25. April 2016

FIND 2016 – Review Teil 3 (13.-17. April 2016): Wild Minds, Natura e origine della mente, LIPPY, The Dark Ages

SIEBTER TAG (Mittwoch, 13. April 2016)
Ich musste die letzten Tage des Festivals erst ein wenig verdauen, bevor ich jetzt darüber schreiben kann. Auf der einen Seite ist es selbst für mich anstrengend so viele Theater-Eindrücke zu verarbeiten. Auf der anderen Seite wurde ich bereits Mitte der Woche beim Gedanken daran, dass das FIND bald schon wieder vorbei sein würde, wehmütig. Ich fühlte mich wie ein Gefäß, dass kurz vor dem Überlaufen ist. Das ist dann am letzten Tag eingetreten. Der Reihe nach...

Wild Minds
Wir betreten den Bühnenraum des Studios und setzen uns in einen Stuhlkreis. Geblendet vom Licht kann man sich nicht wirklich entspannen und die Situation ist sowieos schon ungewohnt. Wir befinden uns in einer (Selbsthilfe-)Gruppe, vier Schauspieler beginnen zu erzählen. »Maladaptive daydreaming«, eine psychologische Störung, bei der die Phantasien der Tagträumer das Leben völlig dominieren. Die Schauspieler erzählen uns von ihren Traumwelten und irgendwann vergisst man, dass man im Theater ist. Man beginnt zu nicken, zu verstehen, mitzufühlen. Und ist den Betroffenen sehr nah. Der schwedische Autor und Regisseur Marcus Lindeen hat in New York per Skype und im persönlichen Gespräch Menschen interviewt, die sich selbst als »compulsive daydreamers«, als zwanghafte Tagräumer, bezeichnen. Während der Performance hören die Schauspieler die Originalaufnahmen der von Lindeen geführten Interviews und versuchen, die Stimmen so genau wie möglich nachzusprechen. Auch so habe ich Theater noch nie erlebt...

Von Phantasiewelten bestimmt (Foto: Helena Tossavainen)
 
Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Daydreaming Theatre. Marcus Lindeen’s »Wild Minds«

Text und Regie: Marcus Lindeen
Musik und Sounddesign: Hans Appelqvist
Casting und Regieassistenz: Sara Björnstedt Qvarsell
Kuratorin: Catrin Lundqvist, Moderna Museet

Mit: Sandra Carpenter, Vaughn Rice, Mika Risiko, Kiki Snodgrass

Dauer: ca. 35 Minuten

Auftragswerk des Moderna Museet in Stockholm.


ACHTER TAG (Donnerstag, 14. Aril 2016) 
Für mich war heute Pause.


NEUNTER TAG (Freitag, 15. April 2016)

Natura e origine della mente
Von Romeo Castellucci erwartet man stets Merkwürdiges. Auch über "Natura e origine della mente" ("Von der Natur und dem Ursprung des Geistes") hörte man im Vorfeld schon kuriose Dinge. Als Grundlage für das Stück dient die Ethik von Baruch de Spinoza (1632-1677). Die Zuschauer/innen betreten durch eine Öffnung einen weißen Raum auf der Bühne und sind Teil der Inszenierung, die eher eine Installation ist. Sofort denkt man an einen White Cube aus der Bildenden Kunst.  An einem Drahtseil über den Köpfen der Zuschauer/innen hängt eine junge Frau (das Licht), sie hält sich mit nur einem Finger fest und droht abzustürzen. Ein großer schwarzer Hund (die Kamera) läuft umher, miaut und spricht mit ihr. Hinter der Öffnung, durch die wir eingetreten sind, bewegen und winden sich Geister, mal in weiß gekleidet, mal nackt, mal in schwarz. Es geht um Erkenntnis, um den Zusammenhang der Dinge, des Geistes, des Körpers, der Materie. Das alles ist so rätselhaft, dass es den Zuschauer/innen viel Raum für eigenen Assoziationen lässt. Optisch ist die Szene so überwältigend, verstärkt durch den Ausstellungscharakter und auch wegen der seltsamen Figuren, dass der Raum auf wundersame Weise heilig wird - so ist es zumindest für mich. Mit dem Gefühl, etwas Einmaliges und Sonderbares erlebt zu haben, verlasse ich nach einer halben Stunde diesen Raum. Es ist im übrigen das einzige Stück beim FIND, bei dem am Ende niemand klatscht - so wie man es im Museum auch nicht tun würde, wenn man einem Kunstwerk den Rücken zuwendet und geht.

