25. Juni 2017

Welches Jahr haben wir gerade? von Afsane Ehsandar / Autorentheatertage 2017 (Deutsches Theater) - Gastbeitrag von Steffi Eisenschenk


Entkommen, doch der Zeit entglitten?

„Heute morgen bin ich durchgedreht. Ich habe mein Bestes versucht.“

Wie so eine bizarre Zwiespältigkeit sitzt und steht die Hauptfigur, gespielt von zwei Schauspielerinnen, auf dem Grund eines Schwimmbeckens. Ein dünnes Licht beleuchtet das verhüllte Leben am Boden. Das Leben. Ein Fluss? Ein Meer? Oder ein eingegrenztes Becken? Wer aber setzt den Rahmen? Die Spielregeln? Die Leben einer Frau, mit mehreren Ichs. Die Stimmen aus der Vergangenheit übernimmt ein Kassettenrekorder. Ihr Geist beobachtet sich selbst aus allen Ecken oder kommentiert vom Beckenrand aus. Die Ketten der Erinnerungen, die Fluchterlebnisse - sie hängen in schweren Schatten in die Gegenwart hinein. Die grausamen Erlebnisse der Flucht zerstören jeden Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen. Geradlinig ist gar nichts. Verunsicherung und eine unterschwellige Bedrohung hängen in der Luft. Immer wieder funkt die Stimme aus dem Kassettenrekorder dazwischen – eine Störung. Eine verzerrte Wahrnehmung. Das hier? Was jetzt? Die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft? Der Schock - ein mieser Anker, der einen zu Boden zieht, besucht einen immer wieder. Was war, was ist? Diese Vorstellung von Veränderung. Ist das nicht die Nahrung von Mut? Oder ist es eher die Hoffnung?

„Ich war mit dem Kopf in den Wolken“

sagt die Schauspielerin. Die Erinnerungen, die Alpträumen, die festkleben im Gehirn und die Gegenwart beeinflussen, in die Zukunft greifen. Und doch scheint der Wille stark gewesen zu sein, die Dinge nicht mehr aushalten zu wollen. Eine andere Idee zu haben. Vom Leben. Von der Zukunft. Von der Zukunft als schöner Traum vom blauen Himmel. Die Gedanken sind längst geflohen, nur der Körper ist noch gefangen. Eingemauert, eingegrenzt, eingesperrt. Überall sucht sie nach den Verboten. Privat. Members Only. Verzweifelt versucht sie es zu richten, ihr Leben. Als ob die Risse zu kitten wären wie so ein kaputter Schlauch. Endlich die Dinge zum Laufen zu bringen. Die Löcher stopfen. Wieder fest im Sattel zu sitzen, das Leben in den Griff bekommen. Und nicht in der Leere zu hängen, nicht auf der Stelle treten, sich abstrampeln, aber nicht vorwärtskommen. Dieses Leben, diese zwei Leben zu leben, das verlangt viel. Das Öffentliche und das Private. Diese Parallelen des gleichzeitigen Ichs. Was im Herkunftsland (Iran) der Autorin notwendig ist für viele: zwei Leben zu leben in diesem repressiven Wächterstaat. Gerade als Frau. Man muss Kopftuch tragen, Fahrrad fahren ist verboten, Sport treiben ist nur in speziellen Frauenparks erlaubt, um nur einige zu nennen. Aber die beiden Ichs sind geflohen. Das neue Leben fordert neue Dinge. Die alte Ordnung gilt nicht mehr, die neue ist noch nicht gefunden. Werden es drei oder vier Ichs werden? Diese Sehnsucht nach einem Leben.

Das Theaterstück, ein Dialog mit sich selbst und der Dialog mit ihm. Oder ein Verhör? Ein Mann. Ein Partner? Einer, der im Gefängnis sitzt? Ein Vater? Mehrere Männer. Beamte, Polizisten. Vergewaltiger. So genau weiß man das nicht, wann wer spricht. Die Erinnerungen durchkreuzen das Jetzt. Ungenau. Gestaltlos. Diffus. Diese Subtilität braucht keine Handgreiflichkeiten. Beängstigend sitzt die Angst im Raum zwischen den Worten. Ort, Zeit und Umstände sind unbekannt. Doch die Schlagstöcke der weißen Kälte sind immer noch da. Ein Schlagstock mit Uniform, der Nacktheit befiehlt. Im Kopf ist das nicht so einfach zu löschen, da stapeln sich die Erlebnisse. Die zwei Stimmen der beiden Ichs fallen in Chorgesänge, die Ichs kurz vereint. In einigen Momenten singt auch die männliche Stimme mit. Die Stimmen starten unterschiedlich, drehen sich und kommen wieder zusammen, um einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Gemeinsam, getrennt zusammen.





