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6. Dezember 2017

Rückblick Oktober & November 2017: Eine Welt im Theater, ein Theater in der Welt

Mir fällt auf, dass der Oktober fast ausschließlich im Zeichen des Feminismus stand und gleichzeitig ein Vorbote auf die Themen im November war: Weltpolitik, Globalisierung, Demokratie.


OKTOBER

1.10.2017 Es sagt mir nichts das sogenannte draußen von Sibylle Berg (Maxim Gorki Theater)

Vier Schauspielerinnen spielen eine Frau – typische (?) Mitzwanzigerin, aber kein role models, wie sie selbst sagt. Keine Lust auf Zumba? Aber auch andere sagen, dass sie sich damit total gut fühlen („den Körper spüren“). Was ist so schlimm daran, zu Hause zu bleiben? Die Versprechungen der Party erfüllen sich ja doch nicht. Schließlich muss sie auf dem Laufenden bleiben, was die Liebes-Ent-und Verwicklungen des Schwarms angeht – das Handy immer am Start (nur mal kurz in die Nachricht gucken). Die Anrufe der Mutter, die wissen will, was sie so für die Zukunft geplant hat, stören da eigentlich auch nur. Lieber Typen verprügeln. Sibylle Berg hat einen Tex für vier Schauspielerinnen des Maxim Gorki Theaters geschrieben - und die sind vor allem eins: wütend - aber dabei auch unglaublich komisch. Sie zeigt, wie Frauenbilder von der Medien und der Werbung produziert werden. Körperkult und Fitnesswahn, Shoppingexzesse zwischen den BWL-Vorlesungen und der Vertrieb von selbstsynthetisierten Drogen über das Internet - wie soll Frau da wissen, wie sie leben soll?  

Vier Frauen auf der Suche nach dem richtigen Leben: Rahel Jankowski, Cynthia Micas, Suna Gürler, Nora Abdel-Maksoud (Foto: Thomas Aurin)

Das Stück wurde von der Fachzeitschrift „Theater Heute“ zum deutschsprachigen Stück des Jahres 2014 gewählt.

Text: Sibylle Berg
Regie: Sebastian Nübling
Choreografie: Tabea Martin
Bühnenbild: Magda Willi
Kostüme: Ursula Leuenberger und Moïra Gilliéron
Mit: Nora Abdel-Maksoud, Cynthia Micas, Suna Gürler, Rahel Jankowski


5.10.2017 revisited thisisitgirl von Patrick Wengenroth (Schaubühne)

Das war mein sechster Besuch dieser Inszenierungen. Es gibt aber auch immer noch Freund*innen, die dieses tolle Stück noch nicht gesehen haben. Hier noch mal ein Link zu meinem Bericht aus 2015.


19.10.2017 PREMIERE LENIN von Milo Rau (Schaubühne)

Nach der Oktoberrevolution 1917 kämpft Lenin (Ursina Lardi) in seinem Landhaus mit seinem körperlichen Verfall, mehrere Schlaganfälle führen dazu, dass er auf die Hilfe seiner Familie und Freund*innen angewiesen ist. Dieses Setting wählt Milo Rau für sein Stück. Und sein Nachfolger und Gegenspieler Stalin (Damir Avdic) wird immer stärker. Der Autor-Regissuer und das Ensemble der Schaubühne blicken auf die zentralen Charaktere der wohl folgenreichsten Revolution der Menschheitsgeschichte. Aufbruch und Apathie, Revolutionssehnsucht und reaktionäre Widerstände, ein Labyrinth der Hoffnungen und Ängste, der politischen Ideale und kollektiven Gewalterfahrung. Düster und beklemmend sieht man auf der Bühne und parallel per Video, was nicht aufzuhalten ist. Ein "Gruselfilm in historischen Kostümen" hat Milo Rau sein Inszenierung genannt. Die Schauspieler*innen verwandeln sich immer mehr in ihre Figuren, sie ziehen sich auf der Bühne um und erhalten ihre Masken. Auch wenn diese Inszenierung sich von den letzten Arbeiten Raus unterscheidet, ist hier doch das Re-Enactment zu erkennen. Während am Anfang noch alle deutsche sprechen, ist zum Schluss fast nur noch russisch zu hören.

Damir Avdic, Ursina Lardi, Jakov Ahrens (Foto: Thomas Aurin)

Essay zum Stück in Pearson's Preview: Schöpferische Unruhe: Milo Raus »LENIN«

Regie: Milo Rau   
Bühne und Kostüme: Anton Lukas, Silvie Naunheim   
Video: Kevin Graber   
Dramaturgie: Stefan Bläske, Florian Borchmeyer, Nils Haarmann   

Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin: Ursina Lardi   
Nadeschda Konstantinowna Krupskaja: Nina Kunzendorf   
Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Leo Trotzki: Felix Römer   
Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin: Damir Avdic   
Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski: Ulrich Hoppe   
Fjodor Alexandrowitsch Guetier: Kay Bartholomäus Schulze   
Pjotr Petrowitsch Pakaln: Lukas Turtur   
Lydia Alexandrowna Koschkina: Iris Becher   
Sapogow: Konrad Singer   
Feiga Shabat: Veronika Bachfischer   
Kinder: Jakov und Sophia Ahrens / Georg Arms und Lia Vinogradova / Benjamin und Mirjam Wachsmuth
Live-Kamera: Florian Baumgarten, Moritz von Dungern, Matthias Schoebe

Dauer: ca. 120 Minuten


23.10.17 Feminista, Baby! (Deutsches Theater)
nach dem SCUM-Manifesto von Valerie Solanas

1968 schoss Valerie Solanas auf Andy Warhol, verletze ihn lebensgefährlich. Jahre später verstarb der Künstler an den Spätfolgen dieses Attentats. Als Solanas nach den Gründen für die Tat gefragt wurde, verwies sie auf ihr Manifest: SCUM. Bedeutung? Abschaum. Aber auch Society for cutting up men. Auch: Eine Selbstbezeichnung einer weiblichen, zukünftigen Elite, "dominierenden, sicheren, selbstvertrauenden, widerlichen, gewalttätigen, eigensüchtigen, unabhängigen, stolzen, sensationshungrigen, frei rotierenden, arroganten Frauen, die sich imstande fühlen, das Universum zu regieren."

Den feministischen Text von Valerie Solanas, der voller Witz und Furor steckt, hat Jürgen Kuttner mit drei Schauspielern (Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose) im Deutschen Theater auf die Bühne gebracht. Ein feministisches Manifest gespielt von drei Männern - funktioniert das?

