiten mal hat mir das Stück besser gefallen und ich habe die Qualität der Inszenierung erkannt. Max Penthollow schrieb darüber. Urisana Lardi als Birdie Hubbard - fantastisch!


Frauen gegen das Boys-Network: Ursina Lardi als Birdie in "Die kleinen Füchse" (Foto: Arno Declair)

11.03. re-re-re-visited Tartuffe (Schaubühne)
Ja, es ist immer noch gut. Nein, es ist auch beim vierten mal nicht langweilig.
Max schrieb darüber. Und: Ich auch.

Cathlen Gawlich als Dorine und Franz Hartwig als Damis in "Tartuffe" (Foto: Katrin Ribbe)


20.03. Carnival Al Ladjin - Karneval der Geflüchteten
My Right Is Your Right! und die Berliner Bühnen veranstalteten anlässlich des Globalen Aktionstags gegen Rassismus eine Demo und hatten folgende Forderungen:
Für ein Recht auf Bewegungsfreiheit
Für ein Recht auf Bildung
Für ein Recht auf Arbeit
Für ein Leben in Würde
Für ein Recht auf Mitgestaltung, Teilhabe und Teilnahme
Für die Abschaffung der Residenzpflicht
Gegen antimuslimischen Rassismus
Gegen Abschiebungen

Für ein Recht auf Mitgestaltung: Carnival Al Ladjin (Foto: Stefanie Eisenschenk)


24.03. Poetry Slam – Dead or Alive (Schaubühne)
Die Lebenden, vier Poetry Slamer (Lisa Eckhart, Frank Klötgen, Julian Heun, Toby Hoffmann) treten mit ihren selbst geschriebenen Texten gegen die Toten, vier bereits verstorbene Dichter, an. Die Dichter werden dargestellt von Iris Becher (Mascha Kaléko), Ulrich Hoppe (Konrad Bayer), Bernardo Arias Porras (Pumuckl) und Jenny König (Pablo Neruda). Besonders viel Spaß (sic!) hatte das Publikum mit Pumuckl, der von Bernardo Arias Porras als das interpretiert wurde, was er eigentlich ist: Ein Punk und Anarchist. Im Finale versuchen die Dichter mit Goethes "Prometheus" zu punkten und treten im Boxer-Outfit an - trotz Pumuckls beeindruckender Rezitation des Gedichts gewinnen (natürlich!) die Slamer.


APRIL
        
03.04. Streitraum: Antisemitismus in Europa (Schaubühne)
Carolin Emcke im Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit, Agnes Heller und Stefanie Schüler-Springorum: Wie lässt sich Antisemitismus in Europa begegnen? Was sind die Ursprünge - welche Milieus und Motive bedingen Antisemitismus? Welche Rolle spielt der Nahost-Konflikt?

Über das FIND 2016 habe ich ausführlich berichtet.
Hier meine Reviews Teil 1, Teil 2 und Teil 3

21.04. Nora (Deutsches Theater)
Armin Petras hat das Stück von Ibsen für das DT überarbeitet: Nora und ihr Mann leben in einer bunten poppigen Welt. Sie sprechen eine - in dieser Inszenierung künstlich überzeichnete - Hippster-Sprache. In welchem gesellschaftlichen Konstrukt sollen sie leben?

25.04. Wengenroths Autorenklub: Friedrich Schiller (Schaubühne)
In der elften Ausgabe wird Schiller von Goethe (Performer Johannes Dullin) Konkurrenz gemacht. Außerdem gibt's Apfelkorn und verfaulte Äpfel auf der Bühne (jaja, Schiller - Tell - der Apfel). Und Ulrich Hoppe darf einen Text aus den Räubern als Ente sprechen (im Andenken an seine Ausbildungszeit bei einem "sehr berühmten Pantomime-Lehrer"). Iris Becher, Jule Böwe, Tilman Strauß und Mark Waschke konzentrieren sich auf Johanna, die Räuber und Goetz von Berlechingen. Tilman Strauß singt außerdem ein Abschiedslied, denn er wird das Ensemble (leider!) verlassen. Rührend!

26.04. Hamletmaschine (Deutsches Theater)
Vor neun Jahren hat Dimiter Gotscheff Heiner Müllers Hamletmaschine inszeniert und selbst darin gespielt. Zu einem Gastspiel in Havanna konnte er im Herbst 2013 nicht mehr mitreisen, trug aber dafür Sorge, dass eine Version gezeigt werden konnte, die seine Passagen per Video einspielte. Aus Anlass von Gotscheffs 73. Geburtstag ist diese Variante seiner legendären Inszenierung nun noch einmal am Deutschen Theater zu sehen. Im Zuschauerraum sind viele traurige und weinende Menschen - es ist eine Veranstaltung im Gedenken an eine großen Regisseur. Meinen Bezug zu diesem Theaterbesuch hatte ich im Zusammenhang mit dem FIND und der Milo Rau Inszenierung "The Dark Ages" bereits erwähnt - Valery Tscheplanowa erzählte.

4. Mai 2016

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 16: Laut und leise ("Sommergäste" in der Volksbühne)

Max Penthollow schreibt mir...

Liebe Maren,

ich war am 15. März 2016 in der Premiere von "Sommergäste" nach(!) Maxim Gorki an der Volksbühne und ein weiteres mal am Freitag, 18.März 2016 (erste Vorstellung nach der Premiere).

"Sommergäste" von Maxim Gorki - Volksbühne Berlin - Regie: Silvia Rieger - Premiere am Dienstag, 15. März 2016, 20 Uhr

Bei der Premiere habe ich es so empfunden:
Student/innen der Ernst-Busch-Hochschule für Schauspielkunst. Ich fand es schön und interessant, die Darsteller/innen hatten viel Freude ebenso wie das Publikum. Allerdings habe ich bisher keinen wirklichen Zugang gefunden zum Konzept der Inszenierung. Es war für mich insgesamt sehr laut und die Darsteller/innen haben teilweise sehr laut gesprochen (herausgeschrien und herausgebrüllt!), teilweise so laut, dass ich es nicht richtig verstanden habe.

Das Publikum saß auf der Bühne, das Stück spielte im Zuschauerraum. Einige Motive habe ich aus der Schaubühnen-Inszenierung wiedererkannt (ich habe die Schaubühnenfassung von Alvis Hermanis  fünfmal gesehen, vor drei oder vier Jahren).

Ich würde die Absicht der Regisseurin, Silvia Rieger,  gern besser verstehen. Aus meiner Sicht konnten die Schauspielstudenten einen Teil von den tollen Sachen zeigen, die sie können, aber mehr davon wäre für mich auch spannend gewesen.

Interessant und sehenswert ist die Inszenierung aus meiner Sicht allemal!

Nach der Premiere hat es mir keine Ruhe gelassen und ich bin noch einmal in das Stück gegangen. Nun komme ich zu dem folgenden Ergebnis:

Die Darsteller/innen haben zwar in ihrem Spiel viel und dominierend geschrien, das Schreien hat mich aber diesmal weniger irritiert und mehr beeindruckt als bei der Premiere, ich habe die Texte diesmal besser verstanden, und es gab doch immer noch und im ganzen Stück auch viele leise Momente, die für mich ganz bezaubernd waren. Sie waren in meiner Wahrnehmung am ersten Abend unter den lauten Tönen weitgehend untergegangen.

Silvia Riegers Inszenierung ist schlicht und schnörkellos, der Text und die Bühnenshow sind auf Wesentliches reduziert und durch Neues ergänzt.

Ich fand es wieder ganz toll, mit welcher Begeisterung und Lust und Freude die Darsteller/innen ihr Spiel gemacht haben! Die schwarze Bühne ist weitgehend leer, es gibt wenige Leitmotive: eine große weiße Birke, einen großen weißen Pilz und ein langes rotes Tischtuch schräg über den Bühnenboden, mit weißen Esstellern und silberglänzendem Besteck. Sehr schöne fantasie- und liebevoll gestaltete Kostüme, schönes Licht und eindrucksvolle Musik!

