30. Dezember 2015

Rückblick September bis Dezember 2015: Das Theater greift aktuelle Themen auf

Die erste Hälfte der Spielzeit 2015/16 hat uns viele große und kleine Highlights sowie einige Stücke, die ich wieder und wieder sehen möchte, geboten. Über einige Premieren an der Schaubühne habe ich geschrieben. Viele Eindrücke hat Max mit seinen Texten beigesteuert, dem ich an dieser Stelle herzlich für seine Beiträge danke. So ist auf meinem Blog wieder etwas mehr passiert in den letzten Wochen. Besonderen Spaß hat der Blogbeitrag gemacht, den ich mit Max gemeinsam nach dem Besuch von Interrobang geschrieben habe. Ich freue mich auf weitere tolle Theater-Erlebnisse mit Max genauso wie auf seine Blogbeiträge.


Einige Themen haben die Spielzeit bisher besonders geprägt und spiegeln gleichzeitig aktuelle und brisante gesellschaftliche Themen wider: Angst und Fremdenfeindlichkeit ebenso wie Flucht spielten und spielen eine zentrale Rolle. An Falk Richters FEAR kam in den letzten Wochen kaum jemand vorbei. Nicht nur die Drohungen gegen den Regisseur und die Schaubühne, sondern auch der Gerichtsprozess um die Inszenierung, bei der es um die Zensur von Kunst ging, wurden von vielen Medien besprochen (z.B. Peter Laudenbach in der SZ vom 15.12.2015 "Recht auf Angst").

Daneben schreibt die Schaubühne das Thema Feminismus in dieser Spielzeit mit zwei Inszenierungen (thisisitgirl von Patrick Wengenroth und istgleich von der Werkstattgruppe der Schaubühne) groß. Zusätzlich wurde das Thema in Heinz Budes "Streit ums Politische" diskutiert.

Das zentrale Motiv in Ungeduld des Herzens von Simon McBurney nach dem Roman von Stefan Zweig wird titelgebend auch Anfang des kommenden Jahres eine Rolle spielen, in Milo Raus Stück Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs (Premiere am 16. Januar 2016 an der Schaubühne).


Laurenz Laufenberg und Christoph Gawenda als Hofmiller in "Ungeduld des Herzens" (Foto: Gianmarco Bresadola)

Hier mein Rückblick auf die Monate September bis Dezember 2015.

SEPTEMBER

07.09. Ghosts von Constanza Macras (Schaubühne)
Ein schöner Start nach der Sommerpause - hier zum Nachlesen.

16.09. PREMIERE thisisitgirl von Patrick Wengenroth (Schaubühne)
Ein Stück über Frauen und Frauenfragen... Feminismus: eines der dominierenden Themen an der Schaubühne zur Zeit - hier mein Artikel zur Premiere.

 

OKTOBER

02.10. PREMIERE Westberlin von Rainald Grebe (Schaubühne)
Es beginnt mit einer Abhandlung über die "beste" Berliner Currywurst, die es dann auch in einem Wagen vor dem Theater zu kaufen gibt. Es folgt ein bunter, amüsanter Ritt durch die Geschichte West-Berlins von 1949 bis 1989. Ein Revue vieler Berliner Typen und Promis sowie typische Eigenarten, die es so nur in Berlin gegeben hat. Damals wie heute gilt: Wer wo hingeht und welche Bars, Clubs und Veranstaltungen man besucht, ist wichtig. Bei der Schreibweise im Titel handelt es sich übrigens um die in Ost-Berlin gebräuchliche.

Marie Burchard und Evelyn Gundlach in "Westberlin" (Foto: Gianmarco Bresadola)


16.10. Freunde der Schaubühne: Freunde treffen Künstler - Ein Abend mit der Schauspielerin Jenny König
Jenny folgte gerne unserer Einladung und erzählte uns aus ihrem Leben als Schauspielerin (Infos zu JK hier). Wir hörten ihr gerne zu. Ein Bericht dazu auf der Seite der Freunde der Schaubühne.

25.10. PREMIERE FEAR von Falk Richter (Schaubühne)
Mit dieser Inszenierung ging es bis vors Gericht. Zwei der im Stück erwähnten Personen wollten Zensur üben - bisher zum Glück ohne Erfolg. Mein Bericht zur Premiere hier und eine kurze Zusammenfassungen der Ereignisse, nachdem der Schaubühne und Regisseur Falk Richter massiv gedroht wurde.

26.10. Streit ums Politische: Antikapitalismus »Queer Trans Pop PoC Xeno? Postkapitalistischer Feminismus« (Schaubühne)
Der Soziologe Heinz Bude und Sonja Eismann, Herausgeberin des Missy-Magazins, sprachen darüber, welche Verläufe die Begriffsgeschichte des Feminismus in den letzten Jahren genommen hat, wo aktuell die spannendsten Auseinandersetzungen stattfinden und wo heute noch radikal emanzipatorische Potentiale angesiedelt sein könnten. Infos über weitere Veranstaltungen der Reihe hier.

27.10. Freunde der Schaubühne: Freunde diskutieren - Ein Abend mit Bernd Stegemann
Die Nachfolgeregelung für die Volksbühne durch den Kultursenator Müller und seinen Staatssekretär Tim Renner hat die theaterinteressierte Öffentlichkeit überrascht und eine heftige Debatte in Gang gesetzt und die Frage nach der Form des Theaters aufgeworfen. Mit dem Dramaturgen Bernd Stegemann diskutierte ein interessierter Kreis über das Ensembletheater versus Kuratoriumstheater.

30.10. To like or not to like von Interrobang (Sophiensäle)
Der Text, den Max und ich gemeinsam über den Abend verfasst haben, findet sich hier.