Die Träume des Ichs sind schon längst hinausgeklettert und sitzen am Beckenrand. Eine Selbstbeobachtung. Mitleidig, weil der Körper hängt noch fest. Sitzt, bewegungslos. Der Körper folgt den Gedanken nicht so leicht. Der muss viel mehr aushalten und überwinden. Aber welchen Weg soll sie gehen? „Gehe nie da lang, wo alle gehen.“ warnt die männliche Stimme. „Die Polizei folgt immer den Menschenmengen.“ Immer noch bedrohlich, das Leben. Und auch, wenn der Körper die Flucht überlebt hat, mit allen Hindernissen der Vertreibung. Und auch, wenn sie allein in diesem neuen Land steht - in diesem neuen Leben, wo alles so fremd ist und die Ichs nach Halt suchen - will sie dazugehören, zu ihrer erträumten Zukunft. Dazugehören. Unbedingt dazugehören. Die beiden Ichs zusammen zum neuen Ich? Versuche, die immer wieder durchkreuzt werden, weil immer wieder andere Regeln gelten. Hier und dort, andere Spielregeln. Es muss der Maßstab gewechselt werden, was eine Orientierung erschwert.

„Neu anfangen. Sich blond machen. Sich blond färben. Alles neu.“


Afsane Ehsandar zeigt die Spaltung der Identität, die Einflüsse und die Transformation. Die Verwirrung, das Trauma der Hauptfigur ist spürbar, die sich im Titel ausdrückt: Welches Jahr haben wir gerade?

„Ein Drama über die Unmöglichkeit, Unaussprechliches auszusprechen. Gegen den Anspruch, es immer ganz genau wissen zu wollen. Gerade in der Verweigerung wird das Schreckliche spürbar.“ (Aus der Jurybegründung der Autorentheatertage 2017)

Afsane Ehsandar, geboren 1981 in Teheran, Iran. Sie ist als Autorin und Lektorin tätig. Sie lebt seit drei Jahren in Berlin und schreibt seither auf Deutsch. Ihre Stücke drehen sich häufig um Fragen von Identität, Gewalt und Sexualität.

(Gastbeitrag von Steffi Eisenschenk)

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Regie: Mélanie Huber
Bühne / Kostüme: Marie Luce Theis
Komposition: Martin von Almen
Arrangements der Liedtexte: Stephan Teuwissen

Uraufführung am 23. Juni 2017
Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich
  
Besetzung:
Sarah Gailer, Sarah Hostettler, Nicolas Rosat, Isabelle Menke (Stimme)


Weitere Infos zu den Autorentheatertagen 2017 und zum Stück hier.

5. Juni 2017

Rückblick April & Mai 2017: Künstler*innen treffen und verabschieden


APRIL
26.04.17 Diskussionsveranstaltung zur Wahl in Frankreich (Schaubühne)

Entscheidung in Frankreich. Vor der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen diskutierten in Berlin lebende französische Journalist*innen (Daniel Cohn-Bendit, Pascale Hugues, Hélène Kohl und Elise Graton). Es moderierten Andreas Fanizadeh und Tania Martini (taz-Kulturredaktion).

Es ging nicht nur um Trends, Ergebnisse, Einschätzungen zur Wahl in Frankreich sondern auch darum, wie sich das Ergebnis auf die Demokratie in Europa, die Zusammenarbeit über Grenzen hinaus, die freie Presse und die soziale Gerechtigkeit auswirken könnte sowie um eine Bewertung des Abschneidens der französischen Rechten.

Eine Koproduktion von taz.die tageszeitung und Schaubühne Berlin.


28.04.17 Freunde treffen Künstler: Christoph Gawenda (Freunde der Schaubühne)

Die Freunde und Freundinnen der Schaubühne trafen sich mit dem Ensemblemitglieder Christoph Gawenda, um mit ihm über seine schauspielerische Laufbahn zu sprechen und Einblicke in seine Arbeit an der Schaubühne zu bekommen. Christoph hatte sich zwischen Auslandsgastspielen, Vorstellungen und Fotoshooting Zeit für den Freundeskreis genommen hat.

Ein Fotobericht hierzu ist auf der Seite der Freunde der Schaubühne zu finden.

Christoph Gawenda in "Angst essen Deutschland auf" von Patrick Wengenroth
    hier mit Jule Böwe und Lucy Wirth (Foto: Heiko Schäfer)


MAI      
10.05.2017 Angélica - Una tragedia (Schaubühne)