Mein Fazit: Gorkis "Sommergäste" ist und bleibt ein wunderbares Stück und die Inszenierung von Silvia Rieger und das begeisterte muntere Spiel der Darsteller/innen haben mir sehr gut gefallen! Sehr fein!

Es gab fröhlichen Applaus!

Allerliebst

Max
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Eine Kooperation mit der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin

Regie: Silvia Rieger
In der Bühne von: Bert Neumann
Kostüme: Laurent Pellissier
Licht: Torsten König
Einrichtung Musik und Ton: Wolfgang Urzendowsky
Dramaturgie: Sabine Zielke

Mit: Frank Büttner, Maximilian Hildebrandt, Daniel Klausner, Benjamin Kühni, Martin Otting, Marie Louise Rathscheck, Theresa Riess, Celina Rongen, Kim Schnitzer, Janet Stornowski, Ulvi Erkin Teke, Léa Wegmann und Felix Witzlau

Dauer: 1 Stunde 55 Minuten  

Weitere Infos auf der Seite der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

3. Mai 2016

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 15: Steht der Tropfen höhlt den Stein! ("Die Affäre Rue de Lourcine" am Deutschen Theater)

"Der Schnaps hat's ganz schön in sich!" (Zitat aus der Aufführung, vorgetragen vom Dienstmädchen Justine) 

Max Penthollow schreibt mir...

Liebe Maren,

kürzlich habe ich im Deutschen Theater Eugene Labiches "Die Affäre Rue de Lourcine"  gesehen.

Hier ist mein Bericht:

"Die Affäre Rue de Lourcine"  von Eugène Labiche – Deutsch von Elfriede Jelinek – Regie: Karin Henkel – Deutsches Theater Berlin -  Premiere am Sonntag, 17. Januar 2016, 19:30 Uhr

Eugène Labiche hat von 1815 bis 1888 gelebt, in Frankreich, erst in Paris und später auf dem Lande. Nach abgeschlossenem Jurastudium arbeitete er als Journalist, Stückeschreiber, als Landwirt auf seinem Gut und als  Politiker, mit 55 Jahren war er Bürgermeister von Sologne. Eugène Labiche hat 175 Theaterstücke geschrieben mit 48 Koautoren und hatte mit seinen Stücken einen Riesenerfolg! Das Schreiben sei ihm ganz leicht gefallen! (Quelle: Programmheft des Deutschen Theaters zum Stück).  Labiche's Thema: die Welt des Bürgertums - seines Bürgertums: seine Welt!

"Die Affäre Rue de Lourcine", ist in deutscher Sprachfassung erstmalig 1988 an der Berliner Schaubühne aufgeführt worden (Quelle: Wikipedia), nun am Deutschen Theater Berlin, damals wie heute in der Übersetzung aus dem  Französischen von Elfriede Jelinek.

Eine Farce aus dem Jahr 1857: zwei Männer, Lenglumé und Mistingue, erinnern sich nach einer Sauftour vom Vorabend und der vergangenen Nacht beim "Jahrestreffen der Ehemaligen" an gar nichts mehr. Am Mittag des nun angebrochenen Tages soll eine Kindstaufe stattfinden, zu der sich gerüstet werden muss. Lenglumés wechselhaft strenge Ehefrau Norine liest aus der Zeitung vor, dass in der vergangenen durchzechten Nacht in ihrer Straße (Rue de Lourcine) ein junges Kohlenmädchen grausam ermordet worden sei. Es gibt nur wenige Indizien, aber die weisen laut dem Zeitungsbericht unerbittlich und kompromisslos auf die beiden Männer als die Täter bzw. als Tatbeteiligte hin.

Für mich ist es eine schrille, von Karin Henkel liebevoll und spannend inszenierte Posse, ein Schwank mit überraschender Wendung und kathartischem Schluss! Die Darsteller/innen haben große Freude an ihrem Spiel, die Bühne dreht sich stimmungsvoll zu déjà vus, das Publikum geht gut mit!  

Ich finde: 160 Jahre nach ihrer Entstehung und fast 30 Jahre nach ihrer deutschen Erstaufführung ist "Die Affäre Rue de Lourcine" im Deutschen Theater eine besondere Perle!

Ich fand es ganz toll!

Liebste Grüße

Max
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Regie: Karin Henkel
Bühne: Henrike Engel
Kostüme: Nina von Mechow
Musik: Arvild Baud
Dramaturgie: Claus Caesar, Hannes Oppermann

Oscar Lenglumé: Michael Goldberg
Mistingue / Norine: Felix Goeser
Norine: Anita Vulesica
Potard / Justine: Christoph Franken
Justine: Wiebke Mollenhauer
Sohn / Justine / Oscar Lenglumé: Camill Jammal


Weitere Infos auf der Seite des Deutschen Theaters.

25. April 2016

FIND 2016 – Review Teil 3 (13.-17. April 2016): Wild Minds, Natura e origine della mente, LIPPY, The Dark Ages

SIEBTER TAG (Mittwoch, 13. April 2016)
Ich musste die letzten Tage des Festivals erst ein wenig verdauen, bevor ich jetzt darüber schreiben kann. Auf der einen Seite ist es selbst für mich anstrengend so viele Theater-Eindrücke zu verarbeiten. Auf der anderen Seite wurde ich bereits Mitte der Woche beim Gedanken daran, dass das FIND bald schon wieder vorbei sein würde, wehmütig. Ich fühlte mich wie ein Gefäß, dass kurz vor dem Überlaufen ist. Das ist dann am letzten Tag eingetreten. Der Reihe nach...

Wild Minds
Wir betreten den Bühnenraum des Studios und setzen uns in einen Stuhlkreis. Geblendet vom Licht kann man sich nicht wirklich entspannen und die Situation ist sowieos schon ungewohnt. Wir befinden uns in einer (Selbsthilfe-)Gruppe, vier Schauspieler beginnen zu erzählen. »Maladaptive daydreaming«, eine psychologische Störung, bei der die Phantasien der Tagträumer das Leben völlig dominieren. Die Schauspieler erzählen uns von ihren Traumwelten und irgendwann vergisst man, dass man im Theater ist. Man beginnt zu nicken, zu verstehen, mitzufühlen. Und ist den Betroffenen sehr nah. Der schwedische Autor und Regisseur Marcus Lindeen hat in New York per Skype und im persönlichen Gespräch Menschen interviewt, die sich selbst als »compulsive daydreamers«, als zwanghafte Tagräumer, bezeichnen. Während der Performance hören die Schauspieler die Originalaufnahmen der von Lindeen geführten Interviews und versuchen, die Stimmen so genau wie möglich nachzusprechen. Auch so habe ich Theater noch nie erlebt...

Von Phantasiewelten bestimmt (Foto: Helena Tossavainen)
 
Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Daydreaming Theatre. Marcus Lindeen’s »Wild Minds«

Text und Regie: Marcus Lindeen
Musik und Sounddesign: Hans Appelqvist
Casting und Regieassistenz: Sara Björnstedt Qvarsell
Kuratorin: Catrin Lundqvist, Moderna Museet

Mit: Sandra Carpenter, Vaughn Rice, Mika Risiko, Kiki Snodgrass

Dauer: ca. 35 Minuten

Auftragswerk des Moderna Museet in Stockholm.


ACHTER TAG (Donnerstag, 14. Aril 2016) 
Für mich war heute Pause.


