23. Dezember 2017

Gelesen wird, was da liegt: Prima Vista Lesung von Tilo Nest im Berliner Ensemble

Prima Vista Lesungen kenne ich vor allem aus der Kulturbrauerei. Hier mit bekannten Synchronschauspielern wie David Nathan, Simon Jäger, Michael Pan oder Oliver Rohrbeck. Von ganz anderer Qualität ist die Prima Vista Lesung von Tilo Nest im Berliner Ensemble. Ende Dezember fand seine zweite Auf-den-ersten-Blick-Lesung statt, aber der Schauspieler (seit der Spielzeit 2017/18 neu im Ensemble, davor schon in Yasmina Rezas „Gott des Gemetzels“ am BE zu sehen) hat dieses Format bereits mehrmals an anderen Spielorten erprobt. Romanauszüge, Gedichte, Essays, Kurzgeschichten, aber auch Kochrezepte, Gebrauchsanweisungen, E-Mails und dergleichen – jede*r darf mitbringen, was er*sie schon immer mal vorgelesen haben möchte. Auch Selbstgeschriebenes ist erlaubt. Das macht den Reiz des ganzen aus: Lieblingstexte, Lustiges, Schwermütiges und Tiefsinniges werden von einem professionellen Sprecher vorgetragen und bekommen so (vielleicht) einen ganz neue Anstrich.

In der Kulisse von „Die letzte Station“ sitzt Tilo Nest und spielt Klavier als wir den Bühnenraum des Kleinen Hauses im BE betreten. Es riecht nach Tannen, weil auf der Bühne etwas 30 ungeschmückte Bäume stehen. Feierliche Stimmung. Überall sind von der Requisite Bücher verteilt worden und ich lege die dazu, die ich mitgebracht habe (u.a. "Liebesgedichte" von Bertolt Brecht – dem Haus treu bleibend-, "Grrrimm" von Karen Duve – eine bitterböse Abrechnung mit den Märchen der Gebrüder Grimm -. und der "Urfaust auf Hessisch" – Tilo Nest kommt wie ich aus Hessen), weil ich nicht kapiere, dass die vor allem aus Dekogründen da liegen. Das was gelesen werden soll, liegt nämlich auf einem kleinen Tischchen neben einem Sessel, in dem Tilo Nest Platz nimmt. Es handelt sich vorwiegend um Zettel mit selbstgeschriebenen Texten, die die anderen Zuschauer*innen auf die Probe stellen: Auszüge aus Romanen, eine kryptische Auflistung von Zahlen und Namen, ein Gedicht eines afghanischen Flüchtlings (Teilnehmer beim Poetry Project), dadaistische Kurztexte usw. Aber darum geht’s ja: Es muss gelesen werden, was die Zuschauer*innen ins Spiel bringen. Und der Vorleser hat die nicht ganz einfache Aufgabe, daraus eine Dramaturgie zu schaffen. Deswegen kann ein Brief des afghanischen Flüchtlings an die AfD auf ein witziges Gedicht folgen. Und es funktioniert!

Mit unter 20 Zuschauer*innen sind wir ein sehr kleiner Kreis, was die Lesung zu einem Erlebnis mit fast privatem Charakter macht. Ich find's wunderbar so, aber denke natürlich darüber nach, dass sich der Gastgeber sicherlich mehr Interessent*innen gewünscht hätte. Es ist ein Geschenk Tilo Nest – wunderbar angenehme Stimme und natürlich höchst professionell beim Vortragen auch der Texte, die ihm persönlich vielleicht nicht so zusagen – zuzuhören.

Und das beste kommt wie immer zum Schluss: Ein Teil der Zuschauer*innen findet sich nach der Veranstaltung mit dem Schauspieler in der Kantine ein, um über Schreiben, Lesen, Theater und viele andere Dinge bei einem Bier zu diskutieren. Nach eine paar Minuten fallen die Hemmungen und Masken. Wir freuen uns, uns in diesem Rahmen kennengelernt zu haben, Kontaktdaten werden ausgetauscht, denn über die Texte entstehen unerwartete Verbindungen und wir haben einen wunderbaren Abend bis die letzte Bahn fährt.