NOVEMBER       

02.11. Der geteilte Himmel von Armin Petras nach Motiven der Erzählung von Christa Wolff (Schaubühne)
Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Gründungsjahre der DDR mit Jule Böwe, Tilmann Strauß und Kay Bartholomäus Schulze. Die Schauspieler/innen agieren auf einer Art Laufsteg, der den Bühnenraum teilt, die Zuschauer sitzen auf beiden Seiten der Bühne. Viele Szenen werden im Off gespielt und dabei auf eine Leinwand in den Zuschauerraum übertragen. Mehr zum Stück hier.

Jule Böwe in "Der geteilte Himmel" (Foto: Dorothea Tuch)


08.11. thisisitgirl (Schaubühne) re-visited
Auch beim zweiten mal: Tolles Stück!

16.11. Jugend. Erinnerung 1945/2015 vom Jungen DT (Deutsches Theater)
Jugendliche aus Deutschland, Polen und Russland reisen nach Krakau, Wolgograd und Berlin. Sie wollen wissen, was Jugendliche vor 70 Jahren dort erlebt haben. Im Stück des Jungen DT geht es um neue Rituale des Gedenkens. Die 18 Jugendlichen spielen, tanzen, singen und nehmen Bezug auf aktuelle Geschehnisse wie den Krieg in Syrien. Infos zum Stück hier.

22.11. Hamlet - 250. Vorstellung (Schaubühne)
Insgesamt fünf mal habe ich die Inszenierung bereits gesehen, allerdings das erste mal mit Jenny König als Ophelia/Gertrud. Auch diesmal und natürlich für das Jubiläumspublikum hielt Lars Eidinger wieder einige improvisierte Situationen bereit. Ungeplant ist das Loch im Bühnenboden, das während der Vorstellung repariert werden musste. Dass das augerechnet beim Hamlet passierte, war natürlich fast schon eine Steilvorlage für LE. Besonders ist mir diesmal Urs Jucker aufgefallen, der die Rolle des Claudius spielt. Großartiger Schauspieler! Das habe ich auch schon in meinem Beitrag über Tartuffe befunden. Ansonsten war der Abend für mich natürlich auch eine "Vorbereitung" auf Ophelias Zimmer von Katie Mitchell, die sich damit auseinandersetzte, was geschieht, wenn Ophelia (Jenny König) nicht auf der Bühne ist. Ein Beitrag über die 250. Vorstellung von Hamlet von Gastbloggerin Anna folgt in Kürze.


DEZEMBER    
       
06.12. Streitraum Extra: Lesung zum Thema Flucht (Schaubühne)
Schauspieler/innen, Autor/innen und der Künstlerische Leiter der Schaubühne lasen im Rahmen dieser Benefizveranstaltung eigene und fremde Texte, um Geld für PRO ASYL und professionellen Rechtsschutz für Flüchtlinge zu sammeln. Mein Bericht dazu hier.

08.12. PREMIERE Ophelias Zimmer von Katie Mitchell (Schaubühne)
Bendruckendes und gleichzeitig beklemmendes Kunstwerk der britischen Regisseurin Katie Mitchell mit Jenny König als Ophelia. Ich habe meine Eindrücke hier geschildert und Max schreibt hier

13.12. istgleich von der Werkstattgruppe der Schaubühne
Ebenfalls mit dem Thema Feminismus hat sich die Werkstattgruppe der Schaubühne unter der Leitung von Philipp Rost auseinandergesetzt. Ein Spiel mit Konstruktionen, Erfahrungen und Gedanken. Infos zum Stück gibt's hier.

Die Werkstattgruppe der Schaubühne mit "istgleich" (Foto: Silke Briel)

19.12. Voraufführung Ungeduld des Herzens von Simon McBurney nach dem Roman von Stefan Zweig (Schaubühne)
Einer der Höhepunkte der bisherigen Spielzeit. Der britische Schauspieler, Regisseur und Mitbegründer von Complicite entwickelte eine Bühnenfassung von Stefan Zweigs einzigem Roman über die Frage, was wahres Mitleid ist. Dafür arbeitete er das erste mal mit einem deutschen Schauspiel-Ensemble und nutzte Klang und Video. Die Schauspieler/innen sprechen ihre Texte in Mikrophone, wechseln dabei die Rollen und erzeugen ein großes, eindrucksvolles Gesamtkunstwerk. Ich werde dazu noch einen Beitrag verfassen. Infos zum Stück gibt es hier.
Weitere Termine für das Stück:
14.01.2016
15.01.2016
16.01.2016
17.01.2016
11.02.2016
12.02.2016
13.02.2016
14.02.2016

Einen guten Start ins Theaterjahr 2016!

14. Dezember 2015

Blumen, Kleider, High Heels: Premiere "Ophelias Zimmer" von Katie Mitchell (Schaubühne)

Jenny König als Ophelia (Foto: Gianmarco Bresadola)

Eine ganz und gar beklemmende Inszenierung ist "Ophelias Zimmer" von Katie Mitchell. Die Dunkelheit, die Musik, die Geräusche drohend, quälende Monotonie. Zunächst strengen mich die ständigen Wiederholungen an und nerven sogar ein bisschen, aber dann wird mir die Figur dort auf der Bühne immer näher. Freilich ist Ophelia (Jenny König) hier das Opfer, so hat Shakespeare die Figur ja angelegt. Viele hatten etwas anderes erwartet von der Feministin Mitchell - so äußern sich die Freund/innen und Bekannten, die ich im Theater nach der Premiere spreche: Vielleicht eine Frau, die sich in ihrem Zimmer irgendwie versucht zu wehren gegen die Männer, gegen die Bevormundung, gegen die unangenehmen Liebes- und Lustbekundungen von Hamlet, gegen ihre Rolle, die ihr auch von der Mutter (Stimme aus dem Off von Jule Böwe) vorgeschrieben wird. Das tut sie in "Ophelias Zimmer" nicht. Sie bleibt und wird eingesperrt, gefangen in den immer gleichen Handlungen und im sich ständig wiederholenden Tagesablauf (Tee trinken, sticken, lesen, kurz mal an die frische Luft - was Frau halt so darf), mit Pillen vollgestopft. Verabreicht werden die Medikamente von einem "Bewacher" (Ulrich Hoppe), der nicht mal handgreiflich werden muss, damit sie diese schluckt, es reicht der Tonfall, der Befehl.

