25. Mai 2017

Noch mal, aber anders: Re-re-usw.-visited "thisisitgirl" von Patrick Wengenroth (Schaubühne)

Als ich hörte, dass aufgrund eines krankheitsbedingten Ausfalls von Andreas Schröder seine Rolle in thisisitgirl von Patrick Wengenroth übernommen wurde, beschloss ich kurzfristig, das Stück noch einmal zu sehen. Die Inszenierung gehört zu meinen Lieblingen auf dem Spielplan. Dies war mein 5ter Besuch.

Da Patrick Wengenroth sowohl von der Physiognomie her, als auch bei Stimme, Dialekt und Sprachrhythmus ein ganz anderer Typ ist als Andreas Schröders, hat er die Rolle anders gespielt. Das hat den entsprechenden Szenen eine neue Note gegeben. Jedoch war der Unterschied erstaunlicherweise nicht so groß, wie ich es erwartet hätte. Einige Stellen - P.W. hat den Text übrigens weitestgehend und verständlicherweise eingelesen - wurden wohl auch inhaltlich etwas geändert, aber ich fragte mich doch jedes mal, ob und wo ein Unterschied zur Ur-Version besteht. Zumal das Stück auch davon lebt, dass vieles improvisiert wirkt bzw. wird.

Die Anfangsszene, in der Wengenroth normalerweise den Teppich auf der Bühne saugt, wurde übrigens von einem Mitarbeiter aus der Requisite übernommen. Er trat im glitzernden Pailettenkleid mit Federboa auf.

Noch etwas muss ich erwähnen: Noch nie zuvor ist mir aufgefallen, wie unterschiedlich Iris Becher, (die einzige weibliche Rolle) in diesem Stück je nach Szene spielt: Mal wirkt sie ganz jung (wie ein Mädchen), mal total erwachsen, mal hysterisch-verrückt, mal ganz entschlossen. Und alle "Typen" sieht man ihr jedesmal intensiv am Gesichtsausdruck an. Was für eine tolle Schauspielerin!

Iris Becher mit Ulrich Hoppe (Foto: Gianmarco Bresadola)
"thisisitgirl" Iris Becher (Foto: Gianmarco Bresadola)

21. Mai 2017

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 18: Mobbing im Klinikum - Ein Ärztestück ("Professor Bernhardi" in der Schaubühne)

Max Penthollow schreibt mir...

Liebe Maren,

vor kurzem war ich in der Schaubühne bei "Professor Bernhardi" von Arthur Schnitzler.

Hier sind einige von meinen Eindrücken:

"Professor Bernhardi" von Arthur Schnitzler - Fassung von Thomas Ostermeier und Florian Borchmeyer - Regie: Thomas Ostermeier - Premiere am 17. Dezember 2016

Wien um 1900, Elisabethinum, Privatklinik. Professor Bernhardi ist Chefarzt einer klinischen Abteilung, und Ärztlicher Leiter des Hauses, Jude.

Der Tod einer jungen Patientin während eines sie betreffenden Disputs zwischen Pfarrer Reder und Professor Bernhardi ist der Auftakt zum Stück.

Es geht im einzelnen so: ein 18jähriges Mädchen hat nach einer verbotenen Abtreibung eine Sepsis und ist todgeweiht. Ihr Leben ist auch mit aller ärztlichen Kunst nicht mehr zu retten. Sie ist euphorisch und hat Phantasien, dass jemand sie abholen wird.

Hochroitzpointner (Moritz Gottwald), Kandidat der Medizin und superschlau ("die macht's nicht mehr lange!"), hat den Priester rufen lassen. Pfarrer Franz Reder (Laurenz Laufenberg) will der Patientin, die nichts von ihrem bevorstehenden Tod ahnt, die Sterbesakramente spenden, er will sie – Christin – von ihren Sünden freisprechen und sie mit Gott vereinen und ihre Seele der Erlösung und dem Ewigen Leben zuführen. Professor Bernhardi (Jörg Hartmann) kommt zur Szene hinzu und versucht, Pfarrer Reder von seinem Vorhaben abzuhalten, in der Absicht, die junge Patientin in ihrer glücklich-euphorischen Gefühlslage in Frieden sterben zu lassen und sie nicht mit der Schreckensnachricht ihres herannahenden Todes zu peinigen. Professor Bernhardi und der Pfarrer Reder diskutieren, währenddessen stirbt die junge Patientin.