Hoffentlich gibt es in 2018 eine neue Ausgabe der Prima Vista Lesung!

6. Dezember 2017

Rückblick Oktober & November 2017: Eine Welt im Theater, ein Theater in der Welt

Mir fällt auf, dass der Oktober fast ausschließlich im Zeichen des Feminismus stand und gleichzeitig ein Vorbote auf die Themen im November war: Weltpolitik, Globalisierung, Demokratie.


OKTOBER

1.10.2017 Es sagt mir nichts das sogenannte draußen von Sibylle Berg (Maxim Gorki Theater)

Vier Schauspielerinnen spielen eine Frau – typische (?) Mitzwanzigerin, aber kein role models, wie sie selbst sagt. Keine Lust auf Zumba? Aber auch andere sagen, dass sie sich damit total gut fühlen („den Körper spüren“). Was ist so schlimm daran, zu Hause zu bleiben? Die Versprechungen der Party erfüllen sich ja doch nicht. Schließlich muss sie auf dem Laufenden bleiben, was die Liebes-Ent-und Verwicklungen des Schwarms angeht – das Handy immer am Start (nur mal kurz in die Nachricht gucken). Die Anrufe der Mutter, die wissen will, was sie so für die Zukunft geplant hat, stören da eigentlich auch nur. Lieber Typen verprügeln. Sibylle Berg hat einen Tex für vier Schauspielerinnen des Maxim Gorki Theaters geschrieben - und die sind vor allem eins: wütend - aber dabei auch unglaublich komisch. Sie zeigt, wie Frauenbilder von der Medien und der Werbung produziert werden. Körperkult und Fitnesswahn, Shoppingexzesse zwischen den BWL-Vorlesungen und der Vertrieb von selbstsynthetisierten Drogen über das Internet - wie soll Frau da wissen, wie sie leben soll?  

Vier Frauen auf der Suche nach dem richtigen Leben: Rahel Jankowski, Cynthia Micas, Suna Gürler, Nora Abdel-Maksoud (Foto: Thomas Aurin)

Das Stück wurde von der Fachzeitschrift „Theater Heute“ zum deutschsprachigen Stück des Jahres 2014 gewählt.

Text: Sibylle Berg
Regie: Sebastian Nübling
Choreografie: Tabea Martin
Bühnenbild: Magda Willi
Kostüme: Ursula Leuenberger und Moïra Gilliéron
Mit: Nora Abdel-Maksoud, Cynthia Micas, Suna Gürler, Rahel Jankowski


5.10.2017 revisited thisisitgirl von Patrick Wengenroth (Schaubühne)

Das war mein sechster Besuch dieser Inszenierungen. Es gibt aber auch immer noch Freund*innen, die dieses tolle Stück noch nicht gesehen haben. Hier noch mal ein Link zu meinem Bericht aus 2015.


19.10.2017 PREMIERE LENIN von Milo Rau (Schaubühne)

Nach der Oktoberrevolution 1917 kämpft Lenin (Ursina Lardi) in seinem Landhaus mit seinem körperlichen Verfall, mehrere Schlaganfälle führen dazu, dass er auf die Hilfe seiner Familie und Freund*innen angewiesen ist. Dieses Setting wählt Milo Rau für sein Stück. Und sein Nachfolger und Gegenspieler Stalin (Damir Avdic) wird immer stärker. Der Autor-Regissuer und das Ensemble der Schaubühne blicken auf die zentralen Charaktere der wohl folgenreichsten Revolution der Menschheitsgeschichte. Aufbruch und Apathie, Revolutionssehnsucht und reaktionäre Widerstände, ein Labyrinth der Hoffnungen und Ängste, der politischen Ideale und kollektiven Gewalterfahrung. Düster und beklemmend sieht man auf der Bühne und parallel per Video, was nicht aufzuhalten ist. Ein "Gruselfilm in historischen Kostümen" hat Milo Rau sein Inszenierung genannt. Die Schauspieler*innen verwandeln sich immer mehr in ihre Figuren, sie ziehen sich auf der Bühne um und erhalten ihre Masken. Auch wenn diese Inszenierung sich von den letzten Arbeiten Raus unterscheidet, ist hier doch das Re-Enactment zu erkennen. Während am Anfang noch alle deutsche sprechen, ist zum Schluss fast nur noch russisch zu hören.