Zu Beginn des Stückes ziehen sich die drei Marilyn-Monroe-Kleider und -Perücken an und schminken sich. Und dann geht es los. Kuttner hat sich wohl dafür entschieden, die Texte von Solanas von Männern sprechen zu lassen, weil sie somit an Schärfe verlieren und koödiantischer wirken. Das ist keine schlechte Idee. Aber trotzdem denke ich die ganze Zeit: Wie wäre es, wenn das jetzt eine Frau sagen würde. Am Ender legen die Schauspieler die Frauenkleider wieder ab und steigen in ihre Männerklamotten. Alles nur ein Spiel. Alles nicht ganz ernst?

Kuttner selbst spielt auch mit: Prototyp des Machos und deswegen schwer erträglich. Diese plakative Vorstellung braucht es für mich nicht, ärgert eigentlich nur. Solanas Text reicht doch.

Das Beste an dem Abend sind die Songs von Christiane Rösinger, die einzig wahre Feministin des Abends.

Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner
Bühne: Jo Schramm
Kostüme: Daniela Selig
Musik: Christiane Rösinger, Andreas Spechtl

Jürgen Kuttner, Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose
Live-Musik: Christiane Rösinger, Andreas Spechtl, Ramin Bijan
Live-Kamera: Marlene Blumert, Bernadette Knoller


30.10.17 Die Entführung Europas (Berliner Ensemble)
Ein Crime Noir von Alexander Eisenach

...oder der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft.

Der Privatdetektiv Max Messer (Alter Ego von Heiner Müller) wird beauftragt, die verschwundene Europa ausfindig zu machen. Tipps erhält er vom Börsenspekulaten Teiresias. Nach einer durchzechten Nacht befindet er sich im Kongo, verwirrt und ohne eine Ahnung, welche Zeit gerade herrscht. Autor und Regisseur Alexander Eisenach nimmt ein Hörspiel von Heiner Müller als Vorlage für sein Stück, um zentrale Fragen unserer Gegenwart zu stellen: Kann Europa, das noch vor wenigen Jahren ein Versprechen schien, neues Leben eingehaucht werden? Oder wird unser auch kulturell vielfältiger Kontinent unter der Vorherrschaft des ökonomischen Paradigmas weiter an Attraktivität einbüßen?

Regie: Alexander Eisenach
Bühne: Daniel Wollenzin
Kostüme: Lena Schmid , Pia Dederichs
Musik: Sven Michelson
Video: Mareike Trillhaas
Dramaturgie: Frank Raddatz

Max Messer: Christian Kuchenbuch
Grace / Europa: Stephanie Eidt
Margaret: Kathrin Wehlisch
Jupiter Kingsby: Peter Moltzen
Teiresias: Laurence Rupp



NOVEMBER

01.11.17 General Assembly: Was ist globaler Realismus? - Diskussion mit Harald Welzer und Milo Rau (Schaubühne)

Moderation: Doris Akrap (taz)

Als Auftakt zur General Assembly und anlässlich des Erscheinens des Buches »Wiederholung und Ekstase« wurde im Rahmen dieser Diskussionsrunde der Versuch unternommen, die Hintergründe für soziale und politische Ungerechtigkeit im 21. Jahrhundert, zu erklären. Dabei wurden folgende Fragen angeschnitten: Was sind die Aufgaben und Grenzen eines Weltparlaments im Zeitalter von globalem Kapitalismus, Klimawandel und Massenmigration?

In Kooperation mit FuturZwei, Diaphanes Verlag und taz.die tageszeitung.

03.-5.11.2017 General Assembly: Plenarsitzungen (Schaubühne)

07.11.17 General Assembly: Sturm auf den Reichstag (Schaubühne)

Einen ausführlichen Bericht zu den Sitzungen der General Assembly und dem Sturm auf den Reichstag habe ich bereits veröffentlicht. 


18.11.2017 revisitd Bella Figura von Yasmina Reza (Schaubühne)

Eine Freundin hat sich gewünscht, dieses Stück (Regie: Thomas Ostermeier), deren Rollen Reza auf die Schauspieler*innen zugeschnitten hat, zu sehen. Also habe ich es nach gut zweieinhalb Jahren noch mal angeschaut. Es kratzt ja immer etwas an der Boulevard Komödie, ist es aber dank seiner Dialoge dann eben doch nicht. Natürlich ist das eingespielte Duo Hoss-Waschke sowie das übrige Ensemble weit davon entfernt Boulevard zu sein. Die Anleihen sind vielleicht gewollt? Neben mir die Freundin kommentiert: Das ist wie bei uns zu Hause! Wie viele im Publikum denken das auch? Und wieder bin ich entzückt von der perfekten Auswahl der Kostüme (Florence von Gerkan).

Die Fassade bröckelt: Renato Schuch, Lore Stefanek, Nina, Hoss, Mark Waschke und Stephanie Eidt (Foto: Arno Declair)


21.11.17 Filmvorführung & Diskussion: Ein Volksfeind unterwegs (Freunde der Schaubühne e.V.)

Es passt, dass der Volksfeind-Film, der von den weltweiten Gastpielen der Schaubühne mit der Inszenierung "Ein Volksfeind" von Thomas Ostermeier, handelt, die weltpolitischen Themen, die in der General Assembly verhandelt wurden, beinhaltet. Für die Freund*innen der Schaubühne wurde die zweistündige Dokumentation über die Aufführungen der Inszenierung in Instanbul, London, Moskau, Torun, Seoul, Dehli, Santiago de Chile u.a. Städten exklusiv gezeigt. Die Filmemacher Matthias Schellenberg und Andreas Nickel waren anwesend und standen im Anschluss für eine Diskussion mit den Freundekreismitgliedern zur Verfügung.

Bisher ist noch nicht sicher, in welchem Rahmen, der Film noch einmal gezeigt wird. Interessierte können sich aber in der Mediathek der Schaubühne Ausschnitte ansehen.

10. November 2017

General Assembly vom 3.-5.11. & Sturm auf den Reichstag am 7.11. - Ein Fazit (Wenn die persönlichen Probleme ganz klein werden)

Ein wahnsinniges Projekt. Wie soll man 19 Stunden in sieben Sitzungen und die Wortbeiträge von 60 Abgeordneten plus Diskussionen bei diesem Weltparlament in ein paar Worte fassen? Ist es möglich ein Fazit zu ziehen? Kann ich eigentlich darüber urteilen, ob die General Assembly sinnvoll, richtig und erfolgreich war?

Das Weltparlament in der Schaubühne.