NEUNTER TAG (Freitag, 15. April 2016)

Natura e origine della mente
Von Romeo Castellucci erwartet man stets Merkwürdiges. Auch über "Natura e origine della mente" ("Von der Natur und dem Ursprung des Geistes") hörte man im Vorfeld schon kuriose Dinge. Als Grundlage für das Stück dient die Ethik von Baruch de Spinoza (1632-1677). Die Zuschauer/innen betreten durch eine Öffnung einen weißen Raum auf der Bühne und sind Teil der Inszenierung, die eher eine Installation ist. Sofort denkt man an einen White Cube aus der Bildenden Kunst.  An einem Drahtseil über den Köpfen der Zuschauer/innen hängt eine junge Frau (das Licht), sie hält sich mit nur einem Finger fest und droht abzustürzen. Ein großer schwarzer Hund (die Kamera) läuft umher, miaut und spricht mit ihr. Hinter der Öffnung, durch die wir eingetreten sind, bewegen und winden sich Geister, mal in weiß gekleidet, mal nackt, mal in schwarz. Es geht um Erkenntnis, um den Zusammenhang der Dinge, des Geistes, des Körpers, der Materie. Das alles ist so rätselhaft, dass es den Zuschauer/innen viel Raum für eigenen Assoziationen lässt. Optisch ist die Szene so überwältigend, verstärkt durch den Ausstellungscharakter und auch wegen der seltsamen Figuren, dass der Raum auf wundersame Weise heilig wird - so ist es zumindest für mich. Mit dem Gefühl, etwas Einmaliges und Sonderbares erlebt zu haben, verlasse ich nach einer halben Stunde diesen Raum. Es ist im übrigen das einzige Stück beim FIND, bei dem am Ende niemand klatscht - so wie man es im Museum auch nicht tun würde, wenn man einem Kunstwerk den Rücken zuwendet und geht.

Katzen-Hund und Geist (Foto: Claudia Castellucci)

Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Romeo Castellucci’s Dialogue with Spinoza (and ours with mind and body)

Konzeption und Installation: Romeo Castellucci   
Musik: Scott Gibbons   
Skulpturen auf der Bühne: Istvan Zimmermann, Giovanna Amoroso
Technische Leitung: Massimiliano Peyrone
Tontechnik: Matteo Braglia
Produktionsleitung: Benedetta Briglia
Organisation und Kommunikation: Valentina Bertolino, Gilda Biasini
Verwaltung: Michela Medri, Elisa Bruno, Simona Barducci, Massimiliano Coli

Mit: Silvia Costa, einem Hund/a dog, der Stimme von/the voice of Bernardo Bruno und Martina Borroni, Marcella Giesche, Rosabel Huguet, Pia Koch, Feline Lang, Christina Wintz (Statistinnen/Extras)

Dauer: ca. 45 Minuten

Produktion: Socìetas Raffaello Sanzio in Koproduktion mit T2G-Théâtre de Gennevilliers, Théâtre de la Ville, Festival d’Automne à Paris und La Biennale di Venezia. Entwickelt in Venedig im Rahmen des La Biennale College-Teatro im August 2013.


ZEHNTER TAG (Samstag, 16. April 2016)

LIPPY
Noch mal Dead Centre. Es geht wieder heiter los. Aber nach und nach wird es immer unheimlicher. Die Zuschauer/innen befinden sich zunächst in einem fiktiven Publikumsgespräch, ein Schauspieler erklärt, wie er Lippen liest und bald wird klar: er kann es nicht. In der darauf folgenden Szene sieht man vier irische Frauen, die sich gemeinsam in ihrem Haus zu Tode hungerten (diesen Fall gab es wirklich). Der Lippenleser soll bei der Aufklärung des rätselhaften Falls mithelfen, indem er die Aufzeichungen einer Überwachungskamera deutet. Er legt ihnen Worte in den Mund, die sie vielleicht nie gesagt haben. Das Publikum wird Zeuge der Tat und der (vielleicht falsch ersonnenen) Hintergründe. Die Performance der Schauspielerinnen ist verwirrend, nie weiß man was "echt" passiert ist, was "phantasiert". Das alles ist gruselig und sehr bedrückend.

Worte von den Lippen "lesen" (Foto: Jeremy Abrahams)


Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Unfinished Plays for Unfinished People: Dead Centre in Berlin

Regie: Ben Kidd, Bush Moukarzel
Sound und Musik: Adam Welsh
Bühne: Andrew Clancy
Kostüme und Bühneneffekte: Grace O’Hara
Licht: Stephen Dodd

Mit: Joanna Banks, Bush Moukarzel, Gina Moxley, Clara Simpson, Liv O’Donoghue, Dan Reardon, Adam Welsh

Dauer: ca. 80 Minuten

Entwickelt am National Theatre Studio, London mit Premiere beim Dublin Fringe Festival. Die Tour wird ermöglicht durch die Unterstützung von Culture Ireland.

Noch ist das Festival nicht ganz vorbei - am Sonntag gibt es noch ein paar Vorstellungen - aber am vorletzen Tag gab's die große FIND Abschlussparty, diesmal mit Stitch & Tchuani von Berries Berlin.


ELFTER TAG (Sonntag, 17. April 2016)

The Dark Ages 
Bis zum Rand gefüllt mit Eindrücken steht heute das letzte Stück auf dem Programm. Milo Rau war im letzten Jahr mit "The Civil Wars" beim FIND zu sehen. "The Dark Ages" ist der zweite Teil seiner Europa-Trilogie (der dritte Teil mit dem Titel "Empire" soll im September an der Schaubühne zu Beginn der Spielzeit 2016/17 Premiere haben). In "The Dark Ages" erzählen fünf Schauspieler/innen aus Bosnien, Deutschland, Russland und Serbien Geschichten der Vertreibung und der Heimatlosigkeit, des Weggehens und des Ankommens, des Engagements und der Verzweiflung. Das Stück ist wie ein klassisches Drama in fünf Akte unterteilt. Sie verknüpfen Geschichte mit persönlichen Erlebnissen - 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und 20 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica. Untermalt werden die Berichte von der Musik der slowenischen Band Laibach. Dabei sind die Berichte sehr intim, teilweise schmerzhaft und sehr berührend. Etwa als Valery Tscheplanowa von ihrem Vater erzählt. Oder Manfred Zapatka vom Leben der Kinder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Schauspieler/innen halten persönliche Fotos in die Kamera, die fortwährend alles filmt, was auf der Bühne berichtet wird. Es entstehen erstaunliche Parallelen zwischen den Biografien und immer wieder gibt es Anknüpfungspunkte zum Theater (Hamlet, Hamletmaschine).

Eine erstaunliche Parallele für mich: In wenigen Tagen werde ich Heiner Müllers "Hamletmaschine" von Dimiter Gotscheff im Deutschen Theater sehen. Vor neun Jahren inszenierte Gotscheff das Stück und trat darin selbst auf. Zu einem Gastspiel in Havanna konnte er im Herbst 2013 nicht mehr mitreisen, trug aber dafür Sorge, dass eine Version gezeigt werden konnte, die seine Passagen per Video einspielte. Das erzählt Valery Tscheplanowa auf der Bühne, sie selbst spielt die weibliche Hauptrolle. Zu Gotscheffs 73. Geburtstag ist diese Variante seiner legendären Inszenierung noch einmal am Deutschen Theater zu sehen. Der letzten Abend des FIND ist für mich noch mal ein Höhepunkt und tief beeindruckt verlasse ich das Theater.

Konzept, Text und Regie: Milo Rau   
Dramaturgie: Stefan Bläske   
Bühne und Kostüme: Anton Lukas   
Kamera und Videodesign: Marc Stephan   
Musik: Laibach
Dramaturgische Mitarbeit: Lucia Kramer, Rose Reiter
Regieassistenz: Jakub Gawlik
Recherche: Stefan Bläske, Mirjam Knapp
Übersetzung: Marija Karaklajic
Produktionsleitung IIPM (Tour): Mascha Euchner-Martinez

Text und Spiel, Text and Performance: Sanja Mitrović, Sudbin Musić, Vedrana Seksan, Valery Tscheplanowa, Manfred Zapatka

Dauer: ca. 120 Minuten

Eine Produktion des Residenztheaters München in Kooperation mit Milo Rau/International Institute of Political Murder (IIPM). Mit freundlicher Unterstützung von Pro Helvetia. 

15. April 2016

FIND 2016 – Review Teil 2 (10.-12. April 2016): Verleihung des ITI-Preises, Mein Jahr ohne Udo Jürgens, Do You Still Love Me, SPEAK!

VIERTER TAG (Sonntag, 10. April 2016) 

Man gewöhnt sich immer so schnell an die Festivalzeit, dass es einem gar nicht mehr merkwürdig vorkommt, jeden Tag im Theater zu verbringen.

