16. Oktober 2009

Für Männeraug und Frauenherz verwirrend: Shakespeares Sonette (BE)


"Kunst muss man nicht verstehen, Kunst muss wirken!" Diesen Satz sagte Jutta Ferbers (Dramaturgin) im Rahmen der Einführung zu Shakespeares Sonetten am Berliner Ensemble. Und dann fügte sie noch hinzu: "Hauptsache Sie nehmen etwas mit, das sie ihr Leben lang begleiten wird." Richtig, das ist das Wichtigste im Theater, in der Kunst und überhaupt. Und ich habe ganz viel mitgenommen: wunderbares Theater, wunderschöne Musik, herausragende schauspielerische und gesangliche Leistungen,...

Die Sonette in der Inszenierung von Robert Wilson mit der Musik von Rufus Wainwright sind einfach etwas für Herz und Seele!
Wilson verzaubert die Zuschauer mit Bildern aus einer irrealen Welt und lässt seine Schauspieler - alle Frauen werden von Männern, alle Männer von Frauen gespielt - diese Welt wie Zauberwesen durchwandern. Zur Stimmung tragen neben der Musik vor allem das Licht und die Farben sowie die fantastischen Kostüme bei.

Besonders erwähnenswert: Christopher Nell als "Eve", der die Interpretation des Sonett 66 so beeindrucken hoch singt, dass das Publikum ihn dafür mit Zwischenapplaus belohnt. Ein weiterer Höhepunkt des Abends ist das Sonett 20, gesungen von Sabin Tambrea als "Lady" und in einer weiteren Szene von der Diseuse Georgette Dee.

Zum ersten mal ist etwas von den Sonetten, die zwar Bestandteil meines Studiums waren, die ich aber bis dato irgendwie nie richtig verstanden habe, auch bei mir hängen geblieben! Und ja, bei Wilsons Shakespeare Sonetten geht es nicht darum, alles zu verstehen, sondern darum, das zuzulassen, was uns hier geboten wird und als schönes Erlebnis mit nach Hause zu nehmen.

Foto: Lesley Leslie-Spinks

27. September 2009

Zwischen Schein und Sein: "John Gabriel Borkmann" (Schaubühne)

"John Gabriel Borkmann" in der Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Schaubühne zeigt Emotionen auf der Bühne und erzeugt Emotionen beim Zuschauer.

Wütend macht einen die Arroganz von Borkmann gegenüber seinen Mitmenschen und die Uneinsichtigkeit in Bezug auf die eigene Schuld. Mitleid hingegen erzeugt die Unfähigkeit des alternden Geschäftsmanns, Liebe anzunehmen und der Moment, in dem er bereit ist, sich aus der Isolation wieder unter seine Mitmenschen zu begeben und vom eigene Sohn zurückgestoßen wird.

Die Rolle des John Gabriel Borkmann spielt Josef Bierbichler und er tut dies so überzeugend, dass man sich permanent fragt, was Schein und was Sein, wo der Unterschied zwischen Rolle und Schauspieler ist. Und so ist man auch bei der Darstellung der Figur Borkmann durch den Schauspieler Bierbichler permanent zwischen Zu- und Abneigung hin- und hergerissen.

Fazit: Ein Stück, das Dank des großartigen Hauptdarstellers nachhaltig beeindruckt.

7. September 2009

Weniger ist mehr: "Entführung aus dem Serail" (Staatsoper unter den Linden)

Wenn Theaterregisseure Opern inszenieren, ist das für den "geübten" Theatergänger ein sehr zu begrüßender Umstand. Wer eher eine Affinität zum Sprech- als zum Musiktheater hat, kann dann auch eine Oper bis ins Detail genießen. Ich gehe gerne in die Oper, doch wird mir der Genuss leider manchmal etwas dadurch getrübt, dass viele Operndarsteller schauspielerisch nicht das leisten können, was ich aus dem Theater gewohnt bin. Das sogenannte Overacting, das vielen Sängern eigen ist, mag dem Genre zwar imanent sein (große Gesten gehören nun mal zur Oper), aber es macht eben mehr Spaß, wenn die Darsteller nicht nur gut singen, sondern auch gut spielen. So gesehen in der "Entführung aus dem Serail" in der Staatsoper unter den Linden, inszeniert von Michael Thalheimer.