Damir Avdic, Ursina Lardi, Jakov Ahrens (Foto: Thomas Aurin)

Essay zum Stück in Pearson's Preview: Schöpferische Unruhe: Milo Raus »LENIN«

Regie: Milo Rau   
Bühne und Kostüme: Anton Lukas, Silvie Naunheim   
Video: Kevin Graber   
Dramaturgie: Stefan Bläske, Florian Borchmeyer, Nils Haarmann   

Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin: Ursina Lardi   
Nadeschda Konstantinowna Krupskaja: Nina Kunzendorf   
Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Leo Trotzki: Felix Römer   
Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin: Damir Avdic   
Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski: Ulrich Hoppe   
Fjodor Alexandrowitsch Guetier: Kay Bartholomäus Schulze   
Pjotr Petrowitsch Pakaln: Lukas Turtur   
Lydia Alexandrowna Koschkina: Iris Becher   
Sapogow: Konrad Singer   
Feiga Shabat: Veronika Bachfischer   
Kinder: Jakov und Sophia Ahrens / Georg Arms und Lia Vinogradova / Benjamin und Mirjam Wachsmuth
Live-Kamera: Florian Baumgarten, Moritz von Dungern, Matthias Schoebe

Dauer: ca. 120 Minuten


23.10.17 Feminista, Baby! (Deutsches Theater)
nach dem SCUM-Manifesto von Valerie Solanas

1968 schoss Valerie Solanas auf Andy Warhol, verletze ihn lebensgefährlich. Jahre später verstarb der Künstler an den Spätfolgen dieses Attentats. Als Solanas nach den Gründen für die Tat gefragt wurde, verwies sie auf ihr Manifest: SCUM. Bedeutung? Abschaum. Aber auch Society for cutting up men. Auch: Eine Selbstbezeichnung einer weiblichen, zukünftigen Elite, "dominierenden, sicheren, selbstvertrauenden, widerlichen, gewalttätigen, eigensüchtigen, unabhängigen, stolzen, sensationshungrigen, frei rotierenden, arroganten Frauen, die sich imstande fühlen, das Universum zu regieren."

Den feministischen Text von Valerie Solanas, der voller Witz und Furor steckt, hat Jürgen Kuttner mit drei Schauspielern (Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose) im Deutschen Theater auf die Bühne gebracht. Ein feministisches Manifest gespielt von drei Männern - funktioniert das?

Zu Beginn des Stückes ziehen sich die drei Marilyn-Monroe-Kleider und -Perücken an und schminken sich. Und dann geht es los. Kuttner hat sich wohl dafür entschieden, die Texte von Solanas von Männern sprechen zu lassen, weil sie somit an Schärfe verlieren und koödiantischer wirken. Das ist keine schlechte Idee. Aber trotzdem denke ich die ganze Zeit: Wie wäre es, wenn das jetzt eine Frau sagen würde. Am Ender legen die Schauspieler die Frauenkleider wieder ab und steigen in ihre Männerklamotten. Alles nur ein Spiel. Alles nicht ganz ernst?

Kuttner selbst spielt auch mit: Prototyp des Machos und deswegen schwer erträglich. Diese plakative Vorstellung braucht es für mich nicht, ärgert eigentlich nur. Solanas Text reicht doch.

Das Beste an dem Abend sind die Songs von Christiane Rösinger, die einzig wahre Feministin des Abends.

Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner
Bühne: Jo Schramm
Kostüme: Daniela Selig
Musik: Christiane Rösinger, Andreas Spechtl

Jürgen Kuttner, Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose
Live-Musik: Christiane Rösinger, Andreas Spechtl, Ramin Bijan
Live-Kamera: Marlene Blumert, Bernadette Knoller


30.10.17 Die Entführung Europas (Berliner Ensemble)
Ein Crime Noir von Alexander Eisenach

...oder der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft.