Liebesbekundungen von Hamlet auf Kassette (Foto: Gianmarco Bresadola

Trotzdem oder gerade deswegen ist das Stück großartig. Natürlich nicht, weil man mit Ophelia resignieren möchte. Sondern weil man sich bei allem eigenen feministischen Getue hin und wieder vor Augen führen lassen muss, dass nicht der bloße Wille reicht, sondern oft auch die Umstände Selbstbestimmtsein verhindern. Man möchte Ophelia/Jenny König trösten, wenn sie weinend auf ihrem Stuhl sitzt während Hamlet (Renato Schuch) seinen Affentanz aufführt (ein Anspielung auf Lars Eidinger als Hamlet in der Ostermeier-Inszenierung?). Die über ein Dutzend Kleider, die sie im Stück übereinander anzieht, erzeugen Assoziationen: Schutzpanzer, aber auch Zwangsjacke, der aufgedunsene Körper, der bald schon im Wasser treiben wird. Im übrigen werden ihr auch diverse Kleider vom Dienstmädchen angezogen (!), dazu High Heels (männliche Wunschvorstellung von Weiblichkeit), einmal sogar in rot, und immer wieder Blumen ("Blumen sind für Tote"). Die zweite Frau im Stück als Verbündete der Männer. Interessanterweise gespielt von Iris Becher, die in Patrick Wengenroths "thisisitgirl" eine ganz andere Frauenrolle verkörpert.

Sie weint, er tanzt (Foto: Gianmarco Bresadola)

Die Beschreibung der fünf Phasen des Ertrinkens, dazu das von Wasser geflutete Zimmer am Ende des Stückes, Bedrohung von allen Seiten, der Mädchenkram - die Blumen und Schuhe - treiben im Wasser vor sich hin. Und doch ertrinkt Ophelia nicht einfach, sondern sie nimmt sich - quasi als einzige selbstbestimmte Handlung - das Leben, indem sie sich die Kehle aufschneidet. Da fühlt man sich natürlich sofort an "Fräulein Julie" erinnert, eine andere großartige Inszenierung von Katie Mitchell (wobei Julie noch auf Jeans Empfehlung handelt).

Bedrohung Wasser (Foto: Gianmarco Bresadola)

Jenny König, eine Schauspielerin, die immer wieder von Neuem überzeugt, leistet hier Großartiges. Und natürlich stellt sich die Frage, inwiefern die Zuschauer/innen ihre Ophelia in Ostermeiers Hamlet-Inszenierung nun mit anderen Augen sehen und ob sich das Gesamtbild dieser Rolle verändern wird.

Für mich eine der besten Inszenierungen in dieser Spielzeit bisher!
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Koproduktion mit dem Royal Court Theatre London.

Text: Alice Birch  
Regie: Katie Mitchell  
Bühne und Kostüme: Chloe Lamford  
Sounddesign: Max Pappenheim
Dramaturgie: Nils Haarmann  
Lichtdesign: Fabiana Piccioli
Mitarbeit Regie: Lily McLeish

Mit: Iris Becher, Ulrich Hoppe, Jenny König, Renato Schuch  

Die Texte von Ophelias Mutter wurden eingesprochen von: Jule Böwe  

Statisten: Oliver Herbst / Mario Kutz

Dauer: ca. 120 Minuten

Weitere Infos Zum Stück & Probentrailer mit Erläuterungen von Katie Mitchell auf der Seite der Schaubühne.

Leseempfehlung: Der Text "Das 'poetischste' aller Themen" von Elisabeth Bronfen über die "schöne" Frauenleiche und die Misogynie E.A. Poes, der in seinem Essay "The Philosophy of Composition" die sterbende Frau ästhetisiert  (im Programmheft zu "Ophelias Zimmer").

Gunda Bartels vom Tagesspiegel hat Jenny König zu ihrer Rolle in "Ophelias Zimmer" und der als Gertrud/Ophelia in Thomas Ostermeiers Hamlet-Inszenierung interviewt - Die Schauspielerin Jenny König: Die Untergeherin (tagesspiegel.de am 8.12.2015)

Max Penthollow schrieb mir bereits vor ein paar Tagen.

11. Dezember 2015

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 11: Tod im Wasser ("Ophelias Zimmer" an der Schaubühne)

Max Penthollow schreibt mir...

Liebe Maren,

am 08.12.2015 (Premiere) und 09.12.2015 war ich in der Schaubühne in „Ophelias Zimmer“. Ich fand’s toll! „Ophelias Zimmer“  - Shakespeares „Hamlet“ aus Ophelias Sicht

Hier ist mein Bericht: 

„Ophelias Zimmer“ – Alice Birch – Regie: Katie Mitchell – Schaubühne – Premiere am 8. Dezember 2015, 20:00 Uhr

Der Schlüssel zu „Ophelias Zimmer“ ist bei Shakespeares „Hamlet“.

Was macht Ophelia in ihrem Zimmer? (Foto: Gianmarco Bresadola)

1. Hamlet
Hamlet, Kronprinz von Dänemark, hat jede Menge Schwierigkeiten mit seiner königlichen Familie und mit der Familie seiner Freundin Ophelia, sucht Zuflucht im Wahnsinn und steht schwere Zeiten und Krisen durch. Am Ende des Stücks sind alle Vertreter der beiden Familien tot, einschließlich Hamlet und Ophelia. Hamlets Frage ist: Sein oder nicht sein?!

2. Ophelia
Ophelia ist Hamlets Freundin. Sie ist die Tochter des Hofangestellten Polonius und die kleine Schwester von Laertes. Aus Polonius‘ Sicht wird Ophelia von Hamlet nur ausgenutzt und macht ihn selbst, Polonius, „zum Idioten“. Vater Polonius verbietet Ophelia jeglichen Umgang mit Hamlet.