Dokumentarfilm über Angélica Liddell von Manuel Fernández-Valdés

Hätte ich diesen Dokumentarfilm über Angélica Liddell gesehen, bevor ich ihr aktuelles Stück "Toter Hund in der Chemischen Reinigung: Die Starken" gesehen habe, hätte ich dieses vermutlich anders wahrgenommen. Manuel Fernández-Valdés hat die spanische Schauspielerin, Regisseurin und Performerin Angélica Liddell bei den Proben zu "Todo el cielo sobre la tierra (El síndrome de Wendy)" im Frühjahr 2013 begleitet. Liddell nutzt dabei Elemente aus Peter Pan, verknüpft diese mit der realen Geschichte des norwegischen Massenmörders Anders Behring Breivik und lässt chinesische Walzertänzer*innen sowie einen deutschen Philosophistudenten auftreten. Außerdem rechnet sie in einem Monolg mit ihren Geschlechtsgenossinen ab. Gezeigt wird eine Künstlerin, die sich gemeinsam mit einem chinesischen Schauspieler zu "House of the rising sun" in Trance tanzt, die sich mit dem deutschen Schauspieler einen Kampf um einen deutschen Satz liefert, die einen Monolog wie eine Rasende spricht, die von ihren Schauspieler*innen fordert bis an viele Grenzen zu gehen. Außerdem liefert sie - im Film in Schriftform eingeblendet - Einblicke in ihr Inneleben. Angélica Liddell verbindet ihr Privatleben mit ihrer Kunst, drückt Ängste und Wut aus. Oft erinnert sie mich an Marina Abramovic. Manchmal meint man zu verstehen, was in ihr vorgeht. Manchmal ist man ratlos, was sie ausdrücken möchte. Faszinierend und berührend ist diese Persönlichkeit. - Sollte ich "Toter Hund" noch mal eine Chance geben? - Durch eine eigentlich unbedeutende Auseinandersetzung musste F.-V. seine Filmarbeiten und damit die Probenbegleitung unterbrechen. Auch hier zeigt sich die Eigensinnigkeit von Liddell. Erst kurz vor der Premiere versöhnten sich die beiden wieder und er durfte - wenn auch mit Einschränkungen - weiter filmen.


18.05.17 Ausstellungseröffnung: Enjoy the Journey - Fotos von Robert Beyer (Schaubühne)

In der ehemaligen Universum Lounge neben dem Kassenfoyer
vom 19. Mai bis 25. Juni 2017
Täglich von 11 bis 20 Uhr geöffnet
Eintritt frei

Aus der Ausstellung "Enjoy the Journey":
Lars Eidinger, Gastspiel »Richard III.«, Avignon 2015
(Foto: Robert Beyer)


Robert Beyer, Ensemblemitglied seit 1999, hat über zehn Jahre seine Kolleg*innen sowie das Leben vor und hinter der Bühne auf Gastspielreisen der Schaubühne dokumentiert, Portraits, die zwischen Privatheit und Selbstdarstellung changieren. Auch Bilder der Architektur der besuchten Städte sind zu sehen.

Gezeigt wird eine Auswahl von 60 Bildern, darunter Aufnahmen der Gastspielreisen nach Sydney (2010), Jerusalem (2011) und Ramallah (2012).

Alle Fotografien, die in der Ausstellung zu sehen sind, werden im Original (in einer Auflage von 5 Stück) verkauft:
22 x 14,5 cm, ohne Rahmen: 40 Euro
22 x 14,5 cm, mit Rahmen: 50 Euro
45 x 30 cm, ohne Rahmen: 70 Euro
45 x 30 cm, mit Rahmen: 100 Euro
74 x 79 cm, ohne Rahmen: 150 Euro
74 x 79 cm, mit Rahmen: 200 Euro

Wer ein Bild kaufen möchte, kann sich unter presse@schaubuehne.de an Maria Hartmann wenden.


19.05.17 revisited thisisitgirl von Patrick Wengenroth (Schaubühne)

Zum 5ten mal habe ich diese Inszenierung gesehen. Hier mein Bericht.
 

26.05.17 Faust (Volksbühne)
Die letzte große (und vor allem großartige) Inszenierung von Frank Castorf! Wunderbare sieben Stunden mit allen Volksbühnen-Lieblingen: Alexander Scheer, Sophie Rois, Martin Wuttke, Lilith Stangenberg, Marc Hosemann, Valery Tscheplanowa, Sir Henry uva.

"Das Männliche ist das Vergängliche."- Und weil wir alle wissen, dass dieser Abend einer der letzten mit diesem Ensemble und einer Volksbühne in dieser Art und Form ist, schwanken wir zwischen Euphorie und Wehmut. Diese sieben Stunden waren nie langweilig, sondern eine große Freude. Die Schauspieler*innen haben zum (fast) letzten mal auf dieser Bühne gezeigt, was die Volksbühne ist und nach dem Ende dieser Spielzeit vielleicht nie mehr sein wird.

Danke und auf Wiedersehen!

Mit: Martin Wuttke (Faust), Marc Hosemann (Mephistopheles), Valery Tscheplanowa (Margarete und Helena), Alexander Scheer (Lord Byron und Anaxagoras), Sophie Rois (Die Hexe), Lars Rudolph (Doktor Wagner), Lilith Stangenberg (Meerkatze Satin), Hanna Hilsdorf (Homunculus), Daniel Zillmann (Monsieur Bordenave, directeur du Théâtre des Variétés), Thelma Buabeng (Phorkyade), Frank Büttner (Valentin), Angela Guerreiro (Papa Legba und Baucis), Abdoul Kader Traoré (Baron Samedi & Monsieur Rap rencontrent Aimé Césaire) und Sir Henry (Der Leiermann)

Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denic
Kostüme: Adriana Braga
Licht: Lothar Baumgarte
Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz
Videoschnitt: Jens Crull, Maryvonne Riedelsheimer
Musik/Ton: Tobias Gringel, Christopher von Nathusius
Tonangel: Dario Brinkmann, Lorenz Fischer, William Minke, Cemile Sahin
Dramaturgie: Sebastian Kaiser