Ob die Idee, ein Weltparlament zu inszenieren funktioniert hat, ist eine der Fragen, die sich stellt. Die Antwort: Ja. Schon allein, weil die General Assembly stattgefunden hat. Mit echten Akteur*innen und echten Fragen der Weltpolitik, in ernsthaften Debatten. Das Ziel: Demokratische Strukturen finden, die die gesamte Welt betreffen.

Ist es dann überhaupt noch Theater? Ja und nein. Tatsächlich hätte dieses Weltparlament nicht stattgefunden, wenn es nicht als Theaterprojekt mit einem vorher festgelegten Ablauf, mit von der Regie bestimmten Regeln und ausgewählten Parlamentarier*innen geplant worden wäre. Andererseits handelt es sich um echte Probleme der Welt, um Betroffene mit wahren Geschichten und tatsächlicher Geschichte. Das Theater (die Schaubühne als Raum und Rahmen) bildet dabei nur die Möglichkeit, dies alles überhaupt stattfinden zu lassen. Es sei performativ, so Robert Misik in seiner Rede in der Abschlusssitzung, und daher Theater. Aber indem es so tue, als sei es ein echtes Weltparlament, sei es das letzlich auch. Die Utopie eines Weltparlaments ist wahr geworden, allein dadurch, dass es jemanden gab, der sie "einfach" umgesetzt hat.

Wäre ein nicht-inszeniertes Weltparlement ebenso abgelaufen, wie an diesen drei Tagen am vergangenen Wochenende? Nein. Denn vermutlich wären andere Personen an der Generalversammlung beteiligt gewesen. Die Regeln wären andere gewesen (z.B. mehr Raum für Diskussionen für die einzelnen Themen und Anträge, vielleicht mehr Antagonist*innen, womöglich mehr Mitbestimmung den Ablauf betreffend). Doch: Die General Assembly hat nie für sich in Anspruch genommen, perfekt zu sein oder die ideale Plattform für die Fragen der Weltpolitik darzustellen. Wichtig ist, dass sie ein Anfang ist. Auch wenn in der Abschlusssitzung Kritik an der Form und den Abläufen geübt wurde, ist am Ende doch jedem und jeder klar geworden - so zumindest mein Eindruck - dass es ein Weltparlement braucht und die Idee Nachahmer*innen finden muss.

Das Weltparlament wird weitergehen in anderen Städten und Ländern, mit den gleichen und teilweise anderen Abgeordneten. Der Anfang war voller Fragen, z.B. wie die Abgeordneten in Zukunft ausgewählt werden, resümmierte Milo Rau.

Ein Fazit von Regisseur Milo Rau.

Und die General Assembly hat noch mehr bewirkt: Noch nie habe ich erlebt, dass ein Theaterpublikum so intensiv, hitzig und wach in den Pausen diskutierte. Und dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob nun Freund*in oder Fremde*r gerade da stand. Alle fühlten sich als Teil des Geschehens auf der Bühne des Theaters. Trotz unterschiedlichster Meinungen, waren alle Menschen, die als Beobachter`*innen, die Sitzungen verfolgten so stark involviert, dass sich niemand entziehen wollte. Und da werden die persönlichen Sorgen und Nöte auf einmal ganz klein und unwichtig.

Kein Publikum mehr

Wir hatten miterlebt, wie einer der Parlemtarier von den weiteren Sitzungen ausgeschlossen werden sollte, weil er den Genozid an den Armenieren geleugnet hatte. Genauso so groß wie die Empörung über die Aussage des AKP-Anhängers saß der Schock, darüber, dass es hier ja dann doch eine Regie gab, die den Ausschluss bestimmen kann. Verstärkt wurde diese Schrecksekunde durch die Aussage des Parlamentspräsidenten, der erklärte er sei "just an actor" und müsse die Anweisung der Regie befolgen. Theater oder nicht...?! Die Frage: Kann oder muss der Raum, das Theater, die Form die Menschen dort oben schützen oder muss man sich hier genau darüber hinwegsetzen? Meines Erachtens war der Ausschluss richtig, aber weil sie als Regieanweisung kam (oder so wirkte), entstand das Gefühl, dass hier über die Köpfe der "eigentlichen" Entscheider*innen bestimmt wurde. Weil die Parlamentarier*innen jedoch darauf insistierten, abstimmen und entscheiden zu können, ob der Delegierte bleiben kann oder nicht, bewiesen sie ihre Macht. Der Ausschluss wurde rückgängig gemacht, die Regie stand trotz begründeter Einwände eine Fehlentscheidung ein. 

Dieser Vorfall zeigte, dass das Konzept des Weltparlements noch vieler Verbesserungen bedarf. Sie zeigte aber aber auch, dass die Idee der Selbstermächtigung funkioniert. Die Regie war nötig, um die Utopie umsetzen zu können. Aber sobald diese Utopie einmal real wird, entwickelt sie sich von allein.

Noch mal Robert Misik: Das Parlament der Träume sei auch eines der Alpträume.
Die Folgen der Kolonialisierung, die Ausbeutung von Menschen, Tieren und der Umwelt, die Macht der Konzerne, die Folgen des Konsums der westlichen Welt, der durch uns verursachte Klimawandel, Hunger, Folter, Krieg - all das wissen wir ja eigentlich, aber es ist auch irgendwie wichtig, dies in allen schonungslosen Einzelheiten noch mal geschildert zu bekommen, auch wenn es oft schwer zu ertragen ist. Damit wir hier in unserem gemütlichen Theatersessel darüber nachdenken, dass es so wie es ist, nicht bleiben kann. "Sie können uns nicht alles nehmen und dann erwarten, dass wir nicht kommen" sagte Abou Bakar Sidibé (Filmemacher aus Mali). Und "Afrika ist die Mülldeponie für die Konsumprodukte der westlichen Welt" erklärte die Aktivistin Joana Adesuwa Reiterer.

Jeder*r kann in seinem Leben und Konsumverhalten etwas ändern, um die inakzeptablen Zustände nicht weiter zu fördern. Aber genauso wichtig ist es auch, dass die von uns gewählten Politiker*innen, sich dieser Probleme annehmen und Lösungen dafür anbieten. Die Abgeordneten der General Assembly repräsentierten diejenigen, die von den Entscheidungen der Politik betroffen sind, aber kein Mitspracherecht haben. Aber globale Politik muss mit einem globalen Parlament gemacht werden.

Weltparlament für alle und alles


Daher sollte am Ende der General Assembly die Verabschiedung eine Charta für das 21. Jahrhundert stehen, die mit dem Sturm auf den Reichstag dem Deutschen Bundestag symbolisch übergeben werden sollte. Elf Anträge wurden von der Generalversammlung angenommen, zwei abgelehnt, zwei konnten aufgrund von Formulierungsfragen nicht entschieden werden. Aus diesen Anträgen und den diskutierten Erweiterungsvorschlägen wird in den nächsten Tagen in Zusammenarbeit mit den politischen Beobachter*innen die finale Charta für das 21. Jahrhundert entstehen. Diese wird in verschiedenen europäischen Parlamenten, auch dem Deutschen Bundestag, verlesen werden.