Verleihung der ITI-Preises zum Welttheatertag an Milo Rau
Milo Rau, der auf dem FIND mit "The Dark Ages" und der Schaubühnen-Produktion "Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs" vertreten ist, wird mit dem ITI-Preis des Internationalen Theaterinstituts (ITI) geehrt. Aus der Jurybegründung: »Milo Rau erregt mit seinem International Institute of Political Murder Anstoß. Er steht für eine Generation, die mit Kompromisslosigkeit auf die sich immer stärker radikalisierende Wirklichkeit reagiert. Haltung beziehend und Haltung einfordernd verleiht Milo Rau dem Theater und der Gesellschaft Impulse, die den Sprengstoff der globalen Konflikte in unsere Mitte holen«.  Die Preisverleihung findet im Bühnenbild von "Mitleid" statt. Die Laudatio hält Kathrin Röggla.

Mein Jahr ohne Udo Jürgens
Eins mal vorweg: Ich bin kein Fan von Udo Jürgens. Aber ich bin, das ist bekannt, ein Fan von Patrick Wengenroth. Während des szenischen Konzerts lesen er und Thomas Thieme aus Andreas Maiers Buch und singen natürlich. Am Klavier wie immer Matze Kloppe. Höhepunkt ist der im Duett gesungene Ohrwurm "Liebe ohne Leiden" (im Original mit Jenny Jürgens). In den Texten geht es (gefühlt) andauernd um Apfelwein (mit Sekt! gesprizt), der in Frankfurt getrunken wird. Außerdem um die Emotionalität von Jürgens' Liedern und darum, warum das, was Udo Jürgens gemacht hat, nur Udo Jürgens machen konnte. Ein herrlicher, sehr lustiger, anregender Abend! Wengenroth halt. Mehr davon. Immer. Gerne. Und - ich glaub's selbst nicht - Udo Jürgens ist mir nach diesen drei Stunden ein wenig näher. Vielleicht lese ich sogar das Buch...

Realisation: Patrick Wengenroth   
Musik: Matze Kloppe   
Ausstattung: Alena Georgi   
Kostüme: Marc Freitag   
Dramaturgie: Sina Katharina Flubacher   

Mit: Thomas Thieme, Matze Kloppe, Patrick Wengenroth


FÜNFTER TAG (Montag, 11. April 2016)

Do You Still Love Me
Ich fand nie, dass Theater und Fußball wenig gemeinsam haben. Die Haltung mancher Theater-Fans (wie mir) zum "Hobby" ist der der Fußball-Fans nicht unähnlich. Die freie Zeit wird so eingeplant, dass man möglichst oft dabei ist und vieles wird dem untergeordnet. Die Beschäftigung mit allem, was damit irgendwie in Zusammenhang steht, ist intensiv. Beides findet live und vor Publikum statt und lebt vom konflikthaften Aufeinandertreffen. Die Unterschiede zwischen Theater und Fußball liegen freilich beim Geld - für das eine gibts (zu) wenig, für das andere (zu) viel. Und in der Größe der Fangemeinde sowie der öffentlichen Wahrnehmung. Sanja Mitrović lässt in "Do You Still Love Me" französische und belgische Fußballfans und Schauspieler/innen aufeinandertreffen und die Hintergründe für ihre Begeisterung erläutern, die im Zusammenhang mit der eigenen Lebensgeschichte stehen. Der Bezug zu nationalen Symbolen und das Zugehörogkeitsgefühl zu Gruppen spielt dabei eine wichtige Rolle. Interessanterweise kommt während des Stücks nie da Gefühl auf, dass die nicht-professionellen Darsteller bei ihren Auftritten hinter den professionellen Schauspieler/innen zurückfallen. Und irgendwann vergisst man, wer zu welcher Gruppe gehört.
 
Fans (Foto: Joeri Thiry)

Regie: Sanja Mitrović
Dramaturgie: Jorge Palinhos
Kostüme: Frédérick Denis
Sound: Vladimir Rakic
Kamera und Videodesign: Sanja Mitrovic
Licht: Stéphane Lebonvallet
Produktion und Tourmanagement: Liesbeth Stas

Mit: Servane Ducorps, Cédric Eeckhout, Ina Geerts, Sid van Oerle & Kostas Pericaud, Dominique Piron, Sam De Leener, Gregory Uytterhaegen (Anhänger des Fußballvereins Royale Union Saint-Gilloise)

Dauer: ca. 110 Minuten

Eine Produktion von Stand Up Tall Productions (NL), La Comédie de Reims-CDN / Reims Scènes d’Europe (FR), Hiros (BE) in Koproduktion mit STUK (BE), Beursschouwburg (BE). Unterstützt von: The Amsterdam Fund for the Arts (NL), The Flemish Community (BE), Performing Arts Fund (NL).


Englischsprachige Q&A zum Stück in Pearson's Preview: What Football Supporters and Theatre Have in Common  


SECHSTER TAG (Dienstag, 12. April 2016)

SPEAK!
Noch ein Stück von Sanja Mitrović. Diesmal steht sie selbst auf der Bühne, zusammen mit dem flämischen Performer Jorre Vandenbussche. Beide tragen in einem Wettbewerb in acht Runden bekannte poltische öffentliche gehaltene Reden vor. Die Zuschauer/innen erfahren dabei erst nach den einzelnen Runden, wer die Reden im Original gehalten hat (z.B. Fidel Castro, Rosa Luxemburg, Margaret Thatcher, Severn Suzuki) und zu welchem Anlass. Nach jeder Runde muss das Publikum wählen, welcher Vortrag besser war. Jede Runde ist anders gestaltet: Die beiden sprechen nacheinander, gleichzeitig, abwechselnd oder ohne Worte. Mit vielen Gesten oder keinen. Sie nutzen Requisiten, Kostüme oder Kulissen. Die letzte Runde ist eine Compilation aller Reden ("We must..."-Sätze). Es gilt zwar die Performance zu bewerten, doch kann man sich nicht frei machen vom Inhalt der Rede. Das fließt zwangsläufig in die Bewertung ein. Auch kann ein Vortrag gelungener sein, aber die Person im gleichen Moment unsympathischer erscheinen. Und natürlich spielt es (zumindest für mich) eine Rolle, ob man ihr oder ihm den Sieg mehr wünscht (schon deshalb weil sie schlicht mit Frau/women und Mann/men bezeichnet werden). Die Entscheidungen fallen immer schwerer. Das Ergebnis am Ende fällt sehr knapp aus. Zum Schlussapplaus darf nur die/der Gewinner/in vor das Publikum treten. Was für eine Idee! Dafür gehe ich ins Theater, denn nur hier gibt's so etwas.

Sanja Mitrović (Foto: Bea Borgers)

Konzept, Regie und Choreografie: Sanja Mitrović
Bühne und Licht: Laurent Liefooghe, Christophe Antipas (LLAC Architects)
Kostüme: Frédérick Denis
Sound Design: Luka Ivanovic
Dramaturgie: Jonas Rutgeerts

Mit: Sanja Mitrović, Jorre Vandenbussche

Dauer: ca. 70 Minuten

Eine Produktion von Stand Up Tall Productions (NL), koproduziert von Kunstenfestivaldesarts (BE). Unterstützt von: Beursschouwburg (BE), Pianofabriek Kunstenwerklplaats (BE), SPRING Festival (NL), STUK Kunstencentrum (BE). Finanziell unterstützt von: The Amsterdam Fund for the Arts (NL).

13. April 2016

FIND 2016 – Review Teil 1 (7.-9. April 2016): The Last Supper, The Trip, Checkov's First Play, Die Erfindung der RAF

ERSTER TAG (Donnerstag, 7.4.2016)

Endlich! Das FIND 2016 hat begonnen. Eine andere Welt für zehn Tage. Oder besser gesagt: Andere Welten. Ein geistiger Ausnahmezustand. Aber auch körperlich bin ich dieser Tage weniger in meiner Wohnung, sondern einmal mehr im Theater (der Schaubühne) zu Hause. Great! 