Thalheimer holt schauspielerisch das Optimum aus den Darstellern heraus. Zudem durchmischt er den deutschen Originaltext mit englischen, italienischen und russischen Sätzen und schafft so eine moderne Interpretation der "Entführung aus dem Serail". Darüber hinaus entlarvt er Stereotypen, indem er die Figuren in Mozarts Singspiel beinahe marionettenhaft agieren lässt. Thalheimers Figuren ziehen sich an und stoßen sich wieder ab, treten sich manchmal ganz und gar körperlich gegenüber, um schließlich doch nicht zueinander zu finden, weil sie es nicht können oder wollen. All das ist höchst nachvollziehbar: Letztlich steht jeder für sich auf der leeren Bühne. Dazu passt die puristische Kulisse, die Thalheimers Bühnenbildner Olaf Altmann (ebenfalls ein renommierter Theatermann) entworfen hat. Wände und Böden sind schwarz, von den einzigen Requisiten, vier Stühlen, geht Gefahr ("Martern aller Arten" und Gefangenschaft) aus. Stimmungen und Szenenwechsel werden allein durch Licht und die sich auf und ab bewegende zweite Bühnenebene erzeugt.

Bleibt noch zu betonen, dass auch die gesanglichen Qualitäten der Darsteller mehr als überzeugen, um operninteressierten Theatergängern einen Besuch von Thalheimers "Entführung" schmackhaft zu machen.

13. Juli 2009

Verrückte Vögel im AGORA: "Vögel ohne Grenzen" (Volksbühne)

Verrückte Vögel im AGORA, der temporären Spielstätte der Volksbühne!

Das gut einstündige Stück "Vögel ohne Grenzen" nach Aristophanes in der Freilichtersatzspielstätte war vor allem eins: Eine Riesen-Gaudi! Wenn man sich einmal damit abgefunden hat, dass man hier nicht alles verstehen muss, wird das Stück von Jérôme Savary zu einem großen Vergüngen. Und dieses Vergnügen sieht man auch den Schauspielern an, die sich offensichtlich so richtig austoben im vor der Volksbühne aufgeschütteten Sand. Seien es die Kostüme (Vogelgewänder jeglicher couleur), Requisiten (Peniskekse und Körperteile aus Gummi), und die Kulisse (großartig: die vor sich hindämmernde Jury aus Pappfiguren), seien es die teils improvisierten Dialoge mit allerlei Anspielungen auf aktuelle Geschehnisse (Pyromusikale) - man spürt hier die Lust am Spielen. Fast wirkt es, als wollten die Schauspieler testen, wie weit sie gehen können, ja, was das Publikum alles mitmacht. "Typisch Volksbühne" mag manch einer denken - aber es ist doch etwas mehr: das Spiel wirkt erfrischend leicht, ein einziges Ausleben der Fähigkeiten. Bisweilen zuckt man zusammen, wenn Bill (Christoph Letkowski) sich zum wiederholten Male mit einem Sprung auf die Knie stürzt, die Zuschauer ziehen die Köpfe ein, wenn Bob (Axel Wandtke) und Bill die Zutaten ihrer "Kochshow" ins Publikum werfen, Prometheus (Jorres Risse) erscheint im Goldhöschen mit draufmodelliertem Musterpenis, um den Vögeln Tipps zur gütlichen Einigung mit den Göttern zu geben - doch das alles passt einfach in das Gesamtbild des Abends. Das alles ist schön schräg und wirkt dadurch so befreidend auf Zuschauer und Schauspieler und überschreitet dennoch die Grenze zum Geschmacklosen nicht.

Zum Abschluss der Spielzeit war "Vögel ohne Grenzen" eine großartige Demonstration von Schauspielkunst, die einfach großen Spaß macht!

17. Mai 2009

Theatertreffen 2009: Preiskampf

Am vergangenen Samstagabend wurde vor laufenden Kameras während einer einstündigen Jurydiskussion der Preisträger des mit 10.000 Euro dotierten 3sat-Preises für herausragende künstlerische Leistungen des deutschen Schauspiels bestimmt.

Beim sogenannten "Preiskampf" nominierten vier Theaterexperten einen persönlichen Kandidaten aus den zum Theatertreffen eingeladenen Ensembles. Innerhalb von 60 Minuten musste sich die Jury auf einen Gewinner einigen.