Da müssen wir mit unseren Forderungen hinein! Der Sturm auf den Reichstag.

Der Sturm auf den Reichstag war vor allem eine letzte Zusammenkunft aller Beteiligten, Abgeordneten, Unterstützer*innen (auch Mitglieder des Bundestages waren dabei) und ein guter Abschluss der General Assembly. Wir haben den Reichstag nur symbolisch gestürmt, d.h. bis zur für uns vorgesehenen Abgrenzung. Aber es hat gut getan, zu sehen, wie etwas in Gang gesetzt wurde, was nun hoffentlich überall auf der Welt wiederholt werden wird.

Ein wahnsinniges Projekt - ja. Aber so wichtig und so richtig!

Themen, Abgeordnete, Ziele der General Assembly.

Idee & Umsetzung: International Institute of Political Murder (IIPM )/ Milo Rau.

Kooperationspartner: Schaubühne am Lehniner Platz


Fotos: Elmar Engels, Maren Vergiels
 

31. Dezember 2016

Rückblick Dezember 2016: Ein Jahr hinterlässt seine Spuren

Nach diesem Jahr, das viele so schnell wie möglich hinter sich lassen wollen, hat das Theater im Dezember einmal mehr gezeigt, dass es gut ist, inne zu halten, durchzuatmen, sich zu beruhigen und Hass, Angst und Restiments etwas entgegenzusetzen.


03.12.16 PREMIERE Dantons Tod (Schaubühne)
Jedes Jahr gibt Peter Kleinert Schauspielstudent*innen der Ernst Busch Hochschule die Möglichkeit, ihr Können und Erlerntes an einer großen Bühne zu zeigen. Die jungen Schauspieler*innen haben sich in diesem Jahr für Büchners "Dantons Tod" entschieden. Aufgrund der komplexen geschichtlichen Hintergründe kein leichter Stoff. Im Vergleich zu den Ernst-Busch-Inszenierungen an der Schaubühne der letzten drei Jahre fällt das Ergebnis leider etwas ab. Positiv aufgefallen ist Daniel Mühe (in der Rolle des Camilles) und Vincent Redetzki (als Philipeau). Letzterer ist an der Schaubühne kein Unbekannter, da er hier schon - teilweise noch als Kind - für drei Stücke von Falk Richter auf der Bühne stand (aktuell noch in TRUST). Diese Routine merkt man seiner Spielweise an.

Daniel Mühe, Monika Freinberger, Lukas T. Sperber, Lola Fuchs, Gustav Schmidt (Foto: Gianmarco Bresadola)


10.12.16 PREMIERE On Off der WG Schaubühne
Die Werkstattgruppe der Schaubühne unter der Leitung von Katharina Berger bietet Laien die Möglichkeit, sich auf der Bühne auszuprobieren. In der Produktion "On Off" beschäftigten sie sich humorvoll mit der Generation Smartphone und einem von Maschinen bestimmten Leben. Beeindruckend die Performance (Choereographische Mitarbeit: Johanna Berger) zu Beginn des Stücks, die ein bisschen an Charlie Chaplins "Moderne Zeiten" erinnert. Die ersten 20 Minuten konnten die Zuschauer*innen diese beeindruckende Darbietung durch eine Glasfront vor dem Studio der Schaubühne sehen, begleitet von der Musik des DJs Lukas Zepf.

Menschen wie Maschinen (Foto: Maren Vergiels)
 
12.12.16 Streit ums Politische: Europe, what can it teach us? (Schaubühne)
Heinz Bude sprach mit Nikita Dhawan, Professorin für Politische Theorie mit thematischer Akzentuierung im Feld der Frauen- und Geschlechterforschung, über das postkoloniale Europa und das Begehren Europas, die Welt zu zivilisieren.


17.12.16 PREMIERE Professor Bernhardi von Arthur Schnitzler / Fassung von Thomas Ostermeier und Florian Borchmeyer (Schaubühne)
Ich möchte fast sagen, das dies eines der besten Theatererlebnisse des Jahres war. Daher habe ich vor, zu Professor Bernhardi noch einen eigenen Beitrag zu erstellen. Nur so viel: Tolles Stück und so aktuell, denn es geht um strukturelle Rassismen. Und spannend - ich habe sehr gebannt geschaut und gehört. Dies alles ist nicht nur der großartigen Inszenierung zu verdanken sondern vor allem auch den brillanten Schauspieler*innen. Das Timing bei den Dialogen ist auf den Punkt und einfach jeder*m ist perfekt in ihrer*seiner Rolle. Dazu kommt das Bühnenbild (fast ganz in weiß) mit den von Katharina Ziemke mit einem Wachsstift an die Wand geschriebenen Ortsbezeichnungen, die von Szene zu Szene verwischt und überschrieben werden - ein Kunstwerk, das während des Stücks entsteht und doch nicht bleibt. Eine Theater-Metapher. Eine ganze Reihe neuer Ensemblemitglieder gaben ihren Einstand an der Schaubühne: Damir Avdic (Prof. Bernhardis Sohn Dr. Oskar Bernhardi), Lukas Turtur (Dr. Löwenstein), Veronika Bachfischer (Dr. Wenger), Hans-Jochen Wagner (Prof. Dr. Flint), Konrad Singer (Dr. Filitz). Zurück an der Schaubühne und in der Hauptrolle ist Jörg Hartmann.

Thomas Bading, Jörg Hartmann, Sebastian Schwarz (Foto: Arno Declair)

Hier ein Interview mit Thomas Ostermeier zu Enstehung des Stücks (Video).


22.12.16 Ausstellungseröffnung Too late. I got my face on. von Katharina Ziemke (Schaubühne)
Die Künstlerin Katharina Ziemke, die für Thomas Ostermeiers Inszenierungen von "Ein Volksfeind" und "Professor Bernhardi" die Wandmalereien entwarf, zeigt in der Ausstellung Werke, die sich mit Bühne und Schauspiel beschäftigen.
Die ehemalige Universum Lounge (neben dem Kassenfoyer) wird bis Ende Januar als Ausstellungsraum genutzt. Zu sehen sind großformatige Tuscharbeiten, Linolschnitte, Skulpturen und Pastellarbeiten. Katharine Ziemke dienen dabei häufig historische Fotos als Grundlage, die sie mit verschiedensten Techniken (Kratz-, Druck-, Tusch- oder Ölmaltechnik) in einen neuen Maßstab zur Wirklichkeit setzt. Die Künstlerin spiel mit dem Unterbewussten und die wundersamen Bilderwelten pendeln zwischen den thematischen Gegensätzen Jahrmarkt und Jüngstes Gericht.