„Ophelias Zimmer“ macht einen Perspektivwechsel und betrachtet die Dinge aus Ophelias Sicht während einer Theater-Aufführung von „Hamlet“. Der zeitliche Ablauf von „Ophelias Zimmer“ bezieht sich von Anfang bis Ende minutiös auf „Hamlet“.


Ophelia unterliegt (Foto: Gianmarco Bresadola)
Ophelia wird bevormundet, unterdrückt, ihre bescheidenen Wünsche werden abgelehnt, ihr Vater Polonius verbietet ihr nach draußen zu gehen (Dienstmädchen: „heute nicht!“). Ophelia ist in ihrem Zimmer und hat praktisch keine Kontakte nach draußen, Hamlets Briefe schickt sie entsprechend der Anweisung von ihrem Vater Polonius zurück. Sie bekommt immer wieder Blumen ins Zimmer.

Ophelia ist Verliererin, Benachteiligte, Unterlegene, Opfer. Sie hat kaum etwas eigenes, und was sie hat (z.B. Hamlets Briefe), das wird ihr weggenommen, andere Menschen dringen rücksichtslos in ihr Zimmer und in ihr Leben ein. Ophelia wird wahnsinnig. Ophelia ist allen egal. Sie arbeitet an einer Stickerei mit dem Text: „Leben ist    “.

Einmal kommt Hamlet Ophelia in ihrem Zimmer besuchen, er fasst sie hart an und schreit sie an (8. Szene (bzw. 3. Akt, 1. Szene) in „Hamlet“) und führt in ihrem Zimmer einen autistischen Tanz zu rhythmusstarker Disco-Musik auf: Love Will Tear Us Apart (Joy Division). Ophelia sitzt und weint.

Besuch von Hamlet (Foto: Gianmarco Bresadola)


In fortschreitender Vereinsamung und in zunehmendem Wahnsinn vollzieht Ophelia in ihrem kleinen Zimmer immer dieselben Rituale von Bewegungsmustern. Sie sagt: „ich will Laertes sehen! Ich will Hamlet sehen! – Kommt jemand?“

Niemand kommt. Ophelia stirbt schließlich im Wasser. 

3. Ophelias Tod
Ophelias Wahnsinn und ihr Tod durch Ertrinken sind (jedenfalls für mich) ein zentrales Motiv oder das zentrale Motiv der Ophelia in „Hamlet“:

Die Königin, Hamlets Mutter, berichtet Laertes, dass Ophelia von einem Weidenbaum am Bach gestürzt sei, als sie einen ihrer selbst geflochtenen Blumenkränze im Astwerk des Baumes aufhängen wollte. Dabei brach ein „neidischer kleiner Zweig“ und ihre Unkrauttrophäen und sie selbst fielen in das weinende Gewässer. Es dauerte nicht lange, bis ihre Gewänder, schwer von dem, was sie getrunken hatten, das arme Geschöpf hinabzogen in den schlammigen Tod (18.Szene (bzw. 4.Akt, 7.Szene)).

Zwei Clowns, Ophelias Totengräber, rätseln am frisch ausgehobenen Grab (19.Szene (bzw. 5.Akt,1.Szene) darüber, ob Ophelias Tod durch Ertrinken ein Unfall war oder ob Ophelia wohl Selbstmord begangen hat, indem sie sich absichtlich ins Wasser gestürzt hat. Auf diese Frage gibt es bei „Hamlet“ keine Antwort.

In Katie Mitchells „Ophelias Zimmer“ nimmt sich Ophelia konsequenterweise und für uns eineindeutig selbst das Leben – hier mithilfe einer großen Schneiderschere.

4. Das Stück
Das Stück „Ophelias Zimmer“ dreht sich formal in Gänze um Shakespeares Motiv von Ophelias Ertrinken in der Textpassage in „Hamlet“ (18. Szene): Ophelia, die Blumen, das Wasser, die schweren Gewänder. So sind für mich die Blumen und auch die vielen Kleider (über 15 Stück), die Ophelia während der Aufführung – alle übereinander - anzieht und in denen sie sich zum Schluss gar nicht mehr richtig bewegen kann, während des gesamten Stücks Leitmotive von Ophelias „schlammigem Tod im weinenden Gewässer“.

Warum Ophelia immer wieder Blumen bekommt, die sie dann immer wieder in einen Abfallkorb steckt, und warum sie immer wieder und immer mehr Kleider anzieht, darüber kann man rätseln und interpretieren! Aber aus meiner Sicht ist es so: die Blumen und die Kleider müssen zum Schluss vorhanden sein, weil sie als Motive in dem zentralen Bild der ertrinkenden Ophelia (genau entsprechend Shakespeares Text) gebraucht werden! Und woher die Blumen kommen und warum sonst noch die vielen Kleider und was das sonst alles für eine Bedeutung hat, ist aus meiner Sicht gar nicht wichtig. Zum Schluss müssen sie alle da sein! Für das „Motif central“!

5. Mein Resümee
Die zeitgenaue Aufführung von „Hamlet“ aus Ophelias Sicht in Ophelias Zimmer fand ich atemberaubend! Gewaltiges Bühnenbild!

Jenny König ist Ophelia – in „Ophelias Zimmer“ und auch in der „Hamlet“-Inszenierung der Schaubühne (Regie: Thomas Ostermeier). Einzigartig und allerfeinst!

Katie Mitchells Spiel mit den Motiven und mit dem Motiv Zeit finde ich magisch.

Ich hatte es so erwartet und war primär schon gleich zweimal da!

Ich finde: grandioses Konzept, großartige Regie, beste Besetzung, großartige schauspielerische Leistung aller Darsteller/innen, tolle Bühne im Globe-Theater, bester Ton, feinste Musik und ausgeklügeltes Licht, alle Wechsel im sekundengenauen Takt eines Chronometers!