Die vier Jurymitglieder und ihre Kandidaten:

Eva Behrendt (Theaterkritikerin): Christoph Schlingensief mit seinem Fluxus-Oratorium „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“

Jenny Erpenbeck (Regisseurin und Autorin): Marion Breckwoldt in „Marat, oder was ist aus unserer Revolution geworden“ von Volker Lösch

Claus Peymann (Direktor des Berliner Ensembles): Birgit Minichmayr, Nicholas Ofczarek und Werner Wölbern in „Der Weibsteufel“ von Martin Kušej

C. Bernd Sucher (Publizist): Annette Paulmann in „Der Prozess“ von Andreas Kriegenburg

Die vier Kandidaten wurden jeweils in einem zweiminütigen Plädoyer mit einem kurzen Filmeinspieler vorgestellt. Danach folgte die Diskussion, die zu einer Entscheidung über den Gewinner führen sollte.

Neben der Darlegung von pro und contra für die vier Kandidaten entspann sich eine Diskussion über das Theater in Deutschland und das Theatertreffen im Allgemeinen. Vier Theaterexperten mit unterschiedlichen Ansichten darüber, was das Theater zu leisten hat und welche Position das Theatertreffen einnehmen solle, präsentierten sich unterschiedlich stark auf der Bühne. Schon nach Sekunden war klar, wer hier im „Ring“ dominierte: Claus Peymann, der seine Kandidaten mit dem größten Selbstbewusstsein verteidigte. Das Ergebnis nach 60 Minuten Preiskampf lautete somit konsequenterweise auch: Minichmayr, Ofzarek und Wölbern im „Weibsteufel“.

Die Diskussion und das Ergebnis wurden von einer Vielzahl der Zuschauer mit Buh-Rufen dokumentiert, die sich sicher auch an Claus Peymanns Auftreten störten. Dieser wurde nicht müde zu erwähnen, dass er die größte Theatererfahrung in der Runde habe und eine Vielzahl wichtiger Schauspieler, Regisseure und Dramatiker (ebenso die nominierten Kandidaten) persönlich kenne bzw. schon mit ihnen gearbeitet habe. Dies kann ihm zwar als unbescheiden ausgelegt werden, ist aber als Mittel in diesem Preiskampf verständlich. Warum sollen persönliche Erfahrungen keine Rolle bei der Entscheidung spielen?
.
Am Ende zählte nicht, wer besser argumentierte, sondern wer sich am selbstbewusstesten präsentierte. Und das war eindeutig Claus Peymann. Man muss mit Peymann nicht einer Meinung und mit dem Ergebnis nicht einverstanden sein, aber die Reaktion des Publikums war doch sehr irritierend, denn:
Die vier Jurymitglieder wurden ausdrücklich als „streitbare Experten“ eingeladen. Warum sollten sie sich dann nicht so verhalten? Kann man es jemandem vorwerfen, wenn er seinen Kandidaten mit allen Mitteln verteidigt? Genauso hätte man den anderen Jurymitgliedern vorwerfen können, ihre Kandidaten nicht mit mehr Herzblut verteidigt zu haben. Warum konnten die anderen mit ihrem Auftritt nicht besser überzeugen? Klar ist, es handelte sich hier um einen ungleichen „Kampf“, denn wenigstens zwei der Jurymitglieder waren Peymann offensichtlich nicht gewachsen. Als logische Konsequenz lenkte Eva Behrendt sogar wenige Sekunden vor Ende der Diskussion plötzlich ein und entschied sich ohne nähere Begründung für Peymanns Vorschlag. (Das wäre gar nicht nötig gewesen, da die Mehrheitsentscheidung für die „Weibsteufel“-Schauspieler schon stand.) Die Buh-Rufe am Ende des Preiskampfes sind daher für mich nur teilweise nachvollziehbar.

Das Verhalten aller auf der Bühne des Preiskampfes lässt sich vielleicht mit der besonderen Situation erklären. Die Diskussion live und vor laufenden Kameras auszutragen, war eine Neuerung. Es stellt sich also die Frage, ob die vier Jurymitglieder anders „gestritten“ hätten, wenn die Entscheidung nicht öffentlich ausgetragen worden wäre?