Familien-Selfie mit Kuhkopf (Foto: Mostafa Abdel Aty)

The Last Supper
Es beginnt mit „The Last Supper“ von Ahmed El Attar, einem Stück, das in der Zeit nach dem Arabischen Frühling und der Revolution auf dem Tahrir-Platz angesiedelt ist. Ägypten befindet sich im gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Wandel. Es wird die Gesellschaft im Umbruch aus der Perspektive der oberen Zehntausend beleuchtet: Die Mitglieder einer reichen Kairoer Großfamilie kommen anlässlich eines Abendessens zusammen. Ich brauche 10-15 Minuten, um mich in das Stück einzufinden, denn es wird viel gesprochen und meistens gleichzeitig. Und schnell. Die Hierarchie der handelnden Personen wird bald klar. Auch die Klischees. Spannend wird’s als eines der Kinder auf der Bühne einen Bediensteten solange piesackt, bis diesem die Hand ausrutscht und er sich der Dinner-Gesellschaft stellen muss – er wird bestraft. Als Zuschauerin bin ich natürlich empört. Und gerade mitten im Stück angekommen. Und da ist es schon vorbei. Gerade mal 45 Minuten hat die erste Vorstellung beim FIND gedauert. Kurz. Kurzweilig.

Konzept und Regie: Ahmed El Attar
Bühne und Kostüme: Hussein Baydoun
Licht: Charlie Aström
Musik: Hassan Khan
Sound: Hussein Sami

Mit: Boutros Boutros-Ghali, Mahmoud El Haddad, Ahmed Farag, Mona Farag, Mohamed Hatem, Ramsi Lehner, Nanda Mohammad, Sayed Ragab, Abdel Rahman Nasser, Mona Soliman, Marwa Tharwat

Dauer: ca. 55 Minuten

Eine Produktion der The Temple Independent Theatre Company in Kooperation mit Tamasi Collective.

Q&A with Ahmed El Attar by Joseph Pearson (4.4.2016).


ZWEITER TAG (Freitag, 8.4.2016)

The Trip

Selten sitze ich weinend im Theater, dieses Stück hat mich so berührt. Nicht nur mich. Ich höre, sehe und spreche anschließend mit Menschen, die ihren Gefühlen hier im Theater ihren Lauf lassen müssen. In „The Trip“ erzählt der syrische Regisseur Anis Hamdoun die Geschichte von Ramie, seinem Alter Ego, der zusammen mit seinen Freunden in Homs gegen das Assad-Regime auf die Straße ging und den Bürgerkrieg als einziger überlebte. Die jungen Menschen erzählen uns von ihren Träumen. Und dann wird alles anders. Sie geraten in Gefangenschaft, erleiden Folter und Ramie, der als einziger nach Deutschland flüchten konnte, quält sich mit der Situation als einziger überlebt zu haben. Der Preis, den das Überleben kostet. Das Stück dauert nur 40 Minuten, ist aber in seiner Intensität groß. Auch wenn das jetzt wie das immer gleiche Mantra klingt: Ich kann es wieder nicht fassen, dass es in diesem Land tatsächlich Menschen gibt, die glauben, dass Geflüchtete, die in Deutschland ankommen, sich ein leichtes Leben machen möchten. Bedauerlich, dass sie dieses Stück (wahrscheinlich) niemals sehen werden.


Anja S. Gläser und Marius Lamprecht vom Theater Osnabrück (Foto: Maik Reishau)

Regie: Anis Hamdoun
Bühne: Mona Müller
Kostüme: Anna Grabow, Miriam Schliehe
Dramaturgie: Elisabeth Zimmermann

Mit: Patrick Berg, Anja S. Gläser, Marius Lamprecht, Nawar Bulbul (im Video), Zainab Alsawah (Gesang)

Dauer: ca. 60 Minuten

Eine Produktion des Theater Osnabrück.

Checkov's First Play

Das macht das Festival aus: Nach dem emotionalen Hammer („The Trip“) kommt das erste Stück von Dead Centre. Ganz anders. Ganz toll, voller Energie. Es erinnert auch sofort ein wenig an Simon McBurney, der im letzten Jahr beim FIND in „Amazon Beaming“ ebenfalls mit Kopfhörern für die Zuschauer/innen gearbeitet hat und so Illusionen schaffte. In „Checkov's First Play“ hören wir die Kommentare des Regisseurs, wie eine kleine Stimme im Kopf, als Anmerkungen zu dem was, die Schauspieler/innen auf der Bühne umsetzen. Nach den ersten 30 Minuten, in denen (scheinbar) klassisch inszeniert „Platonov“ gespielt wird, löst sich die Form nach und nach auf. Und mit ihr der Inhalt. Bis sogar das Bühnenbild von einer Abrissbirne zerstört wir (begleitet von Miley Cyrus „Wrecking Ball“). Dann Auftritt der Hauptfigur: Platonov steht aus dem Publikum auf (kein Schauspieler!), betritt die Bühne und spricht kein einziges Wort. Alle projizieren ihr Sehnsüchte und Hoffnungen auf ihn. Er steht nur da und bewegt sich ohne zu handeln über die Bühne.

Platonov Projektionsfläche der Sehnsüchte  (Foto: Jose Miguel Jimenez)

Bush Moukarzel, der Regisseur, der auch die Rolle des Regisseurs im Stück spielt, erklärt im anschließenden Publikumsgespräch, dass es „Randnotizen“ von Tschechow tatsächlich gegeben hat. Auch er kommentierte die Auftritte der Schauspieler/innen. 

Regie: Ben Kidd, Bush Moukarzel
Bühne: Andrew Clancy
Ausstattung und Bühneneffekte: Grace O’Hara
Kostüme: Saileóg O’Halloran
Sound Design: Jimmy Eadie
Co-Sound Design: Kevin Gleeson
Licht: Stephen Dodd

Mit: Liam Carney, Breffni Holahan, Rory Nolan, Rebecca O’Mara, Annie Ryan, Dylan Tighe

Dauer: ca. 70 Minuten

In Auftrag gegeben von Battersea Arts Centre und Irish Arts Center, New York. In Koproduktion mit dem Dublin Theatre Festival, Baltoscandal (Rakvere) und Le Théâtre National de Bordeaux en Aquitaine. Das Projekt wurde koproduziert von NXTSTP, mit Unterstützung der Kulturförderung der Europäischen Union. Die Tour wird ermöglicht durch die Unterstützung von Culture Ireland.

Pearson's Preview: Unfinished Plays for Unfinished People: Dead Centre in Berlin


DRITTER TAG (Samstag, 9.4.2016)


Premiere: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 
Armin Petras hat Frank Witzels Buchpreis gekröntem Roman Szenen entnommen und in gut zwei Stunden auf die Bühne gebracht. In die Geschichte eines 13jähringe Jugendlichen aus der hessischen Provinz ist eine Rekonstruktion der alten Bundesrepublik eingewoben. Ich fange mit dem an, was mir gefallen hat: Die Musik von den "Nerven". Es ist toll zu sehen, wie viel Spaß die Jungs auf der Bühne haben und dank ihnen bekommt das Stück auch eine gewissen Drive. Das Bühnenbild (Katrin Brack) aus Schaufensterpuppen (Kinder und Erwachsene) mit Kleidung aus den 60ern/70ern ist wunderbar. Es gibt ein paar schöne Momente z.B. als die fünf Schauspieler/innen ikonografische Bilder der Zeit nachstellen (das Nacktbild der Kommune 1 von 1967, die Black Panther Fäuste der Sportler bei den Olympischen Spielen 1968, der Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970 u.a.) oder Julischka Eichel als resolute Caritas-Mitarbeiterin. Insgesamt kann ich aber keine wirkliche Begeisterung aufbringen. Irgendwie hat das Stück nicht das richtige Tempo und ich habe den Verdacht, dass auch die Schauspieler/innen nicht hinter der Inszenierung stehen. Irgendwie unzufrieden verlasse ich den Saal.
Aber: Da das Festival so viele hervorragende Produktionen zu bieten hat, kann ich diese hier für den Moment gut verzeihen.