By the book!

Splendid!

Allerliebst

Max
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Koproduktion mit dem Royal Court Theatre London.

Text: Alice Birch   
Regie: Katie Mitchell   
Bühne und Kostüme: Chloe Lamford   
Sounddesign: Max Pappenheim
Dramaturgie: Nils Haarmann   
Lichtdesign: Fabiana Piccioli
Mitarbeit Regie: Lily McLeish

Mit: Iris Becher, Ulrich Hoppe, Jenny König, Renato Schuch   

Die Texte von Ophelias Mutter wurden eingesprochen von: Jule Böwe   

Statisten: Oliver Herbst / Mario Kutz

Dauer: ca. 120 Minuten

Weitere Infos zum Stück auf der Seite der Schaubühne.

Gunda Bartels vom Tagesspiegel hat Jenny König zu ihrer Rolle in "Ophelias Zimmer" und der als Gertrud/Ophelia in Thomas Ostermeiers Hamlet-Inszenierung interviewt.

6. Dezember 2015

Streitraum Extra: Lesung zum Thema Flucht (Schaubühne)

Im Streitraum wurde heute nicht debattiert, sondern gelesen. Es ging um die Themen Flucht, Exil und Fremdsein. Carolin Emke, die Moderatorin des Streitraums, rief zu Beginn der Veranstaltung zum Spenden auf. Ich veröffentliche hier den Spendenaufruf von der Website der Schaubühne.

Spendenaufruf
Menschen auf der Flucht brauchen dringend Schutz und Hilfe in jeder Form, vor allem aber in rechtlichen Fragen. Doch professioneller Rechtsschutz ist für Geflüchtete nicht finanzierbar. Mit der Benefizveranstaltung »Streitraum Extra« unterstützt die Schaubühne deshalb die unabhängige Menschenrechtsorganisation PRO ASYL, die sich seit knapp 30 Jahren für die Rechte verfolgter Menschen einsetzt, sie in Asylverfahren begleitet und konkrete Einzelfallhilfe leistet.

Bitte unterstützen Sie diese Aktion mit einer Spende.

An der Kasse und im Foyer der Schaubühne finden Sie Spendenboxen.


Sie können Ihre Spende auch direkt an PRO ASYL überweisen: Spendenkonto-Nr.: 8047300 | Bank für Sozialwirtschaft Köln | BLZ: 370 205 00 | IBAN: DE62 3702 0500 0008 0473 00 | BIC: BFSWDE33XXX | Stichwort: Streitraum

Ein schöner, aber auch bewegender Mittag in der Schaubühne. Da die Nachfrage bei der Veranstaltung so groß war, entschloss sich die Schaubühne kurzfristig, die Lesung in einen weiteren Saal per Videoleinwand zu übertragen. Somit konnten noch mehr Menschen hören und sehen, was die Autor/innen, Schauspieler/innen, Musiker/innen, der künstlerische Leiter sowie die Moderatorin vortrugen.

Den Anfang der Lesung machte Nina Hoss. Mit fester, ruhiger, schöner Stimme las sie Gedichte von Ingeborg Bachmann. Nach Najem Wali, der aus seinem Buch "Bagdad. Erinnerungen an eine Weltstadt" las, kam Thomas Ostermeier. "Ein Fremder" von Edmond Jabès muss ich mir besorgen, denn der Text hat mich sehr beeindruckt, insbesondere die Stellen, in denen es um eine Erklärung von Rassismus geht. Katja Petroskskaja, die aus ihrem Text "Vielleicht Esther" las, erklärte mit einem Augenzwinkern, leider seien die Schriftsteller/innen dazu verdammt, ihre eigenen Texte zu lesen, während die Schauspieler/innen und Regisseure Kafka und Bachmannn vortragen dürften. Lars Eidinger trug - unterstützt vom Schlagzeugspiel von George Kranz - aus Kafkas "Vor dem Gesetz" vor. Durch die Schlagzeug-Untermalung wurde eine besondere Spannung und Stimmung erzeugt. Terézia Mora las Ausschnitte, aus ihrer Kolumne "Etwas mehr als 24 Stunden", die, wie sie erklärte, noch in Arbeit seien und in der sie die Geschehnisse seit dem Sommer 2015 verarbeiten wolle. Nach Eva Meckbach mit "Wir Flüchtlinge" von Hannah Arendt war Carolin Emke selbst dran. Sie las ihren Text "Kopf über Wasser". Der letzte Textvortrag kam von Ingo Schulze ("Unsere Heilige" aus "Orangen und Engel"). Den Abschluss bildete ein Klang- und Percussion-Ensemble um Liao Yiwu, der das Lied "Tarim" sang.

Infos zu den Autor/innen hier.

3. Dezember 2015

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 10: Schmerzliche Einschnitte ("Fräulein Julie" an der Schaubühne)

Max Penthollow schreibt mir...

Liebe Maren,

mehr zu Fräulein Julie:

Fräulein Julie von August Strindberg 1888 – Schaubühne – Regie: Katie Mitchell – Premiere am 25. September 2010

1. Der Inhalt:
Mittsommernacht in Schweden 1888, Küche im Gutshaus, Fest der Sommersonnenwende. Fräulein Julie (25), Tochter der Herrschaften, verführt den mit Köchin Kristin (35) verlobten Diener Jean (30), den sie schon seit ihrer Kindheit anhimmelt.

Nach der Mittsommer-Liebes-Nacht sieht Julie ihre Ehre verloren und nimmt sich mit Jeans Rasiermesser das Leben.

 2. Bühne und Kostüme sind im Stil der damaligen Zeit. Die Darsteller/innen spielen das Stück in stark verkürzter Form. Auf der Bühne wird synchron zum Spiel vom Spiel ein Film gemacht, der synchron zum Spiel auf der Projektions-Leinwand über der Bühne zu sehen ist. Links vorn auf der Bühne ein Tisch für Nahaufnahmen, rechts vorn auf der Bühne ein Tisch mit ca. fünf Mikrofonen für die Geräusche.