Die Entscheidung, wer den 3sat-Preis erhalten soll, wurde in nur 60 Minuten getroffen. Verständlicherweise bleibt da bei vielen Zuschauern ein ungutes Gefühl. Denn der Preis ist mit immerhin 10.000 Euro dotiert. Sollte eine solche Entscheidung nicht wohl überlegt und ohne Zeitdruck getroffen werden? Das teilweise doch sehr plötzliche Einlenken der Mitstreiter, geschah klar aus Gründen des Zeitdrucks und nicht weil, Peymann sie überzeugt hatte. Ich vermute, dass – wenn mehr Zeit gewesen wäre – Peymann sich auch mit Suchers Vorschlag (Annette Paulmann) einverstanden erklärt hätte, da er sich diesem von Anfang an nicht abgeneigt zeigte. Aber dafür war eben nicht genügend Zeit.

Interessant und spannend war die öffentliche Austragung einer Jurydiskussion in jedem Fall, doch ist schwer vorstellbar, dass eine Entscheidungsfindung im „stillen Kämmerlein“ ohne Publikum ähnlich verlaufen wäre.

Wäre es im übrigen nach dem Publikum gegangen, wäre Schlingensief der Gewinner gewesen, das machten die zahlreichen „Schlingensief“-Zwischenrufe deutlich. Aber der 3sat-Preis ist nun mal kein Publikumspreis.

12. Mai 2009

1. Berliner Theater-Tour

Sie hat nicht nur Spaß gemacht, sondern wir haben alle auch richtig viel gelernt – bei der 1. Berliner Theater-Tour.

Wer gerne ins Theater geht und darüber hinaus neugierig auf die Geschehnissen hinter den Kulissen ist, sollte Gelegenheiten nutzen, um immer Neues über das Theater zu erfahren. Das taten wir…

So trafen wir – 10 Theaterbegeisterte – uns am vergangenen Samstag im Theater am Schiffbauerdamm, um mit Herman Wündrich, Dramaturg am BE, über das Theater im Allgemeinen und seine Arbeit als Dramaturg im Speziellen zu sprechen. Eine Stunde, in der wir Herrn Wündrich alles fragen konnten, was uns in Bezug auf die Arbeit am Theater auf der Seele brannte, verging wie im Flug. Geduldig und freundlich stand uns Herr Wündrich Rede und Antwort. Ich denke, ich kann für meine Mitstreiter sprechen, wenn ich sage, dass wir aus dieser Stunde so viel an Informationen mitgenommen haben, wie es intensive Recherche im Internet und Studien der Tages- und Fachpresse kaum zu leisten vermögen.

Die anschließende Führung durch das Theater, die von Werner Riemann, dem dienstältesten Mitarbeiter des BE, durchgeführt wurde, machte die spannende Geschichte des Theaters am Schiffbauerdamm und des Berliner Ensembles im wahrsten Sinne des Wortes lebendig. Herr Riemann, der Brecht und Weigel noch persönlich kennen gelernt und mit ihnen gearbeitet hatte, gab zahlreiche Anekdoten aus über 50 Jahren BE zum Besten. Er führte uns auf, hinter und unter die Bühne, zeigte uns viel Räume und Winkel des berühmten Theaters und imitierte dabei immer wieder Helene Weigel und viele andere Theatergrößen mit einem hinreißenden Humor.

An dieser Stelle sei Herrn Wündrich und Herrn Riemann noch einmal herzlich für einen tollen und höchst informativen Nachmittag gedankt!

Und weil eine Theater-Tour ohne den Besuch eines Stückes keine richtige Theater-Tour ist, rundeten wir unseren Tag mit dem Besuch von „Gefährliche Liebschaften“ im Deutschen Theater ab. Diese Inszenierung wie auch den gesamten Tag diskutierten wir anschließend bis in die Nacht in der Bar des DT.

Fazit: Eine 2. Berliner Theater-Tour wird sicher folgen.
Wer das nächste mal dabei sein möchte, darf sich mit Wünschen und Vorschlägen gerne an mich wenden.

3. Mai 2009

Theatertreffen 2009: Theater ist Vergänglichkeit

Bei der heutigen Verleihung des Theaterpreises an Jürgen Gosch und Johannes Schütz im Rahmen des Theatertreffens bezeichnete der Laudator Roland Schimmelpfennig Theater als vergänglich, denn alles, was einmal auf die Bühne gebracht werde, verschwinde wieder. Gerade das sei es, was Theater so besonders mache.