Die Nerven - Max Rieger, Kevin Kuhn, Julian Knoth (Foto: Thomas Aurin)


Autor: Frank Witzel   
Regie: Armin Petras   
Bühne: Katrin Brack
Kostüme: Annette Riedel   
Video: Rebecca Riedel   
Dramaturgie: Katrin Spira, Maja Zade   
Licht: Erich Schneider

Live-Musik: Die Nerven

Mit: Jule Böwe, Julischka Eichel, Paul Grill, Peter René Lüdicke, Tilman Strauß   

Dauer: ca. 120 Minuten

Koproduktion mit dem Schauspiel Stuttgart.

Weitere Infos zum Stück auf der Seite der Schaubühne.

Pearson's Preview "The Prism of the Red Army Faction, Reflections and Refraction"

29. März 2016

Hoffnung in Dosen? - Gastbeitrag von Steffi Eisenschenk über das 34. Fadjr International Theater Festival in Teheran

Theater unter den Augen des Wächterstaats

Iran, Januar 2016. Das ist der Anfang einer Geschichte, deren Ursprung ganz weit hinten liegt. Oder ganz vorne. Kommt auf die Sichtweise der Verhältnisse an. Ich weiß nicht genau, wann es anfing, doch es begann mit diesem Satz: „Es ist keine Kunst, die Welt zu erobern; wenn du kannst, erobre ein Herz!“ Diesen lautbaren Talisman von Saadi hat mir Goethe angehängt. Diese Idee einer Auswanderung in ein anderes Herz, dessen Rhythmus ich spüre. So baut die Kunst ihre Brücken über die Poesie. Durch Gedanken reisen, durch Texte, Bilder, Bewegung und Musik. In Filmen, auf Bühnen, im Leben, wo alles zusammen spielt. Dort begegnen sich Menschen mit ihren Sinnen und durch Geschichten. Und ich glaube, Johann Wolfgang kam über Hafiz zu Saadi, dem persischen Dichter. Goethe, ein Handelsreisender zwischen den Kulturen. Mit „Hidschra“ als Reisender im „Wechseltausch“ fremder Lebensformen - dem Orient. Heutzutage scheint das schwierig für Europa, wo es doch für den Einzelnen mit Kultur leicht sein kann. Doch das ist eine lange Kette von verwirrenden Verstrickungen.

Über den Dächern von Teheran (Foto: Stefanie Eisenschenk)

Einblick
2016 in Deutschland, das Jahr war erst ein paar Wochen alt und drohte schon in ideologischem Verortungsgebrüll zu versinken. Gruselig fühlte sich das an, denn ein verwirrter Prozentsatz war so laut. Genau jetzt die Gegenbewegung anzutreten war Zufall. Raus aus Deutschland, rein in ein „unsicheres Herkunftsland“. Eine Reise in den Iran. In eine islamische Republik! Ein rotes Tuch für die Angstprediger Deutschlands. Einwurf, sicherheitshalber: Eine Iranexpertin bin ich nicht, nach sechzehn Tagen habe ich nur Fragmente erfasst. Und natürlich war alles anders als erwartet, obwohl ich nicht ganz unvorbereitet war. Beeinflusst war ich von Jafar Panahis' "Taxi Teheran" und "Der Kreis" sowie "A Separation" von Asghar Farhadi und "A Girl Walks Alone Home At Night" von Ana Lily Amirpour und dem gesamten Rest meines Lebens.

Parallelen

Es hat mich deshalb nicht überrascht, dass im Iran nicht nur Ahmadinejads wohnen oder nur Mullahs bei den 80 Millionen Einwohnern. Jedoch verhüllen sich viel mehr Frauen mit dem schwarzen, langen Gewand, dem Tschador, als ich dachte. Die erste Begegnung im Flughafen Teheran: wir saßen zusammen auf der Toilette. Alle in unseren Kopftüchern und rauchten. Ungeahnte Parallelen. Sie sind vorhanden, denn auch Nonnen tragen Kopftuch. Nur haben die katholischen Damen die Wahl - schwarz und auch weiß. Unsere Nonnen wohnen allerdings in Klöstern und gehen nicht in die Moscheen, leben aber ebenfalls nach religiösen Regeln. Freiwillig. Das Aufzwingen von Religion vom Staatswegen ist für mich allerdings eine sehr ungesunde Vermischung. Welche religiösen Regeln jetzt richtiger oder wichtiger sind und ob überhaupt Glaubensregeln oder einfach Menschenrechte das Zusammenleben möglich machen, diese Antwort sollte jeder Demokrat den Menschen selbst überlassen. Dies gehört zu den Grundrechten einer demokratischen Einstellung.

Da die Gegenwart ihre Wurzeln immer auch ganz woanders hat, erfordert es einen historischen Blick. Wer nur über die aktuellen Vorschriften der Bekleidung oder die herrschende Zensur im Iran spricht, ohne die Entwicklungsgeschichte des politischen Systems der islamischen Republik und deren Machtstrukturen zu betrachten, der bleibt nur an der Oberfläche hängen.

„Das ist im Grunde nur die Warze, nicht die Krankheit.“ (Thomas Brasch im Gespräch mit Günter Grass.

Symbole (Foto: Stefanie Eisenschenk)


Es ist kein Zufall, dass ich sehr oft bei dieser Reise an Thomas Brasch, Barbara Köppers oder Irmtrauth Morgner denken muss. Eine Spiegelung von Geschichten, gespalten durch die Zeit. Kunst in der DDR. Überhaupt, Kunst unter dem Einfluss von Zensur, Kunst unter dem Hakenkreuz - das Zeichen werde ich in einem alten Tempel aus der persischen Zeit neben einem Davidstern in den Mauern sehen. Der Tempel mit dem „Hakenkreuz“ Symbol ist lange vor dessen Missbrauch erbaut worden. Das Symbol wurde genauso entfremdet und benutzt von den Nazis, wie der Begriff „Arier“. Der Dokumentarfilm „Die Arierer“ hat in 2014 endlich das Lügenwerk der begrifflichen Rassenideologie präzise offen gelegt. Arier – geklaut aus dem alten Persien. Dass ein Arier ein Mensch ist - wie du und ich - hat König Darius vor 2500 Jahren in Stein gemeißelt. Tragischerweise wurde der Begriff von den Nazis für perfide Propaganda-Strategie benutzt und mit ausgedachten Attributen zu einem Pseuydoideal zusammengebastelt. Für mich blitzte hier immer wieder die Gegenwart aus Deutschland durch - wo Personen der AfD und anderer Parteien begonnen haben öffentlich zu irrlichtern. Die Sprache wird für politische Propaganda missbraucht, um ängstliche Mitläufer zu gewinnen. Eine verlogene Instrumentalisierung der Flüchtlinge für herrschaftliche, politische Zwecke. Die Fluchtursachen sind komplex und es erfordert ein Hinterfragen seiner eigenen Selbstherrlichkeit - weil es doch tatsächlich um ein verdecktes Spiel der Beherrschung geht (S. 118-120, Moderne und Ambivalenz, Zygmund Bauman). Womit ich wieder bei Hamlet bin.