"Pharmacy" (Wachskreide auf Papier, 99x140 cm) von Katharina Ziemke in der Asstellung "Too late. I got my face on." (Foto: Elmar Engels)

Katharina Ziemke, 1979 in Kiel geboren, studierte Malerei an der École Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Paris und an der Kungliga Konsthögskola in Stockholm. Neben Einzelausstellungen in Paris, Berlin, New York und Kiel nahm sie an zahlreichen internationalen Ausstellungen teil.

Interview von Joseph Perason mit Katharina Ziemke.

Die Arbeiten von Katharina Ziemke sind noch bis 27. Januar 2017 in den Räumen der ehemaligen Universum Lounge neben dem Kassefoyer der Schaubühne zu sehen (Täglich von 16 bis 20 Uhr geöffnet; der Eintritt ist frei.)

Blick in die ehemalige Universum Lounge mit den Arbeiten von Katharina Ziemke (Foto: Maren Vergiels

  
23.12.16 Lesung Gegen Hass und Angst – für Mitmenschlichkeit (Schaubühne)
Nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz entschloss sich die Schaubühne dazu im Rahmen einer Sonderveranstaltung dem Gefühl von Angst und Verzagen etwas entgegenzusetzen. Es lasen Thomas Ostermeier, Carolin Emcke, Lars Eidinger und Ursina Lardi Texte von Ingeborg Bachmann, Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Carolin Emcke und Rainer Maria Rilke. Igor Levit spielte auf dem Klavier Stücke von Bach, Schubert und Brahms.


29.12.2016 re-visited Wallenstein (Schaubühne)
Noch mal zwischen den Jahre ins Theater. Ich hatte angekündigt, dass ich dieses Stück noch mal sehen muss: Wallenstein. Diesmal sitze ich sehr weit vorne und kann die Gesichter der Schauspieler*innen gut sehen. Obwohl mir die drei Stunden wieder nicht lang werden, ist es ein anstrengendes Stück. Umso höher muss ich die Leistungen der Schauspieler*innen bewerten. Ob ich diesmal mehr verstanden habe? Kann ich nicht beantworten.

Laurenz Laufenberg, Regine Zimmermann, Alina Stiegler, Ingo Hülsmann (Foto: Katrin Ribbe)

Ich freue mich auf ein tolles Theaterjahr 2017 und über alle, die mir hier Feedback geben. The stage is yours!

29. März 2016

Hoffnung in Dosen? - Gastbeitrag von Steffi Eisenschenk über das 34. Fadjr International Theater Festival in Teheran

Theater unter den Augen des Wächterstaats

Iran, Januar 2016. Das ist der Anfang einer Geschichte, deren Ursprung ganz weit hinten liegt. Oder ganz vorne. Kommt auf die Sichtweise der Verhältnisse an. Ich weiß nicht genau, wann es anfing, doch es begann mit diesem Satz: „Es ist keine Kunst, die Welt zu erobern; wenn du kannst, erobre ein Herz!“ Diesen lautbaren Talisman von Saadi hat mir Goethe angehängt. Diese Idee einer Auswanderung in ein anderes Herz, dessen Rhythmus ich spüre. So baut die Kunst ihre Brücken über die Poesie. Durch Gedanken reisen, durch Texte, Bilder, Bewegung und Musik. In Filmen, auf Bühnen, im Leben, wo alles zusammen spielt. Dort begegnen sich Menschen mit ihren Sinnen und durch Geschichten. Und ich glaube, Johann Wolfgang kam über Hafiz zu Saadi, dem persischen Dichter. Goethe, ein Handelsreisender zwischen den Kulturen. Mit „Hidschra“ als Reisender im „Wechseltausch“ fremder Lebensformen - dem Orient. Heutzutage scheint das schwierig für Europa, wo es doch für den Einzelnen mit Kultur leicht sein kann. Doch das ist eine lange Kette von verwirrenden Verstrickungen.

Über den Dächern von Teheran (Foto: Stefanie Eisenschenk)

Einblick
2016 in Deutschland, das Jahr war erst ein paar Wochen alt und drohte schon in ideologischem Verortungsgebrüll zu versinken. Gruselig fühlte sich das an, denn ein verwirrter Prozentsatz war so laut. Genau jetzt die Gegenbewegung anzutreten war Zufall. Raus aus Deutschland, rein in ein „unsicheres Herkunftsland“. Eine Reise in den Iran. In eine islamische Republik! Ein rotes Tuch für die Angstprediger Deutschlands. Einwurf, sicherheitshalber: Eine Iranexpertin bin ich nicht, nach sechzehn Tagen habe ich nur Fragmente erfasst. Und natürlich war alles anders als erwartet, obwohl ich nicht ganz unvorbereitet war. Beeinflusst war ich von Jafar Panahis' "Taxi Teheran" und "Der Kreis" sowie "A Separation" von Asghar Farhadi und "A Girl Walks Alone Home At Night" von Ana Lily Amirpour und dem gesamten Rest meines Lebens.

Parallelen

Es hat mich deshalb nicht überrascht, dass im Iran nicht nur Ahmadinejads wohnen oder nur Mullahs bei den 80 Millionen Einwohnern. Jedoch verhüllen sich viel mehr Frauen mit dem schwarzen, langen Gewand, dem Tschador, als ich dachte. Die erste Begegnung im Flughafen Teheran: wir saßen zusammen auf der Toilette. Alle in unseren Kopftüchern und rauchten. Ungeahnte Parallelen. Sie sind vorhanden, denn auch Nonnen tragen Kopftuch. Nur haben die katholischen Damen die Wahl - schwarz und auch weiß. Unsere Nonnen wohnen allerdings in Klöstern und gehen nicht in die Moscheen, leben aber ebenfalls nach religiösen Regeln. Freiwillig. Das Aufzwingen von Religion vom Staatswegen ist für mich allerdings eine sehr ungesunde Vermischung. Welche religiösen Regeln jetzt richtiger oder wichtiger sind und ob überhaupt Glaubensregeln oder einfach Menschenrechte das Zusammenleben möglich machen, diese Antwort sollte jeder Demokrat den Menschen selbst überlassen. Dies gehört zu den Grundrechten einer demokratischen Einstellung.