Ich möchte diesen Gedankengang aufgreifen und etwas weiterführen…

Wir sind daran gewöhnt, alles, was wir im Fernsehen sehen, aufzeichnen zu können, uns Filme auf DVD auszuleihen oder Sendungen aus dem Internet downzuloaden. So können wir eine Filmszene beliebig oft sehen, wenn sie uns gefällt oder wir sie nicht verstanden haben. Wir können einen Film oder eine Aufzeichnung einer Sendung auch anhalten, wenn wir aus welchen Gründen auch immer eine Pause brauchen. Im Theater geht das nicht.

Sicher, manchmal werden Theaterstücke aufgezeichnet, so dass wir sie uns später bei ARTE oder 3sat ansehen können, aber das ist nicht das gleiche wie das Erlebnis einem Stück im Theater zu folgen und es mitzuerleben. Kameraführung und Schnitt geben bei einer Aufzeichnung in gewisser Weise vor, was der Zuschauer vor dem Bildschirm sieht. Auch fehlen die besondere Atmosphäre, die herrscht, wenn wir im Zuschauerraum sitzen und das Gefühl, das Erlebnis mit irgendwie Gleichgesinnten zu teilen.

Fernsehen und Kino ist duplizierbar, kann abgespeichert und jederzeit wieder abgerufen werden, und ist deswegen leider oft auch sehr beliebig. Sich hingegen ein Theaterstück anzusehen, ist immer ein einmaliges Erlebnis.

Selbstverständlich besteht auch die Möglichkeit, sich eine Inszenierung mehrmals anzusehen, es wird aber trotzdem jedes Mal etwas anderes sein, denn bei jeder Aufführung wird es kleine (wenn auch oft nur minimale) Abweichungen vom letzten mal geben. Auch kann es vorkommen, – z.B. bei Stücken, die sehr lange auf dem Spielplan stehen – dass Umbesetzungen vorgenommen werden, welche der Inszenierung eine neue Nuance verleihen können. Wer häufig ins Theater geht, wird bemerken, dass es Inszenierungen gibt, in denen die Schauspieler unterschiedlich auf die Zuschauer reagieren, z.B. in Szenen in denen das Publikum angesprochen bzw. miteinbezogen wird. Theater ist eben „live“, also echt und unmittelbar. Die Distanz zu dem, was vor unseren Augen abläuft, ist deswegen geringer. Auch die Tatsache, dass wir uns terminlich, nach dem Angebot und Spielplan eines Theaters richten müssen, spielt eine Rolle. Auf diese Weise entsteht keine Beliebigkeit.

Im besten Fall schärft Theater sogar unsere Sinne und wir lernen, richtig hinzusehen und -hören und damit zu verstehen. Während einer Aufführung ist die Aufmerksamkeit des Zuschauers sehr viel stärker gefragt als vor dem Bildschirm oder der Leinwand. Wenn wir etwas nicht verstanden haben, können wir das Stück nicht zurücklaufen lassen. Wenn uns eine Szene besonders gut gefallen hat, können wir sie uns nicht unmittelbar noch einmal ansehen. Wir können, das, was wir sehen, auch nicht anhalten, um eine Pause zu machen, sondern wir müssen dem Stück weiter folgen. Wir müssen zuhören und zusehen und aufpassen, dass wir nichts verpassen, damit wir begreifen, was uns gezeigt wird. Das macht das Erleben eines Theaterstücks viel intensiver als es ein Film oder eine Fernsehsendung zu leisten vermag.

Und – um die Worte von Roland Schimmelpfennig an dieser Stelle wieder aufzugreifen – irgendwann, auch wenn ein Stück über viele Jahre auf dem Spielplan eines Theaters steht, verschwindet es und wird nie wieder von einem Zuschauer gesehen werden. Es ist nicht reproduzierbar. „Theater ist Vergänglichkeit“, sagte Schimmelpfennig in seiner Laudatio. Genau das ist es, was das Erlebnis Theater so besonders und vor allem einzigartig macht.

26. April 2009

1. Lange Nacht der Opern und Theater

Wie plant man die Lange Nacht der Opern und Theater? Vor diese Frage sah ich mich gestellt als meine theaterinteressierten Freunde mich baten, doch eine Route für uns auszuarbeiten. Da es sich bei dieser Veranstaltung um eine Premiere handelte, konnte ich nicht mit Erfahrungswerten aufwarten. Recht machen kann man es sowieso nicht jedem - also stellte ich die Route ganz einfach nach meinen eigenen Vorlieben zusammen. Wichtig war, dass wir eine gute Mischung aus den großen Häusern und den kleinen Theatern haben würden.