Für Professor Bernhardis teilweise judenfeindliche und selbst karriere-affine Kollegen ist dieses Ereignis ein willkommener Anlass, um gegen Professor Bernhardi einen Skandal zu konstruieren. Professor Bernhardi wird in der Folge wegen Behinderung der Religionsausübung zu einer zweimonatigen Haftstrafe verurteilt und muss ins Gefängnis und verliert seine Berufserlaubnis. Seine Stelle wird frei.

Arthur Schnitzler (1862-1931), selbst Arzt und Jude, hat das Stück 1912 geschrieben, 21 Jahre vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 mit den bekannten Konsequenzen.


Das Ärztekollegium tagt - Robert Beyer, Veronika Bachfischer, Lukas Turtur, Eva Meckbach, Thomas Bading, Jörg Hartmann, Sebastian Schwarz, David Ruland, Konrad Singer (Foto: Arno Declair)

Auf der klinisch weißen Bühne spielen 15 Darsteller und Darstellerinnen des Ärztekollegiums und weiteren Krankenhauspersonals und dazu Politiker, 17 Rollen - 17 Hauptrollen. Aus meiner Sicht ist es ein schönes Ensemble-Theater in einer nuancenreichen Inszenierung mit fesselnder Bühnengestaltung mit ausgeklügelter Videoarbeit und mit hervorragendem lustvollem und unterhaltsamem Spiel aller Darsteller und Darstellerinnen.

In der Darstellung der Vehemenz und Besessenheit, mit der Menschen - unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen - in Gruppen oder in Massen auf andere Menschen oder Menschengruppen losgehen, um sie zu zerstören und zu vernichten, ist das Stück aus meiner Sicht zeitlos, immer aktuell und seine Botschaft allgemein gültig.

Ich finde: so präzise und dezent in der Darstellung, so verstörend und vernichtend in der Konsequenz! Finsterst und so realistisch!

Ein wichtiges Stück und ein munterer und unterhaltsamer Theaterabend!

Ich empfehle: hingehen und das böse Spiel genießen! Die Vorstellungen sind immer schnell ausverkauft!

Allerliebst

Max

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Regie: Thomas Ostermeier   
Bühne: Jan Pappelbaum   
Kostüme: Nina Wetzel   
Musik: Malte Beckenbach   
Ko-Komposition: Simon James Phillips
Bildregie: Matthias Schellenberg
Kamera: Moritz von Dungern, Joseph Campbell, Florian Baumgarten
Videodesign: Jake Witlen   
Dramaturgie: Florian Borchmeyer   
Licht: Erich Schneider   
Wandzeichnungen: Katharina Ziemke

Dr. Bernhardi: Jörg Hartmann   
Dr. Ebenwald: Sebastian Schwarz   
Dr. Cyprian: Thomas Bading   
Dr. Pflugfelder: Robert Beyer   
Dr. Filitz: Konrad Singer   
Dr. Tugendvetter: Johannes Flaschberger   
Dr. Löwenstein: Lukas Turtur   
Dr. Schreimann/Kulka, ein Journalist: David Ruland   
Dr. Adler: Eva Meckbach   
Dr. Oskar Bernhardi: Damir Avdic   
Dr. Wenger/Krankenschwester: Veronika Bachfischer   
Hochroitzpointner: Moritz Gottwald   
Professor Dr. Flint: Hans-Jochen Wagner   
Ministerialrat Dr. Winkler: Christoph Gawenda   
Franz Reder, Pfarrer: Laurenz Laufenberg   

Dauer: ca. 165 Minuten


Weitere Infos auf der Seite der Schaubühne.

12. Mai 2017

FIND 2017 - Beziehungen und Trennungen (Rückblick Tag 9-11)

Finale beim FIND. In den letzten drei Tagen habe ich noch einmal Produktionen gesehen, die sowohl inhaltlich als auch formal sehr unterschiedlich sind.


7.4.2017. LOS INCONTADOS – Anatomía de la violencia en Colombia: un tríptico von Mapa Teatro (Bogotá)

Ein Karneval der Skurrilitäten. Eine Kinder-Marching-Band beginnt und beschließt diesen verrückten und ziemlich wirren Abend. Während das Bühnenbild immer weiter mit Requisiten, Pflanzen, Glitzerluftschlangen und Luftballons gefüllt wird und sich dadurch mehrmals verändert, wird ein Stück kolumbianische Geschichte erzählt. Drei ineinander geschachtelte Bühnenbilder, drei phantastische Mikrokosmen. LOS INCONTADOS - DIE UNERZÄHLTEN macht sichtbar, was in den letzten 50 Jahren in Kolumbien passierte: Ein langer Krieg. Die surrealen Bilder werden in den drei Teilen miteinander verbunden und zeigen eine Vision der lateinamerikanischen Demokratien seit Ende des Zweiten Weltkriegs. - Ein anstrengendes Stück, bei dem sich mir vieles nicht erschließt. Mit besseren Kenntnisse über das Land und die Geschichte Kolumbiens, hätte ich sicher mehr verstanden.