Der Privatdetektiv Max Messer (Alter Ego von Heiner Müller) wird beauftragt, die verschwundene Europa ausfindig zu machen. Tipps erhält er vom Börsenspekulaten Teiresias. Nach einer durchzechten Nacht befindet er sich im Kongo, verwirrt und ohne eine Ahnung, welche Zeit gerade herrscht. Autor und Regisseur Alexander Eisenach nimmt ein Hörspiel von Heiner Müller als Vorlage für sein Stück, um zentrale Fragen unserer Gegenwart zu stellen: Kann Europa, das noch vor wenigen Jahren ein Versprechen schien, neues Leben eingehaucht werden? Oder wird unser auch kulturell vielfältiger Kontinent unter der Vorherrschaft des ökonomischen Paradigmas weiter an Attraktivität einbüßen?

Regie: Alexander Eisenach
Bühne: Daniel Wollenzin
Kostüme: Lena Schmid , Pia Dederichs
Musik: Sven Michelson
Video: Mareike Trillhaas
Dramaturgie: Frank Raddatz

Max Messer: Christian Kuchenbuch
Grace / Europa: Stephanie Eidt
Margaret: Kathrin Wehlisch
Jupiter Kingsby: Peter Moltzen
Teiresias: Laurence Rupp



NOVEMBER

01.11.17 General Assembly: Was ist globaler Realismus? - Diskussion mit Harald Welzer und Milo Rau (Schaubühne)

Moderation: Doris Akrap (taz)

Als Auftakt zur General Assembly und anlässlich des Erscheinens des Buches »Wiederholung und Ekstase« wurde im Rahmen dieser Diskussionsrunde der Versuch unternommen, die Hintergründe für soziale und politische Ungerechtigkeit im 21. Jahrhundert, zu erklären. Dabei wurden folgende Fragen angeschnitten: Was sind die Aufgaben und Grenzen eines Weltparlaments im Zeitalter von globalem Kapitalismus, Klimawandel und Massenmigration?

In Kooperation mit FuturZwei, Diaphanes Verlag und taz.die tageszeitung.

03.-5.11.2017 General Assembly: Plenarsitzungen (Schaubühne)

07.11.17 General Assembly: Sturm auf den Reichstag (Schaubühne)

Einen ausführlichen Bericht zu den Sitzungen der General Assembly und dem Sturm auf den Reichstag habe ich bereits veröffentlicht. 


18.11.2017 revisitd Bella Figura von Yasmina Reza (Schaubühne)

Eine Freundin hat sich gewünscht, dieses Stück (Regie: Thomas Ostermeier), deren Rollen Reza auf die Schauspieler*innen zugeschnitten hat, zu sehen. Also habe ich es nach gut zweieinhalb Jahren noch mal angeschaut. Es kratzt ja immer etwas an der Boulevard Komödie, ist es aber dank seiner Dialoge dann eben doch nicht. Natürlich ist das eingespielte Duo Hoss-Waschke sowie das übrige Ensemble weit davon entfernt Boulevard zu sein. Die Anleihen sind vielleicht gewollt? Neben mir die Freundin kommentiert: Das ist wie bei uns zu Hause! Wie viele im Publikum denken das auch? Und wieder bin ich entzückt von der perfekten Auswahl der Kostüme (Florence von Gerkan).

Die Fassade bröckelt: Renato Schuch, Lore Stefanek, Nina, Hoss, Mark Waschke und Stephanie Eidt (Foto: Arno Declair)


21.11.17 Filmvorführung & Diskussion: Ein Volksfeind unterwegs (Freunde der Schaubühne e.V.)

Es passt, dass der Volksfeind-Film, der von den weltweiten Gastpielen der Schaubühne mit der Inszenierung "Ein Volksfeind" von Thomas Ostermeier, handelt, die weltpolitischen Themen, die in der General Assembly verhandelt wurden, beinhaltet. Für die Freund*innen der Schaubühne wurde die zweistündige Dokumentation über die Aufführungen der Inszenierung in Instanbul, London, Moskau, Torun, Seoul, Dehli, Santiago de Chile u.a. Städten exklusiv gezeigt. Die Filmemacher Matthias Schellenberg und Andreas Nickel waren anwesend und standen im Anschluss für eine Diskussion mit den Freundekreismitgliedern zur Verfügung.

Bisher ist noch nicht sicher, in welchem Rahmen, der Film noch einmal gezeigt wird. Interessierte können sich aber in der Mediathek der Schaubühne Ausschnitte ansehen.