Treffpunkt und Start: 18.30 Uhr am Bebelplatz. Wir: Sechs Berliner und ein Gast aus USA, aufgedreht und erwartungsfroh. Unseren ersten Programmpunkt, das BAT, an dem um 19.00 Uhr "aktuelle Arbeiten" gezeigt werden sollten, müssen wir leider direkt von der Liste streichen, da wir schon viel zu spät dran sind als wir um kurz vor sieben endgültig in den Bus steigen. Dieser braucht dann bis zum zweiten geplanten Ziel, der Volksbühne im Prater, eine gefühlte Ewigkeit. Wir entscheiden, ab jetzt auf die öffentlichen Verkehrsmittel umzusteigen, weil das wahrscheinlich schneller geht.

Um 20.00 Uhr sitzen wir vor einem glitzernden Blumenvorhang im Theatersaal des Praters und warten gespannt. Die Atmosphäre im Saal ist erfrischend locker. Ob das an dem Raum liegt (wir sitzen auf Holzbänken mit Blümchenkissen, man spürt und riecht geradezu, dass es sich um einen frisch renovierten Raum handelt, der noch etwas improvisiert wirkt)? Oder hängt es mit dem Event-Charakter des Abends zusammen? Sicher ist, dass es sich nicht um das gewohnte Volksbühnen-Publikum handelt; hier findet sich eine Mischung aus alteingesessenen Volksbühnen-Fans, Theater-Neulingen und Neugierigen. Es herrscht eine ungewohnte Unruhe im Saal. Und während noch weitere Zuschauer den Publikumsraum betreten, geht es auch schon los. Wir sehen einen halbstündigen Ausschnitt aus René Polleschs "Ein Chor irrt sich gewaltig". Auf der Bühne besticht vor allem Sophie Rois im schwarzen hochgeschlossenen Kleid und mit der gewohnt charmanten österreichischen Sprachfärbung. Die Gefechte, die sie verbal und körperlich mit dem in sehr bunten Kleidern gewandeten Chor, der wechselnde Figuren darstellt, austrägt, werden von den Zuschauern mit Zwischenapplaus belohnt. Wir bekommen eine Mischung aus Komödien-Elementen und Film-Motiven gespickt mit philosophisch-soziologischen Thesen ("Das Elend der Sexualität steckt nicht in ihrer Unterdrückung. Im Gegenteil, wir
sollen ja dauernd über Sex reden.") geboten. Das macht großen Spaß und Lust, das Stück bald komplett zu sehen. Fazit: Auftakt geglückt! Wir honorieren das mit Applaus und Bravo-Rufen.

Unser nächstes Ziel ist das "Theater unterm Dach". In diesem bezaubernden Haus, das ein wenig an eine Villa aus einem Märchen- oder Kinderfilm erinnert, wollen wir "Grete nach Goethes Faust" sehen, können aber leider nicht. Wir werden gemeinsam mit vielen anderen Besuchern weggeschickt, da der Raum schon voll besetzt ist. Schade!