Da die Gegenwart ihre Wurzeln immer auch ganz woanders hat, erfordert es einen historischen Blick. Wer nur über die aktuellen Vorschriften der Bekleidung oder die herrschende Zensur im Iran spricht, ohne die Entwicklungsgeschichte des politischen Systems der islamischen Republik und deren Machtstrukturen zu betrachten, der bleibt nur an der Oberfläche hängen.

„Das ist im Grunde nur die Warze, nicht die Krankheit.“ (Thomas Brasch im Gespräch mit Günter Grass.

Symbole (Foto: Stefanie Eisenschenk)


Es ist kein Zufall, dass ich sehr oft bei dieser Reise an Thomas Brasch, Barbara Köppers oder Irmtrauth Morgner denken muss. Eine Spiegelung von Geschichten, gespalten durch die Zeit. Kunst in der DDR. Überhaupt, Kunst unter dem Einfluss von Zensur, Kunst unter dem Hakenkreuz - das Zeichen werde ich in einem alten Tempel aus der persischen Zeit neben einem Davidstern in den Mauern sehen. Der Tempel mit dem „Hakenkreuz“ Symbol ist lange vor dessen Missbrauch erbaut worden. Das Symbol wurde genauso entfremdet und benutzt von den Nazis, wie der Begriff „Arier“. Der Dokumentarfilm „Die Arierer“ hat in 2014 endlich das Lügenwerk der begrifflichen Rassenideologie präzise offen gelegt. Arier – geklaut aus dem alten Persien. Dass ein Arier ein Mensch ist - wie du und ich - hat König Darius vor 2500 Jahren in Stein gemeißelt. Tragischerweise wurde der Begriff von den Nazis für perfide Propaganda-Strategie benutzt und mit ausgedachten Attributen zu einem Pseuydoideal zusammengebastelt. Für mich blitzte hier immer wieder die Gegenwart aus Deutschland durch - wo Personen der AfD und anderer Parteien begonnen haben öffentlich zu irrlichtern. Die Sprache wird für politische Propaganda missbraucht, um ängstliche Mitläufer zu gewinnen. Eine verlogene Instrumentalisierung der Flüchtlinge für herrschaftliche, politische Zwecke. Die Fluchtursachen sind komplex und es erfordert ein Hinterfragen seiner eigenen Selbstherrlichkeit - weil es doch tatsächlich um ein verdecktes Spiel der Beherrschung geht (S. 118-120, Moderne und Ambivalenz, Zygmund Bauman). Womit ich wieder bei Hamlet bin.

Hamlet im Spannungsfeld des Wächterstaats

34. Fadjr International Theater Festival in Teheran (Fotos: Stefanie Eisenschenk)

Zum 34. Fadjr International Theatre Festival nach Teheran fuhr ich, weil ich als Freundeskreismitglied der Schaubühne versuche, mindestens ein Gastspiel pro Jahr zu begleiten. In "Hamlet" wird regelmäßig der König ermordet, betrogen und gelogen. Am Schluss sind fast alle tot. Shakespeares Schurkenstück in Teheran - mit diesem Hintergrund der Geschichte der Diktatoren: vom Schah von Persien, der Revolution 1979 des Ajatollah Khomeini, sowie der blutigen Unterdrückung von 2009, wo die Demonstrationen gegen die Wiederwahl Ahmadinejads brutal niedergeschlagen wurden - dies unter den Augen des obersten, religiösen Imans? Der gleiche Iman Ali Khamenei, der auch im Theatersaal hängt. Über Hamlets Handeln gewissermaßen, in Mitten der vielen Verstrickungen. Kaum eine Vorstellung konnte besser sein. Für mich war es eine Annäherung über eine doppelte Flucht - mit Umweg über die Spaltungsfigur "Hamlet", dem Fremdblick und der Zensur - es war ein ganz anderer Nährboden, auf welchen diese Wörter fielen:

„Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage“

Wie aber inszenierte Thomas Ostermeier (Schaubühne) Hamlet unter den Augen des Wächterstaats? Mit Probelauf vor dem Zensor? Wo eine institutionalisierte Religion im Deckmantel und Dienst der Machterhaltung wirkt? Ahmadinejad ist weg, der neue Ministerpräsident Ruhani scheint für Erneuerung und einer Öffnung Irans zur Welt zu stehen. Dem Iran wird jetzt verheißungsvoll „Aufbruch“ zugeschrieben, denn seit Januar herrscht Atomfrieden mit den USA und auch das Handelsembargo gibt es seit kurzem nicht mehr. Die Systematik in der islamischen Republik ist jedoch genau die Gleiche geblieben: der oberste Geistliche, der Iman entscheidet, wer ins Parlament darf und wer nicht. Wer immer also im Parlament sitzt, ist durch die Struktur des Wächterstaats gegangen und damit automatisch ein Teil des Systems. Wie die Herrschaftsideologie die Menschen formt ist ungewiss. Fakt ist, immer noch finden erschreckend viele Hinrichtungen statt. Es gibt keine Meinungsfreiheit, die Frauenrechte sind weit entfernt von Gleichberechtigung, die Revolutionswächter achten auf „Teufelsfrisuren“ oder ob das Kopftuch getragen wird. Kunst ist der willkürlichen Zensur unterworfen. Gerade wo Unterdrückung herrscht, hat Kunst oft ein stärkeres Gewicht, ein wirkliches Anliegen. Kunst, trotz Zensur, aber ohne sich dem Regime anzudienen? Das sind Widersprüche, die schwierig auszuhalten sind, aber es ist nicht unmöglich. Es braucht Willen dazu, Mut und Ausdauer.

Iranischer Magazin-Beitrag zur Schaubühne (Foto: Stefanie Eisenschenk)


Eine andere Ophelia - eingerahmt von den Mullahs
Es war verwirrend, wie anders Shakespeares Dichtung (Jenny König als Ophelia zum Gastspiel in Teheran) im Iran wirkte. Diese Verschiebung des Blickwinkels an diesem Ort, mit diesem Stück hat mich berührt. Die Verwicklungen und das Fallen des Claudius (Urs Jucker) und Polonius (Robert Beyer) am Anfang sah ich in Teheran mit ganz anderen Augen. Zwar auch unter dem Regenschlauch, auch im Dreck der Torfbühne, aber trotzdem empfand ich viele Szenen und Texte viel sinnbildlicher, viel deutlicher und viel intensiver als in Berlin.