Das kolumbianische Kollektiv Mapa Teatro wurde 1984 in Paris von den Geschwistern Rolf, Heidi und Elizabeth Abderhalden gegründet. Es gehört seit mehr als 30 Jahren zu den bedeutendsten Theaterformationen Lateinamerikas. Mapa Teatro nutzt verschiedene Kunstformen (Theater, Musik, Video uvm.) und verbindet diese zu einem Gesamtkunstwerk.


"LOS INCONTADOS - Anatomía de la violencia en Colombia: un tríptico" von Mapa Teatro, Konzept und Regie: Heidi und Rolf Abderhalden (Foto: Mauricio Esguerra)
 
Koproduktion: Mapa Teatro, Iberescena, Festival Iberoamericano de Teatro de Bogotá und Prod.Art.Br, Europäisches Touring: Camille Barnaud, Ximena Vargas In Zusammenarbeit mit dem ¡Adelante! Festival des Theater Heidelberg.

Konzept, Dramaturgie und Regie: Heidi und Rolf Abderhalden
Musik und Sounddesign: Juan Ernesto Díaz
Visual Design: Heidi und Rolf Abderhalden
Kostüm: Elizabeth Abderhalden
Bühne: Pierre Henri Magnin
Video: Luis Antonio Delgado
Live Video: Ximena Vargas

Mit: Heidi Abderhalden, Agnes Brekke, Andrés Castañeda, Julián Díaz, Jeihhco, Danilo Jiménez, Santiago Nemirowski, Santiago Sepúlveda mit der Mapa Teatro Kinderkapelle: Lesly Ramírez, Melanie Ramírez, Sofía Rodríguez, Mariana Saavedra, Darío Sinisterra, Sebastián Zúñiga

Dauer: ca. 70 Minuten

Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Theatre that Lies to Tell the Truth (with an appearance by Pablo Escobar)


8.4.2017 From here I will build everything von Cédric Eeckhout

Die kurze Show des belgischen Schauspielers Cédric Eeckhout vor Mitternacht am vorletzen Tag des FIND ist eine kleine aber sehr unterhaltsame Performance, in der auch seine Mutter mitspielt (sie bereitet belgische Pommes zu, die am Schluss mit einem Zuschauer verzehrt werden). "My mother is Wallonian and my father is Flemish. They divorced in 1982. Ich bin en Europäisch produit. And I am in crisis. Just like Europe" erklärt er am Anfang. Er zieht Parallelen zwischen seiner eigenen Familiengeschichte und der Geschichte Europas (Scheidung / zerfallende EU). Vieles erinnert an die Autorenklubs von Patrick Wengenroth. Das merkt man auch am Publikum: Viele bekannte Gesichter - man fühlt sich wie in der Familie oder im Freundeskreis.

Die Inszenierung entstand beim Festival XS 2017 des Théâtre National de la communauté francaise de Belgique, Brüssel. Dank an: Théâtre de Vidy-Lausanne, La comédie de Reims, Le théâtre de la Criée à Marseille und Lieu Unique à Nantes.

Text und Regie: Cédric Eeckhout in Zusammenarbeit mit Douglas Grauwels
Dramaturgie: Nils Haarmann
Bühne und Kostüm: Frédérik Denis, Laurence Hermant
Beratung: Andrea Romano