Etwas enttäuscht beschließen wir umzudisponieren und machen uns direkt auf den Weg zur Schaubühne. Dort herrscht die gewohnt unprätentiöse Stimmung. Die Leute hier freuen sich einfach auf das Theater, müssen das aber deshalb nicht mit Kleidung, Habitus oder geschwollenen Reden dokumentieren. Herrlich! Ich liebe die Schaubühne! Wir freuen uns auf Szenen aus "Ein Sommernachtstraum" frei nach William Shakespeare (Regie: Thomas Ostermeier, Choreographie: Constanze Macras). Beinahe hätte man uns auch hier nicht reingelassen, doch die Damen am Einlass sind gnädig. Wir dürfen uns an den Rand stellen und auf die Treppen setzen. Doch zuerst müssen wir über die Bühne, um auf die andere Seite in den Zuschauerraum zu kommen. Die Schauspieler begrüßen
uns auf der Bühne zu einer Party und schenken uns Bowle aus. Die Elektro-Beats der dreiköpfigen Band dröhnen im Kopf. Die Darsteller tanzen orgiastisch auf der Bühne. Entspannt zurücklehnen kann und sollte man sich hier als Zuschauer nicht. Schauspieler Lars Eidinger stript und lässt anschließend seine Genitalien durch eine Maske zum Publikum sprechen ("Das ist das einzige Ziel, den Spaß euch auszumerzen"). Das ist der Moment, in dem bei vielen Zuschauern wohl ein unangenehmes Gefühl, vielleicht Scham, ausgelöst wird. Einige der älteren verlassen den Saal. Ob es an der Szene liegt oder ihnen einfach die Musik zu laut ist, sei dahingestellt. Wer hier einen "klassischen" Sommernachtstraum erwartet hatte, wurde sicherlich enttäuscht. Ruhig wird es erst als der Counter-Tenor Alex Nowitz seinen Einsatz hat. Die Mischung aus Tanz- und Sprechtheater mit Gesang ist eine gelungene Lesart des shakespearschen Sommernachtstraums. Als wir uns anschließend über das Gesehene austauschen fällt folgender Satz unseres amerikanischen Gastes: "This is what we in Amerika suppose German theater to be." Interessant! Scheinbar glaubt man in Amerika, dass das, was wir hier eben gesehen haben, auf deutschen Bühnen "normal" ist. Gerne würde ich dies bei Gelegenheit einmal nachprüfen.

In die Übersetzungs-Quizshow "Babelfish" im Studio der Schaubühne kommen wir dann zur Abwechslung erst mal nicht rein, weil wieder zu viel los. Wir warten eine Stunde in der Bar nebenan und schaffen es dann doch. Die Zuschauer müssen Zitate aus Literatur, Film und Politik, die zuvor mit der Übersetzungssoftware "Babelfish" in verschiedene Sprachen und dann wieder ins deutsche zurückübersetzt wurden, erraten. Die Lösung soll per Handy an die Schauspieler auf der Bühne durchgegeben werden, was nicht immer klappt, weil manchmal sofort die Mailbox anspringt. Spaß macht's trotzdem!

Mittlerweile ist es Mitternacht und wir fahren zum Admiralspalast, wo wir zum Glück nicht warten müssen, um eingelassen zu werden. Wir bekommen noch die letzten Songs der Band Cesarians mit. Die Musik mutet, so vertraut an, dass man bei jedem Lied glaubt, mitsingen zu können, doch das täuscht. Die Songs klingen wie eine Mischung aus Brecht/Weill, Waits, Cash, Musical u.v.a. und stimmen uns noch mal feierlich am Ende des Abends, der direkt übergeht in den tanzbaren Teil. Zwei DJs, einer von beiden Lars Eidinger, den wir heute schon einmal auf der Bühne gesehen haben, legen bis spät in die Nacht auf. Meinen Musikgeschmack trifft das, was von den Plattentellern kommt zu 100% - unmöglich die Tanzfläche zu verlassen. Und so wird es dann eine wirklich lange Nacht...

Fazit der 1. L.N.d.O.u.T.:
1. Mit der Entdeckung des Programms der kleinen Häuser hat es leider nicht ganz geklappt.
2. Um nicht die halbe Nacht im Bus zu verbringen, sollte man sich auf einen Bezirk konzentrieren. Wir haben letztlich nur drei Häuser geschafft, was dem Spaß aber keinen Abbruch getan hat.
3. Wer erwartet hat, sich durch die Veranstaltung einen guten Überblick über viele verschiedene Häuser schaffen zu können, wurde leider enttäuscht. Die Zeit dafür ist einfach zu kurz und die Spielstätten liegen zu weit auseinander.
4. Auf jeden Fall sollten sich die Veranstalter etwas einfallen lassen, damit die Besucher nicht permanent Schlange stehen müssen und dann doch nicht reinkommen (Zitat einer Dame in einer Warteschlange: "Habe ich mir jetzt ein Ticket für 12 Euro gekauft, um damit die ganze Nacht Bus zu fahren?")
. Vielleicht sollte beim nächsten Mal ein ganzer Tag oder sogar ein Wochenende eingeplant werden.
5. Was zählt ist das Gesamterlebnis. Alles in allem hat die L.N.d.O.u.T. großen Spaß gemacht! Ich freue mich auf's nächste Mal!