Zwei Geräuschemacherinnen, zwei Kameramänner. Schauspieler/innen und Kameraleute bedienen fünf Videokameras. 400 Filmschnitte (Go's), zwei Beamer – just in case.

Luise Wolfram als Julie vor der Kamera (Foto: Thomas Aurin)

Es gibt viel Bewegung, Laufen und Rennen, das Ganze ist eine ausgeklügelte Choreografie für ein Ballett der Darsteller/innen und Kameraleute auf der Bühne für das Schauspiel und für die zeitgenaue Bedienung der Stative, Kabel, Kameras, Tonlabor. Alle arbeiten in präzisem Zeittakt.

3. Cellomusik live mit Ensemble-Begleitung vom Tonträger und aus schallgedämpften Tonkabinen eingesprochene Lyrik von Inger Christensen aus Dänemark und warmes hellgelbes Licht, das von draußen durch die Fenster hereinfällt.

4. Der Strindberg-Text
ist stark gekürzt, Motive und Leitmotive sind immer präsent und wesentliches Merkmal der Inszenierung und des Stücks: das Wasser, die Spiegel, das Blut, das Feuer, die Kräuter, die Blumen, die Wanduhr, das Rasiermesser, das Licht, die Gestaltung der Bühne, die Kostüme, die Cellomusik, die eingesprochene Lyrik aus den Kabinen („die Aprikosenbäume, die vierzehn Kristallgitter, die sieben kristallinischen Systeme, Zedern, Zypressen, Cerebellum“, „das unbenutzte Bett des Schlaflosen“ und so weiter).

 5. Einige Requisiten der Geräuschemacherinnen
sind: Zündhölzer, Feuer, Wasser, Gläser, Fläschen mit Verschlusskorken, Vogelfedern, Stoff, unter dem Tisch Kies, Gras-Äquivalent, verschiedenartige Schuhe, ca. fünf Mikrofone über und unter dem Tisch.

Cathlen Gawlich, Jule Böwe, Tilman Strauß u.a.: Text & Geräusche (Foto: Thomas Aurin)

6. Und jetzt kommt das Beispiel: Jean zündet in der Küche seine Zigarre mit einem großen Zündholz an: dieses Anzünden des Zündholzes ist zeitgleich vierfach zu sehen für die Theaterbesucher/innen in vier unterschiedlichen Szenen: 1. direkt: in der Küche (Jean zündet ein Zündholz an), 2. direkt: links am Tisch für Großaufnahmen (Darstellerin zündet ein Zündholz an, Live-Großaufnahme), 3. direkt: rechts am Tisch für das Geräusch des aufflammenden Zündholzes (Geräuschemacherin zündet ein Zündholz an, Live-Tonaufnahme) und schließlich 4. im Film auf der Projektionswand die Live-Großaufnahme des Anzündens vom Tisch auf der Bühne links und die Live-Tonaufnahme des eben entfachten und auflodernden Zündholzes vom Tisch auf der Bühne rechts. Für die Szene werden also zeitgleich drei Zündhölzer angezündet und vier sind zu sehen! Das hat schon was!

7. Wenn das kleine braune Fläschchen mit dem Kräuter-Elixir beim Entkorken Plop macht, gibt es im Saal leises Lachen.

8. Die Aufführung
dauerte zuletzt (Oktober 2013) etwa 75 Minuten, ganz früher bis 85 und 90 Minuten.

Am 16. Oktober 2013 war die 75. Vorstellung (laut Schaubühnen-Programm).

9. Bei dem ganzen synchrontechnisch und choreografisch ausgeklügelten und teilweise ballettartigen Spiel mit Stativen, Kabeln und Kameras habe ich ich besonders die kleinen nicht geplanten Besonderheiten geliebt, wenn etwas nicht ganz perfekt war, wenn z.B. ungeplant plötzlich ein Kontrollmonitor im Bild (Film) auftaucht oder wenn unbeabsichtigt Julies kleiner Zeisig Serine im Live-Film bereits zerteilt auf dem Schneidebrett in der Küche in zwei Stücken zu sehen ist, schon kurz bevor (!) Jean im Stück (nur im Film/Bild zu sehen!) den kleinen Vogel mit dem Küchenmesser mit einem lauten Messerschlag mit einem Hieb in zwei Stücke schneidet. Oder wenn die langen Kamerakabel auf der Bühne entwirrt werden müssen und das Entwirren der Kabel etwas länger dauert.

Mir haben das emsige Treiben und das gelegentlich eilige Laufen und Rennen auf der Bühne immer sehr gut gefallen. Besonders gern habe ich den Geräuschemacherinnen bei Ihrer Arbeit zugesehen.

Das Intro finde ich ganz toll!

10. Das Spannende und das besonders Faszinierende an Katie Mitchell‘s Inszenierung besteht für mich in einer aufregenden Balance zwischen dem Spiel auf der Bühne und dem synchron dazu gemachten und synchron dazu gezeigten Spiel des Live-Films vom Spiel auf der Bühne.

Die Cellomusik auf der Bühne, die eingesprochene dänische Lyrik und das eigenwillig fallende goldgelbe Licht der sonnigen Mittsommernacht geben dem Stück aus meiner Sicht eine besondere und eigenartige unwirkliche Stimmung.