Hamlet im Spannungsfeld des Wächterstaats

34. Fadjr International Theater Festival in Teheran (Fotos: Stefanie Eisenschenk)

Zum 34. Fadjr International Theatre Festival nach Teheran fuhr ich, weil ich als Freundeskreismitglied der Schaubühne versuche, mindestens ein Gastspiel pro Jahr zu begleiten. In "Hamlet" wird regelmäßig der König ermordet, betrogen und gelogen. Am Schluss sind fast alle tot. Shakespeares Schurkenstück in Teheran - mit diesem Hintergrund der Geschichte der Diktatoren: vom Schah von Persien, der Revolution 1979 des Ajatollah Khomeini, sowie der blutigen Unterdrückung von 2009, wo die Demonstrationen gegen die Wiederwahl Ahmadinejads brutal niedergeschlagen wurden - dies unter den Augen des obersten, religiösen Imans? Der gleiche Iman Ali Khamenei, der auch im Theatersaal hängt. Über Hamlets Handeln gewissermaßen, in Mitten der vielen Verstrickungen. Kaum eine Vorstellung konnte besser sein. Für mich war es eine Annäherung über eine doppelte Flucht - mit Umweg über die Spaltungsfigur "Hamlet", dem Fremdblick und der Zensur - es war ein ganz anderer Nährboden, auf welchen diese Wörter fielen:

„Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage“

Wie aber inszenierte Thomas Ostermeier (Schaubühne) Hamlet unter den Augen des Wächterstaats? Mit Probelauf vor dem Zensor? Wo eine institutionalisierte Religion im Deckmantel und Dienst der Machterhaltung wirkt? Ahmadinejad ist weg, der neue Ministerpräsident Ruhani scheint für Erneuerung und einer Öffnung Irans zur Welt zu stehen. Dem Iran wird jetzt verheißungsvoll „Aufbruch“ zugeschrieben, denn seit Januar herrscht Atomfrieden mit den USA und auch das Handelsembargo gibt es seit kurzem nicht mehr. Die Systematik in der islamischen Republik ist jedoch genau die Gleiche geblieben: der oberste Geistliche, der Iman entscheidet, wer ins Parlament darf und wer nicht. Wer immer also im Parlament sitzt, ist durch die Struktur des Wächterstaats gegangen und damit automatisch ein Teil des Systems. Wie die Herrschaftsideologie die Menschen formt ist ungewiss. Fakt ist, immer noch finden erschreckend viele Hinrichtungen statt. Es gibt keine Meinungsfreiheit, die Frauenrechte sind weit entfernt von Gleichberechtigung, die Revolutionswächter achten auf „Teufelsfrisuren“ oder ob das Kopftuch getragen wird. Kunst ist der willkürlichen Zensur unterworfen. Gerade wo Unterdrückung herrscht, hat Kunst oft ein stärkeres Gewicht, ein wirkliches Anliegen. Kunst, trotz Zensur, aber ohne sich dem Regime anzudienen? Das sind Widersprüche, die schwierig auszuhalten sind, aber es ist nicht unmöglich. Es braucht Willen dazu, Mut und Ausdauer.

Iranischer Magazin-Beitrag zur Schaubühne (Foto: Stefanie Eisenschenk)


Eine andere Ophelia - eingerahmt von den Mullahs
Es war verwirrend, wie anders Shakespeares Dichtung (Jenny König als Ophelia zum Gastspiel in Teheran) im Iran wirkte. Diese Verschiebung des Blickwinkels an diesem Ort, mit diesem Stück hat mich berührt. Die Verwicklungen und das Fallen des Claudius (Urs Jucker) und Polonius (Robert Beyer) am Anfang sah ich in Teheran mit ganz anderen Augen. Zwar auch unter dem Regenschlauch, auch im Dreck der Torfbühne, aber trotzdem empfand ich viele Szenen und Texte viel sinnbildlicher, viel deutlicher und viel intensiver als in Berlin.

„Das Schauspiel sei die Schlinge,
In die den König sein Gewissen bringe.“


Vieles war greifbarer. Ich steckte selbst ungewohnt in diesem Umhang der erzwungenen Verhüllung und den vielen Verboten für Frauen. Ophelia (Jenny König) im rosa Kopftuch, von Hamlet mit Dreck beworfen und mit Torf zugedeckt auf dem Grab – Unsichtbarkeit ist fast wie ein kleiner Tod. Diese Veränderung der Inszenierung wirkt sinnbildlich stark - in Berlin wälzen sich die beiden körperlich umschlungen im Dreck. Um den Vorgaben zu entsprechend jegliche Konturen des Körpers zu entfernen, saß ich mit Poncho im Theater; „ich passte mich an, blieb aber fremd“ (vgl. S. 31 „Ist das ein Leben“ von Insa Wilke über Thomas Brasch). Die schlimmste Einschränkung im Iran ist aber, dass dort niemand offen sagen darf, was er wirklich denkt. Angst macht gefügig. Damit merkte ich auf der eigenen Haut - hier steht etwas auf dem Spiel, es geht hier um etwas. In Berlin, inmitten einer satten und sogenannten „freien“ Wohlstandsgesellschaft ist vieles einfach so egal, so banal. Was in Berlin in der Vielzahl der Möglichkeiten untergeht, ist in Teheran hoch brisant. Und Ostermeier hat über Lars Eidinger als Hamlet geschickt Verweise an unterschiedliche Adressaten eingebaut.

Die Atmosphäre im Theatersaal war dem entsprechend erwartungsvoll, fast schon flirrend in der Vahdat Hall. Es war allen klar, dass die Inszenierung aus Berlin durch den Zensurfilter des Wächterstaates musste, aber trotzdem wurde viel erwartet. Es waren sehr viele Leute, die das Stück sehen wollten. So viele, dass sogar das Eingangstor gestürmt wurde. Ich konnte mich gerade noch so reinquetschen. Die Vorschrift, dass Männer und Frauen sich nicht berühren dürfen in der Öffentlichkeit, hatten in dieser Situation wirklich alle Beteiligten verdrängt. Und so haben wir am Eingang das gemacht, was auf der Bühne selbst nicht gezeigt werden durfte - körperlichen Vollkontakt. 

Kunst als Probe
Die Kunst der Künstler wurde auf die Probe gestellt. Nicht nur von den Zuschauern, im Iran auch durch die Zensur. Eine doppelte Herausforderung sozusagen. Eine verhüllte Kunst der Störung. Und trotzdem ein Probelauf zum Verhalten?

HAMLET in Teheran

„Schändlichkeiten, Herr, denn der satirische Schuft da sagt, dass alte Männer graue Bärte haben und ein Kassengestell tragen…“


Bei diesem Dialog blickt Hamlet nach oben, wo rechts und links die beiden Imane hängen - wie in allen öffentlichen Gebäuden, Ajatollah Khomeini und der aktuelle Machthaber Ali Khamenei. Beide mit langen, grauen Bärten. Khamenei trägt auch eine Brille. Diese Anspielung verstand ich sofort, denn Polonius (Robert Beyer) trug im Iran kein Kassengestell. Die Übertitel der Übersetzung in Farsi konnte ich allerdings nicht lesen. Trotz Zensor und unter den Augen des iranischen Kulturministers folgten weitere kleine Anspielungen, die teils in die deutschen Dialoge eingeflochten oder einfach bei passender Gelegenheit kurz in Englisch eingeworfen wurden. Shakespeare hat in Hamlet eine kurze Theaterszene eingebaut, ein Theater im Theater sozusagen. Hamlet ist darin als Frau verkleidet, in Berlin lässt Ostermeier Hamlet in Damen-Dessous eine Frau spielen, im Iran trägt er stattdessen - ich glaube ein schwarzes Nonnenkostüm. Oder einen Tschador? Ich konnte das noch nie auseinanderhalten. Der verschleierte Hamlet sagte jedenfalls „Don’t touch“ zu seinem Schauspielkollege Sebastian Schwarz, der scheinbar zu nah kam. Damit spielte der verschleierte Hamlet auf die Verbote der Berührung in der Öffentlichkeit zwischen Frau und Mann an. Der Schaubühnen-Hamlet in Teheran wurde so um eine weitere Ebene ergänzt, die nur über Anspielungen und Querverweise funktionierte. Die Iranerinnen und Iraner lachten über diese Anspielung, weil sie diese Beschränkungen im Alltag des öffentlichen Lebens allzu gut kennen. Hamlet war damit ein Komplize der Zuschauer und hat sie gleichzeitig auf den Seziertisch gelegt.

Die Kunst sich zu verhalten.

Im direkten Kontakt zum Publikum fragt Hamlet auf Englisch „Hat Hamlet Laertes etwas angetan?“ Es folgte ein Dialog, der das Dilemma auf den Punkt brachte. Hamlet stellte seine Frage ungefähr an 1000 Leute. Nur ein Zuschauer gab ein Handzeichen, das ist nicht selten auch so in Berlin der Fall. Alle anderen enthielten sich. Anfangs. Jetzt trat der Schauspieler Lars Eidinger heraus aus seiner Rolle des Hamlet und sprach einen Herrn aus der ersten Reihen direkt an. Einen, der sich nicht beteiligt hatte. „What’s your opinion?“ Der Zuschauer druckste herum, vom Publikum kamen Zwischenrufe „we don’t  know it, we are confused“. Der Mann fragte dann Lars Eidinger, was seine Meinung wäre. (Ich klappe dabei innerlich zusammen). Eidinger antwortete, er sei nur der Schauspieler, der einem Skript folgt. Aber er, als Zuschauer, er müsste doch eine Meinung haben und nicht nur dort auf seinem Stuhl sitzen. Das ist im Iran eine andere Aufforderung als in Deutschland. Wo jedoch ist eine solche Meinungsübung besser möglich als im Theater? Beziehungsweise sich beispielhaft zu verhalten?