„Das Schauspiel sei die Schlinge,
In die den König sein Gewissen bringe.“


Vieles war greifbarer. Ich steckte selbst ungewohnt in diesem Umhang der erzwungenen Verhüllung und den vielen Verboten für Frauen. Ophelia (Jenny König) im rosa Kopftuch, von Hamlet mit Dreck beworfen und mit Torf zugedeckt auf dem Grab – Unsichtbarkeit ist fast wie ein kleiner Tod. Diese Veränderung der Inszenierung wirkt sinnbildlich stark - in Berlin wälzen sich die beiden körperlich umschlungen im Dreck. Um den Vorgaben zu entsprechend jegliche Konturen des Körpers zu entfernen, saß ich mit Poncho im Theater; „ich passte mich an, blieb aber fremd“ (vgl. S. 31 „Ist das ein Leben“ von Insa Wilke über Thomas Brasch). Die schlimmste Einschränkung im Iran ist aber, dass dort niemand offen sagen darf, was er wirklich denkt. Angst macht gefügig. Damit merkte ich auf der eigenen Haut - hier steht etwas auf dem Spiel, es geht hier um etwas. In Berlin, inmitten einer satten und sogenannten „freien“ Wohlstandsgesellschaft ist vieles einfach so egal, so banal. Was in Berlin in der Vielzahl der Möglichkeiten untergeht, ist in Teheran hoch brisant. Und Ostermeier hat über Lars Eidinger als Hamlet geschickt Verweise an unterschiedliche Adressaten eingebaut.

Die Atmosphäre im Theatersaal war dem entsprechend erwartungsvoll, fast schon flirrend in der Vahdat Hall. Es war allen klar, dass die Inszenierung aus Berlin durch den Zensurfilter des Wächterstaates musste, aber trotzdem wurde viel erwartet. Es waren sehr viele Leute, die das Stück sehen wollten. So viele, dass sogar das Eingangstor gestürmt wurde. Ich konnte mich gerade noch so reinquetschen. Die Vorschrift, dass Männer und Frauen sich nicht berühren dürfen in der Öffentlichkeit, hatten in dieser Situation wirklich alle Beteiligten verdrängt. Und so haben wir am Eingang das gemacht, was auf der Bühne selbst nicht gezeigt werden durfte - körperlichen Vollkontakt. 

Kunst als Probe
Die Kunst der Künstler wurde auf die Probe gestellt. Nicht nur von den Zuschauern, im Iran auch durch die Zensur. Eine doppelte Herausforderung sozusagen. Eine verhüllte Kunst der Störung. Und trotzdem ein Probelauf zum Verhalten?

HAMLET in Teheran

„Schändlichkeiten, Herr, denn der satirische Schuft da sagt, dass alte Männer graue Bärte haben und ein Kassengestell tragen…“


Bei diesem Dialog blickt Hamlet nach oben, wo rechts und links die beiden Imane hängen - wie in allen öffentlichen Gebäuden, Ajatollah Khomeini und der aktuelle Machthaber Ali Khamenei. Beide mit langen, grauen Bärten. Khamenei trägt auch eine Brille. Diese Anspielung verstand ich sofort, denn Polonius (Robert Beyer) trug im Iran kein Kassengestell. Die Übertitel der Übersetzung in Farsi konnte ich allerdings nicht lesen. Trotz Zensor und unter den Augen des iranischen Kulturministers folgten weitere kleine Anspielungen, die teils in die deutschen Dialoge eingeflochten oder einfach bei passender Gelegenheit kurz in Englisch eingeworfen wurden. Shakespeare hat in Hamlet eine kurze Theaterszene eingebaut, ein Theater im Theater sozusagen. Hamlet ist darin als Frau verkleidet, in Berlin lässt Ostermeier Hamlet in Damen-Dessous eine Frau spielen, im Iran trägt er stattdessen - ich glaube ein schwarzes Nonnenkostüm. Oder einen Tschador? Ich konnte das noch nie auseinanderhalten. Der verschleierte Hamlet sagte jedenfalls „Don’t touch“ zu seinem Schauspielkollege Sebastian Schwarz, der scheinbar zu nah kam. Damit spielte der verschleierte Hamlet auf die Verbote der Berührung in der Öffentlichkeit zwischen Frau und Mann an. Der Schaubühnen-Hamlet in Teheran wurde so um eine weitere Ebene ergänzt, die nur über Anspielungen und Querverweise funktionierte. Die Iranerinnen und Iraner lachten über diese Anspielung, weil sie diese Beschränkungen im Alltag des öffentlichen Lebens allzu gut kennen. Hamlet war damit ein Komplize der Zuschauer und hat sie gleichzeitig auf den Seziertisch gelegt.

Die Kunst sich zu verhalten.

Im direkten Kontakt zum Publikum fragt Hamlet auf Englisch „Hat Hamlet Laertes etwas angetan?“ Es folgte ein Dialog, der das Dilemma auf den Punkt brachte. Hamlet stellte seine Frage ungefähr an 1000 Leute. Nur ein Zuschauer gab ein Handzeichen, das ist nicht selten auch so in Berlin der Fall. Alle anderen enthielten sich. Anfangs. Jetzt trat der Schauspieler Lars Eidinger heraus aus seiner Rolle des Hamlet und sprach einen Herrn aus der ersten Reihen direkt an. Einen, der sich nicht beteiligt hatte. „What’s your opinion?“ Der Zuschauer druckste herum, vom Publikum kamen Zwischenrufe „we don’t  know it, we are confused“. Der Mann fragte dann Lars Eidinger, was seine Meinung wäre. (Ich klappe dabei innerlich zusammen). Eidinger antwortete, er sei nur der Schauspieler, der einem Skript folgt. Aber er, als Zuschauer, er müsste doch eine Meinung haben und nicht nur dort auf seinem Stuhl sitzen. Das ist im Iran eine andere Aufforderung als in Deutschland. Wo jedoch ist eine solche Meinungsübung besser möglich als im Theater? Beziehungsweise sich beispielhaft zu verhalten?