11. Die Schaubühne ist für Gastspiele von Katie Mitchells Inszenierung von „Fräulein Julie“ viel und weit gereist:

Gastspiele der Schaubühne mit „Fräulein Julie“ (Quelle: www.schaubuehne.de):
Paris (März 2012)
Athen (Juni 2012)
Stockholm (Juni 2012)
Avignon (Juli 2012)
Zagreb (September 2012)
Moskau (Dezember 2012)
Paris (März 2013)
London (April/Mai 2013)
Rennes (November 2013)
Reims (Dezember 2013)
Tianjin (April 2014)
Beijing (April/Mai 2014)
São Paulo (März 2015)
Almada (Juli 2015)

 12. In den vergangenen vier Jahren habe ich Katie Mitchells „Fräulein Julie“ an der Schaubühne genau 20 mal gesehen.

Ich möchte „Fräulein Julie“ dort sehr gerne noch ein paar mal sehen!

Sehr, sehr gerne!

Allerliebst

Max
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Autor: August Strindberg
Regie: Katie Mitchell, Leo Warner
Bühne und Kostüme: Alex Eales
Licht: Philip Gladwell
Sounddesign: Gareth Fry, Adrienne Quartly
Musik: Paul Clark
Dramaturgie: Maja Zade

Kristin: Jule Böwe
Jean: Tilman Strauß
Julie: Luise Wolfram
Kristin Double: Cathlen Gawlich
Kristin Hände: Lisa Guth, Luise Wolfram
Kamera: Andreas Hartmann / Stefan Kessissoglou, Krzysztof Honowski
Geräusche: Maria Aschauer, Lisa Guth
Weitere Kameraaufnahmen, Geräusche und Stimmen aus dem Off: Ensemble
Violoncello: Chloe Miller / Gabriella Strümpel

Dauer: ca. 75 Minuten

Infos und Trailer auf der Seite der Schaubühne.

Mein Bericht aus Stockholm 2012 zu „Fräulein Julie“ hier.

2. Dezember 2015

Die Datenwolke sind wir: Maren und Max bei Interrobang in den Sophiensälen

 Max und ich waren zusammen im Theater...


"To Like Or Not To Like"- Berliner Performancegruppe Interrobang - Sophiensäle - Oktober 2015

Heitere und schaurig-spannende interaktive Big Data-Erlebnisshow mit fiesem aber allgemein bekanntem Ergebnis: unser Leben ist Teil eines globalen Daten-Universums.

MAX: Wir sitzen auf unseren Stühlen, vorn ist die Bühne, die Leinwand, nach hinten steigt der Zuschauerraum an. Neben jedem Stuhl ist ein weiterer Stuhl mit einem zum Sitz gehörigen nummerierten Telefon. Stühle und Telefone sind von der ersten zur zweiten und zu den weiteren Reihen jeweils versetzt. 50 Besucher/Innen passen so in den Saal, den Hochzeitssaal der Sophiensäle. Vorn ist eine große Leinwand, so hoch wie der Saal.

Der Einlass erfolgt jeweils in Zweiergruppen. Zu Beginn wird von jedem ein Foto gemacht und wenn er oder sie  in den Theaterraum geht und sich auf den ihm oder ihr zugewiesenen nummerierten Platz setzt, dann kann er sein Foto und die Fotos der anderen schon fotografierten Theaterbesucher/Innen schon in Farbe in einer seifenblasen-artigen Kugel vor einem hellblauen Hintergrund auf der Leinwand sehen. Es kommen immer neue Kugeln, bis alle 50 Personen im Saal sind. Die Kugeln sind immer in Bewegung und stoßen sich bei gegenseitigem Kontakt jeweils gegenseitig ab.

MAREN: Als das Foto gemacht wird, überlege ich mir natürlich, ob das jetzt schon zu viel Preisgabe, zu viel Zugeständnis ist. Ich weiß ja, dass es um „Big Data“ geht und darum, inwieweit man bereit ist, etwas von sich  - also auch ein Bild von sich – der Öffentlichkeit oder wem auch immer zur Verfügung zu stellen. Ich lasse es geschehen und habe gleich ein schlechtes Gewissen. Es gibt übrigens ein paar Zuschauer, die das verweigern und sich nicht fotografieren lassen oder etwas vor die Kamera halten.

Dann kommt eine Schrift: bitte den Hörer abnehmen. Wir nehmen den Hörer ab, werden von einer wohlklingenden Frauenstimme freundlich begrüßt und dürfen jetzt an einer Befragung teilnehmen.
Von uns bzw. unseren Mit-Theaterbesuchern werden mehrere Fotos mit Nummern projiziert, z.B. 1 bis 4, dazu kommen Fragen, z.B. diese vier Personen sind Mitglieder einer Wohngemeinschaft, von wem möchten Sie sich bekochen lassen?

Oder: die hier abgebildeten Personen sind Mitglieder einer Terrorgruppe. Wer von ihnen ist der Anführer, das „Gehirn“?

Oder: diese sechs Personen suchen eine Wohnung. Wer von ihnen hat die größten Chancen, die Wohnung zu bekommen Wähle die 6, wenn du es bist.

Oder: Wer von diesen vier Personen besticht den Makler?

Die Bildzusammenstellungen werden vom System generiert.

Wer von diesen Personen bricht beim Marathonlauf 100m vor dem Ziel zusammen? Es ist viel Raum für unsere Vorurteile.

Es folgen weitere Bilder, von Menschen am Lagerfeuer, vom Grill, von einem Philharmonischen Orchester und die Frage dazu: bist du dabei? – da kann man die Tasten von 0 bis 6 drücken.

Jaja, ich ahne es schon: Gleich kommt mein Bild auch mit irgendeiner Frage. Hoffentlich ist es nichts Peinliches! Als mein Bild erscheint wird gefragt: „Welche Person halten Sie für autoritär?“ Ich bekomme viele Stimmen. Ist das jetzt gut oder schlecht?


Dann können oder sollen wir auch miteinander telefonieren und uns zu den Fragen austauschen: „wie haben die Neuen Medien dein Leben verändert?“ oder „ist es möglich die eigenen Daten zu schützen?“

Gibt’s ja nicht: Ich telefoniere mit Max. Er hat mich versehentlich angerufen, weil er sich vertippt hat. Wir werden aber bald unterbrochen und ich werde von einer anderen Zuschauerin angerufen. Wir reden darüber,  wie es „früher“ mit dem Telefonieren und Verabreden war. Ist auch so ein Klischee. Aber, hey, ich hab das halt wirklich noch so gemacht. Früher. Vor dem Handy. Ich bin 40. Kenne also das und das danach.