In diesem Moment trat etwas ans Licht, Eidinger zog ein Problem blank - er wirkte tatsächlich verzweifelt, stand da, mit seinem künstlichen Wanst im Haweiihemd und für mich stand hier jemand, der „Wahrsprechen“ forderte. Vehement. Was in einer Diktatur allerdings lebensbedrohlich sein kann. Wie gesagt - Angst macht gefügig. Es gibt im Leben nicht auf alles eine Antwort, aber in dieser Situation ging es um ein Erkennen, ein Wissen, das alle im gleichen Raum zur gleichen Zeit als Theaterstück miterlebt hatten. Und trotzdem schien es schwierig zu entscheiden, was passiert war. Das Publikum im Iran, wie in Berlin beobachtete, aber verstand nicht, was es gesehen hatte. Was war richtig? Was war falsch? Seine Meinung zu vertreten, sich zu verhalten - und das öffentlich - erfordert immer Mut. Eine Meinung zu vertreten bietet immer Angriffsfläche, genau das jedoch gilt es auszuhalten. Ja, Hamlet hat Polonius erschossen. Versehentlich zwar, aber tot ist er trotzdem. Ophelia hat sich seinetwegen umgebracht. Alle im Raum haben das gesehen, aber einordnen war schwierig. Denn Shakespeare schaffte Verwirrung, ein Gedankenchaos, immer wieder ein Meister seines Fachs. Endlich kam die Erlösung von einer Frauenstimme „but he killed his father“ und dann noch eine weitere, zarte Frauenstimme „and he made Ophelia doing suicide.“ Laertes (Franz Hartwig) hat also zwei ihm nahestehende Menschen verloren. In dieser Menge und genau in diesem Moment hatte ich das Gefühl von einem Augenblick -  es klingt so groß -  doch es fühlte sich an wie - Wahrheit. Dieser Moment wurde für mich „zum Erscheinungsort ihrer eigenen Diskursgegenwart, einer Gegenwart, die sie als Ereignis befragt“. Wie das Foucault in einer seiner letzten Reden sagte „Über den Mut zum Wahrsprechen im politischen Diskurs. Die Regierung des Selbst und der anderen.“

So hatte ich Hamlet noch nicht erlebt. Es ging mehreren so, aber nicht allen. Manche fanden das Nachfragen von Hamlet (Lars Eidinger) zu vehement. Meine Meinung ist, warum sollte die Machtstruktur, die durchaus auch auf der Bühne gilt, nur zwischen Schauspielern und Zuschauern, nicht ebenfalls aufgebrochen werden? Geht es nicht genau darum?

Schaubühnen Ensemble im begeisterten Schlussapplaus des iranischen Publikums (Foto: Amir Safar Saghafi)

Gleichbehandlung und Gerechtigkeit
Hamlet in Teheran war kein Wegducken im politischen System des Mullah-Regimes, das im religiösen Deckmäntelchen agiert. Die Unterdrückung und die sozialen Missstände im Iran sind offensichtlich. Reich und arm klaffen auseinander, wie in so vielen anderen Ländern. ¼ der Bevölkerung Irans genießen Sonderstatus durch Vorzüge des Regimes, diese Personen wiederum stützen überhaupt das ganze Konstrukt. Interessen erzeugen soziale Positionen, das sind gemachte Strukturen, das gilt nicht nur für den Iran. Die Frage ist nur, welche Interessen herrschen?  Es bedeutete für mich, durch den Umweg der Distanz im Iran, auf die eigenen Situation in Deutschland zu blicken. Das zwar eine Demokratie ist und ein Rechtsstaat, dennoch frage ich mich, welche Interessen herrschen. In Deutschland ist das alles ein Jammern auf hohem Niveau, dennoch sind soziale Ungleichheiten nicht selten eine ungesunde Entwicklung, die es den rechten Lagern wohl leichter macht, Anhänger zu finden. Das wird aktuell nicht nur in Deutschland deutlich. Jeder selbstherrliche Blick, den der Westen oft für sich beansprucht, verleugnet die eigenen Zwänge oder Fehlentwicklungen.

„Wahrsprechen“ und auch die Art und Weise, die Wahrheit zu sagen: Der Sprecher bringt sich dabei selbst in Gefahr, nimmt dieses Risiko aber rückhaltlos in Kauf. Foucault spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Dramatik des wahren Diskurses“.

Anruf der Poesie
Es ist eine Lücke in dieser Republik.
Es ist eine Fuge in einem Kopf.
Es ist eine Fuge in einer Frau.
Es ist eine Fuge in der Musik von Bach.
Und es ist eine Fuge in dieser Geschichte.
Und nur wenn diese Fuge da ist, durch die man so schielen kann wie in eine Lücke von dem verbotenen Zimmer oder so.
Und hinter all dem noch etwas sieht, was möglich ist in einer Welt oder in einer Gesellschaft, die man für so festgemauert hält. Aber auch in einer Mauer hat der Maurer irgendwo gepfuscht und da wo wer pfuscht, siehst du plötzlich durch und dahinter sitzen Indianer und die Alternative ist nicht mehr einsam oder zweisam, sondern noch etwas anderes.
(von Thomas Brasch, aus dem Buch von Insa Wilke "Ist das ein Leben”)

Junge Frauen im Iran (Foto: Stefanie Eisenschenk)

Es sind wieder viele erste Anzeichen von Hoffnung für Veränderung, kleine Lücken, die den Widerstand überwinden lassen. Kleine Ritzen von Hoffnung. Die einen Anfang machen. Einige Pärchen im Teheran sah ich, die hielten sich einfach an der Hand und gingen demonstrativ durch die Stadt. Eine weitere, stille Revolution soll seit längeren im Gange sein - Bildung. Die Väter schicken ihre Töchter auf die Universitäten. 60% der Studierenden sind Frauen. Die Forderung nach Veränderung kommt von der Bevölkerung selbst, besonders aus der jüngeren Gesellschaft. Die modernen Leute in Teheran leben zwei Leben, eines für das Staatsregime und ein zweites, privates, hinter verschlossenen Türen. Der Wunsch, ein Leben zu führen, ist stark.

Wie das aussieht haben westliche Zaungäste nicht zu bestimmen, allerdings bringt das Kennenlernen und der Austausch vieles auf eine andere Ebene. In einen Prozess des Miteinanders. Was hoffentlich mehr ist, als der Genuss eines süßen Koffeingetränks in roter Dose. Wie das aussehen könnte, hat viele Gesichter und liegt im Handeln und Begegnen jedes Einzelnen. Sonst sitzen wir im Niemandsland mit Gespenstern (vgl. Außerhalb des Spiels v. Thomas Brasch). Beim Abflug in Teheran sprach mich eine sehr kleine, alte Frau an. Komplett im Tschador verhüllt, ich verstand kein Wort. Sie holte unter ihrem Umhang ein Gebäck heraus und drückte es mir mit ihren beiden Händen sehr innig in meine Hand. Alle waren wir Handlungsreisende im Wechseltausch. Es gab mehrere solch verwirrender Offenherzigkeiten im Iran. Ohne ein Verhältnis zu sich und ohne Umgang mit der Welt findet sich Nichts. Wie das Zusammen aussieht, hängt an jedem Wort und an jeder Geste, die zeigt, ob wir versuchen miteinander zu leben. Es können sehr viele kleine Lichtblicke sein.

„Oft nennt die Welt im eitlen Trug, den Weisen dumm, den Narren klug.“ (Saadi)

Dieser Text erscheint ebenfalls am 29. März 2016 auf derFreitag.