Mit: Cédric Eeckhout, Douglas Grauwels, Jo Libertiaux

Dauer: ca. 25 Minuten


9.4.2017 Please Excuse My Dear Aunt Sally von Kevin Armento

Diese Geschichte wird aus der Sicht eines Handys erzählt. In der szenischen Lesung leihen Laurenz Laufenberg, Stephanie Eidt und Kay Bartholomäus Schulze, dem Erzähler ihre Stimmen. Ein Schüler verliebt sich in seine Lehrerin und beginnt mit ihr eine Beziehung. Zeuge dieser Verbindung ist das Handy, das mittles Fotos und Textnachrichten den Verlauf der Geschichte nachhalten kann. Mal witzig, mal hektisch, mal empört und mal (scheinbar) überlegen offenbart das Handy den Zuschauer*innen dieses Stücks, was sich zwischen den beiden Protagonist*innen abspielt und wie sich die Gefühle entwickeln. Der US-amerikanische Autor Kevin Armento erzählt in rasantem Tempo von der illusorischen Natur elektronischer Verbindungen und der Gefahr der Vereinzelung im Zeitalter digitaler Liebe. Die Schauspieler*innen der Schaubühne lesen und stehen schwarz gekleidet auf einer schwarzen Fläche mit Neon-Leuchtstreifen, sie sind die Inkarnation des Handy-Erzählers. Spannend ist diese Geschichte und Dank des hervorrangenden Vortrags mit den ausgezeichneten Stimmen ein großer Spaß beim Zuhören (und Zusehen).
Mein Wunsch: Mehr Darbietungen dieser Art beim nächsten FIND!

Laurenz Laufenberg, Kay Bartholomäus Schulze und Stephanie Eidt in »Please Excuse My Dear Aunt Sally« von Kevin Armento, Regie: Christoph Buchegger (Foto: Gianmarco Bresadola)

Regie: Christoph Buchegger
Aus dem Englischen von Theresa Schlesinger
Bühne: Emilie Cognard   
Kostüme: Anna Kurz

Mit: Stephanie Eidt, Laurenz Laufenberg, Kay Bartholomäus Schulze   

Dauer: ca. 60 Minuten


9.4.2017 Democracy in America von Romeo Castellucci (Cesena)
frei nach dem Buch von Alexis de Tocqueville

Es ist nicht unüblich, dass bei den Stücken von Romeo Castellucci das Performative mit philosphischen Gedanken verknüpft wird. In dieser Inszenierung greift er einen Text von Tocqueville auf, in dem ein neues Modell repräsentativer Demokratie beschrieben und auf deren Gefahren hingewiesen wird (Tyrannei der Mehrheit, Schwächung intellektueller Freiheit angesichts populistischer Rhetorik und die zweifelhafte Beziehung zwischen den Interessen der Gemeinschaft und individuellen Ansprüchen). Hinter einem Gaze-Vorhang tanzen Frauen und bilden aus den Buchstaben des Begriffe "Democray in America", die auf Fahnen genäht wurden, neue Begriffe; zwei Ureinwohner unterhalten sich, ebenso wie ein Paar. Etwas langatmig ist die gut zweistündige Vorstellung, optisch ist sie jedoch wie immer bei Castellucci ansprechend.

"Democracy in America" von Romeo Castellucci (Foto: Gianmarco Bresadola)

Produktion: Socìetas – Cesena Koproduktion: deSingel International Artcampus, Wiener Festwochen, Festival Printemps des Comédiens à Montpellier, National Taichung Theatre in Taichung (Taiwan), Holland Festival Amsterdam, Schaubühne Berlin, Festival d’Automne à Paris mit MC93 Maison de la Culture de Seine-Saint-Denis à Bobigny, Le Manège – Scène nationale de Maubeuge, Teatro Arriaga Antzokia de Bilbao, São Luiz Teatro Municipal (Lissabon), Peak Performances Montclair State University (NJ-USA).
Unter Beteiligung von: Théâtre de Vidy-Lausanne und Athens and Epidaurus Festival.

Regie, Bühne, Licht, Kostüme: Romeo Castellucci   
Text: Claudia Castellucci / Romeo Castellucci   
Musik: Scott Gibbons
Korrepition: Evelin Facchini
Regieassistenz: Maria Vittoria Bellingeri
Skulpturen auf der Bühne und Mechanismen: Istvan Zimmermann und Giovanna Amoroso

Mit: Olivia Corsini, Giulia Perelli, Gloria Dorliguzzo, Evelin Facchini, Stefania Tansini, Sofia Danai Vorvila
Tänzerinnen: Virág Arany, Emmanouela Dolianiti, Michèle Even, Lisanne Goodhue, Claudia Greco, Rosabel Huguet, Raisa Kröger, Elia López, Tatiana Mejia, Sofie Roels, Roberta Ruggerio, Elisabeth Ward

Choreographie inspiriert von Folkloretraditionen aus Albanien, Botswana, England, Ungarn, Sardinien.

Dauer: ca. 135 Minuten

Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: What’s Gone Wrong in America? A Conversation with Romeo Castellucci