Dann können wir auch neue Telefonpartner/Innen wählen, aus 50 nummerierten projizierten Fotos von den Teilnehmer/Innen, einfach die Nummer wählen und weiter geht’s.

Wer nicht drückt oder zu langsam ist, der ist dann aktuell nicht dabei.

Schließlich werden die Meta-Daten ermittelt, z.B. von bestimmten Profilen, die Schnelldrücker, die Verweigerer, die nicht oder zu langsam gedrückt haben.

Dann spricht das System mit freundlicher wohlklingender Männerstimme mit uns, fordert uns auf, eine Frage mit ihm zu erörtern, wenn wir wollen. Wer die 1 drückt, ist weiter dabei, wer aber nicht drückt, z.B. weil er gar keine Frage hat, die er mit dem System erörtern will, ist raus. Der kann dann zuhören oder zuschauen, wie sich die anderen Theaterbesucher/Innen angeregt von jemandem einen Text anhören und in der Interaktion weitere Nummern auf der Tastatur wählen.

Ich frage mich: 1. Hören die Männer eine Frauenstimme? 2. Warum gebe ich so viel von mir preis? 3. Gebe ich zu viel von mir preis? 4. Speichern „die“ jetzt wirklich meine Daten? 5. Warum mache ich jetzt da mit? 6. Bin ich jetzt cool, weil ich die Sache nicht boykottiere oder genau das Gegenteil? 7. Warum stelle ich mir überhaupt diese Fragen?

Wir sehen auf blauen Himmel-Hintergrund eine weiße Wolke mit zentral eingeblendeten binären Symbolen. Die Wolke, das sind wir und unsere Daten. Das System fordert uns auf, mit ihm eine Frage zu besprechen und erzählt uns über einige unserer Persönlichkeitsmerkmale, die es herausgefunden hat durch unser Entscheidungsverhalten bei der Befragung, auch und besonders auch über die Metadaten, wann wir was gedrückt haben, wie schnell wir gedrückt haben, mit wem bzw. mit wie vielen Personen wir telefoniert haben.

Dann am Ende sagt uns die Männerstimme der Maschine, dass wir nun mit unseren Daten für immer bei ihr sein werden und weit über unser irdisches Leben hinaus beim bzw. im System bleiben werden, damit sind wir unsterblich und sind wir mit dem System für immer eins.

Ach Mensch, ich füge mich jetzt einfach...


Ausgeklügelte elektronische Schleifen führen uns je nach unserem Wahlverhalten zu immer neuen bzw. auch wieder zu denselben Ansagen der Stimme im Telefon, sehr faszinierend.

Ich denke: Was ist das für ein Wahsinnsaufwand sowas zu programmieren.

Zum Schluss sehen wir wieder unsere Fotos in den wasserhellen seifenblasenartigen Kugeln auf der Leinwand vor himmelblauem Hintergrund, ein lautes bassbetontes immer stärker werdendes Rauschen und Beben, bei dem nach und nach die Blasen mit unseren Fotos zerplatzen. Wir sind weg - im Datenhimmel.

Wir sind gar nicht weg. Wir sind auf immer im Datenhimmel. Datenarchiv. Datensammelsurium. Gruselig...

Es gibt großen Applaus für die Künstler/Innen der Performancegruppe Interrobang, die sich das alles ausgedacht haben, ein aus meiner Sicht ganz klug und mit  großer Liebe und Hingabe entwickeltes und ausgestaltetes überraschungsreiches Programm mit einem von Anfang bis Ende schlüssigen Konzept mit bestechender Konsequenz und mit faszinierender technischer Performance.

Wahnsinn. Wahnsinn! Die machen sich so viel Arbeit. Ich denke an „Her“, den Film mit Joaquin Phoenix und Scarlett Johansson. Hatten die den auch im Hinterkopf? Hatten sie!

Wir erleben Dinge, die wir kennen und machen Erfahrungen mit einem System, das wir lieber nicht kennenlernen wollen, von dem wir aber genau wissen, dass es längst Bestandteil unseres Lebens ist oder noch genauer: dass unser Leben in Daten und in den daraus zu ermittelnden Fakten und Profilen Bestandteil des Systems ist.

Vielleicht ist es besser, darüber nicht nachzudenken... Oder vielleicht ist es besser, darüber mal genauer nachzudenken...?

Verstörend aber höchst unterhaltsam, lustvoll, dionysisch, ein bisschen fies.

Aller-aller-feinst!

Ja, ja und ja! Max, danke, dass du mich mitgenommen hast!

Ich war gleich zweimal da. 

Aus meiner Sicht auch herausragend: Interrobangs Projekt „Callcenter Übermorgen“, für mich ein ganz großes Theatererlebnis 2015 beim Heidelberger Sückemarkt, vorgesehen um den 20. Juni 2016 in Leipzig. Ich will wieder hin!

Mein Fazit: Ich will auch mehr sehen von Interrobang.

Max & Maren 
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Von und mit Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg 
Dramaturgie: Kaja Jakstat 
Telefoninstallation und Datenbankprogrammierung: Georg Werner 
Videodesign, Sounddesign und Programmierung: Florian Fischer 
Bühne und Kostüm: Sandra Fox 
Musik: Joscha Eickel 
Produktionsleitung: ehrliche arbeit 
Hospitanz: Anja Schneidereit
Übersetzung (englische Version): Daniel Brunet 
Fotos: Michael Bennett, Renata Chueire, Nina Tecklenburg

Eine Koproduktion von Interrobang mit Schauspiel Leipzig und SOPHIENSÆLE.
Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds.

 

Weitere Infos zum Stück und Trailer hier.