In diesem Moment trat etwas ans Licht, Eidinger zog ein Problem blank - er wirkte tatsächlich verzweifelt, stand da, mit seinem künstlichen Wanst im Haweiihemd und für mich stand hier jemand, der „Wahrsprechen“ forderte. Vehement. Was in einer Diktatur allerdings lebensbedrohlich sein kann. Wie gesagt - Angst macht gefügig. Es gibt im Leben nicht auf alles eine Antwort, aber in dieser Situation ging es um ein Erkennen, ein Wissen, das alle im gleichen Raum zur gleichen Zeit als Theaterstück miterlebt hatten. Und trotzdem schien es schwierig zu entscheiden, was passiert war. Das Publikum im Iran, wie in Berlin beobachtete, aber verstand nicht, was es gesehen hatte. Was war richtig? Was war falsch? Seine Meinung zu vertreten, sich zu verhalten - und das öffentlich - erfordert immer Mut. Eine Meinung zu vertreten bietet immer Angriffsfläche, genau das jedoch gilt es auszuhalten. Ja, Hamlet hat Polonius erschossen. Versehentlich zwar, aber tot ist er trotzdem. Ophelia hat sich seinetwegen umgebracht. Alle im Raum haben das gesehen, aber einordnen war schwierig. Denn Shakespeare schaffte Verwirrung, ein Gedankenchaos, immer wieder ein Meister seines Fachs. Endlich kam die Erlösung von einer Frauenstimme „but he killed his father“ und dann noch eine weitere, zarte Frauenstimme „and he made Ophelia doing suicide.“ Laertes (Franz Hartwig) hat also zwei ihm nahestehende Menschen verloren. In dieser Menge und genau in diesem Moment hatte ich das Gefühl von einem Augenblick -  es klingt so groß -  doch es fühlte sich an wie - Wahrheit. Dieser Moment wurde für mich „zum Erscheinungsort ihrer eigenen Diskursgegenwart, einer Gegenwart, die sie als Ereignis befragt“. Wie das Foucault in einer seiner letzten Reden sagte „Über den Mut zum Wahrsprechen im politischen Diskurs. Die Regierung des Selbst und der anderen.“

So hatte ich Hamlet noch nicht erlebt. Es ging mehreren so, aber nicht allen. Manche fanden das Nachfragen von Hamlet (Lars Eidinger) zu vehement. Meine Meinung ist, warum sollte die Machtstruktur, die durchaus auch auf der Bühne gilt, nur zwischen Schauspielern und Zuschauern, nicht ebenfalls aufgebrochen werden? Geht es nicht genau darum?

Schaubühnen Ensemble im begeisterten Schlussapplaus des iranischen Publikums (Foto: Amir Safar Saghafi)

Gleichbehandlung und Gerechtigkeit
Hamlet in Teheran war kein Wegducken im politischen System des Mullah-Regimes, das im religiösen Deckmäntelchen agiert. Die Unterdrückung und die sozialen Missstände im Iran sind offensichtlich. Reich und arm klaffen auseinander, wie in so vielen anderen Ländern. ¼ der Bevölkerung Irans genießen Sonderstatus durch Vorzüge des Regimes, diese Personen wiederum stützen überhaupt das ganze Konstrukt. Interessen erzeugen soziale Positionen, das sind gemachte Strukturen, das gilt nicht nur für den Iran. Die Frage ist nur, welche Interessen herrschen?  Es bedeutete für mich, durch den Umweg der Distanz im Iran, auf die eigenen Situation in Deutschland zu blicken. Das zwar eine Demokratie ist und ein Rechtsstaat, dennoch frage ich mich, welche Interessen herrschen. In Deutschland ist das alles ein Jammern auf hohem Niveau, dennoch sind soziale Ungleichheiten nicht selten eine ungesunde Entwicklung, die es den rechten Lagern wohl leichter macht, Anhänger zu finden. Das wird aktuell nicht nur in Deutschland deutlich. Jeder selbstherrliche Blick, den der Westen oft für sich beansprucht, verleugnet die eigenen Zwänge oder Fehlentwicklungen.

„Wahrsprechen“ und auch die Art und Weise, die Wahrheit zu sagen: Der Sprecher bringt sich dabei selbst in Gefahr, nimmt dieses Risiko aber rückhaltlos in Kauf. Foucault spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Dramatik des wahren Diskurses“.

Anruf der Poesie
Es ist eine Lücke in dieser Republik.
Es ist eine Fuge in einem Kopf.
Es ist eine Fuge in einer Frau.
Es ist eine Fuge in der Musik von Bach.
Und es ist eine Fuge in dieser Geschichte.
Und nur wenn diese Fuge da ist, durch die man so schielen kann wie in eine Lücke von dem verbotenen Zimmer oder so.
Und hinter all dem noch etwas sieht, was möglich ist in einer Welt oder in einer Gesellschaft, die man für so festgemauert hält. Aber auch in einer Mauer hat der Maurer irgendwo gepfuscht und da wo wer pfuscht, siehst du plötzlich durch und dahinter sitzen Indianer und die Alternative ist nicht mehr einsam oder zweisam, sondern noch etwas anderes.
(von Thomas Brasch, aus dem Buch von Insa Wilke "Ist das ein Leben”)

Junge Frauen im Iran (Foto: Stefanie Eisenschenk)

Es sind wieder viele erste Anzeichen von Hoffnung für Veränderung, kleine Lücken, die den Widerstand überwinden lassen. Kleine Ritzen von Hoffnung. Die einen Anfang machen. Einige Pärchen im Teheran sah ich, die hielten sich einfach an der Hand und gingen demonstrativ durch die Stadt. Eine weitere, stille Revolution soll seit längeren im Gange sein - Bildung. Die Väter schicken ihre Töchter auf die Universitäten. 60% der Studierenden sind Frauen. Die Forderung nach Veränderung kommt von der Bevölkerung selbst, besonders aus der jüngeren Gesellschaft. Die modernen Leute in Teheran leben zwei Leben, eines für das Staatsregime und ein zweites, privates, hinter verschlossenen Türen. Der Wunsch, ein Leben zu führen, ist stark.

Wie das aussieht haben westliche Zaungäste nicht zu bestimmen, allerdings bringt das Kennenlernen und der Austausch vieles auf eine andere Ebene. In einen Prozess des Miteinanders. Was hoffentlich mehr ist, als der Genuss eines süßen Koffeingetränks in roter Dose. Wie das aussehen könnte, hat viele Gesichter und liegt im Handeln und Begegnen jedes Einzelnen. Sonst sitzen wir im Niemandsland mit Gespenstern (vgl. Außerhalb des Spiels v. Thomas Brasch). Beim Abflug in Teheran sprach mich eine sehr kleine, alte Frau an. Komplett im Tschador verhüllt, ich verstand kein Wort. Sie holte unter ihrem Umhang ein Gebäck heraus und drückte es mir mit ihren beiden Händen sehr innig in meine Hand. Alle waren wir Handlungsreisende im Wechseltausch. Es gab mehrere solch verwirrender Offenherzigkeiten im Iran. Ohne ein Verhältnis zu sich und ohne Umgang mit der Welt findet sich Nichts. Wie das Zusammen aussieht, hängt an jedem Wort und an jeder Geste, die zeigt, ob wir versuchen miteinander zu leben. Es können sehr viele kleine Lichtblicke sein.

„Oft nennt die Welt im eitlen Trug, den Weisen dumm, den Narren klug.“ (Saadi)

Dieser Text erscheint ebenfalls am 29. März 2016 auf derFreitag.