Katzen-Hund und Geist (Foto: Claudia Castellucci)

Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Romeo Castellucci’s Dialogue with Spinoza (and ours with mind and body)

Konzeption und Installation: Romeo Castellucci   
Musik: Scott Gibbons   
Skulpturen auf der Bühne: Istvan Zimmermann, Giovanna Amoroso
Technische Leitung: Massimiliano Peyrone
Tontechnik: Matteo Braglia
Produktionsleitung: Benedetta Briglia
Organisation und Kommunikation: Valentina Bertolino, Gilda Biasini
Verwaltung: Michela Medri, Elisa Bruno, Simona Barducci, Massimiliano Coli

Mit: Silvia Costa, einem Hund/a dog, der Stimme von/the voice of Bernardo Bruno und Martina Borroni, Marcella Giesche, Rosabel Huguet, Pia Koch, Feline Lang, Christina Wintz (Statistinnen/Extras)

Dauer: ca. 45 Minuten

Produktion: Socìetas Raffaello Sanzio in Koproduktion mit T2G-Théâtre de Gennevilliers, Théâtre de la Ville, Festival d’Automne à Paris und La Biennale di Venezia. Entwickelt in Venedig im Rahmen des La Biennale College-Teatro im August 2013.


ZEHNTER TAG (Samstag, 16. April 2016)

LIPPY
Noch mal Dead Centre. Es geht wieder heiter los. Aber nach und nach wird es immer unheimlicher. Die Zuschauer/innen befinden sich zunächst in einem fiktiven Publikumsgespräch, ein Schauspieler erklärt, wie er Lippen liest und bald wird klar: er kann es nicht. In der darauf folgenden Szene sieht man vier irische Frauen, die sich gemeinsam in ihrem Haus zu Tode hungerten (diesen Fall gab es wirklich). Der Lippenleser soll bei der Aufklärung des rätselhaften Falls mithelfen, indem er die Aufzeichungen einer Überwachungskamera deutet. Er legt ihnen Worte in den Mund, die sie vielleicht nie gesagt haben. Das Publikum wird Zeuge der Tat und der (vielleicht falsch ersonnenen) Hintergründe. Die Performance der Schauspielerinnen ist verwirrend, nie weiß man was "echt" passiert ist, was "phantasiert". Das alles ist gruselig und sehr bedrückend.

Worte von den Lippen "lesen" (Foto: Jeremy Abrahams)


Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Unfinished Plays for Unfinished People: Dead Centre in Berlin

Regie: Ben Kidd, Bush Moukarzel
Sound und Musik: Adam Welsh
Bühne: Andrew Clancy
Kostüme und Bühneneffekte: Grace O’Hara
Licht: Stephen Dodd

Mit: Joanna Banks, Bush Moukarzel, Gina Moxley, Clara Simpson, Liv O’Donoghue, Dan Reardon, Adam Welsh

Dauer: ca. 80 Minuten

Entwickelt am National Theatre Studio, London mit Premiere beim Dublin Fringe Festival. Die Tour wird ermöglicht durch die Unterstützung von Culture Ireland.

Noch ist das Festival nicht ganz vorbei - am Sonntag gibt es noch ein paar Vorstellungen - aber am vorletzen Tag gab's die große FIND Abschlussparty, diesmal mit Stitch & Tchuani von Berries Berlin.


ELFTER TAG (Sonntag, 17. April 2016)

The Dark Ages 
Bis zum Rand gefüllt mit Eindrücken steht heute das letzte Stück auf dem Programm. Milo Rau war im letzten Jahr mit "The Civil Wars" beim FIND zu sehen. "The Dark Ages" ist der zweite Teil seiner Europa-Trilogie (der dritte Teil mit dem Titel "Empire" soll im September an der Schaubühne zu Beginn der Spielzeit 2016/17 Premiere haben). In "The Dark Ages" erzählen fünf Schauspieler/innen aus Bosnien, Deutschland, Russland und Serbien Geschichten der Vertreibung und der Heimatlosigkeit, des Weggehens und des Ankommens, des Engagements und der Verzweiflung. Das Stück ist wie ein klassisches Drama in fünf Akte unterteilt. Sie verknüpfen Geschichte mit persönlichen Erlebnissen - 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und 20 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica. Untermalt werden die Berichte von der Musik der slowenischen Band Laibach. Dabei sind die Berichte sehr intim, teilweise schmerzhaft und sehr berührend. Etwa als Valery Tscheplanowa von ihrem Vater erzählt. Oder Manfred Zapatka vom Leben der Kinder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Schauspieler/innen halten persönliche Fotos in die Kamera, die fortwährend alles filmt, was auf der Bühne berichtet wird. Es entstehen erstaunliche Parallelen zwischen den Biografien und immer wieder gibt es Anknüpfungspunkte zum Theater (Hamlet, Hamletmaschine).

Eine erstaunliche Parallele für mich: In wenigen Tagen werde ich Heiner Müllers "Hamletmaschine" von Dimiter Gotscheff im Deutschen Theater sehen. Vor neun Jahren inszenierte Gotscheff das Stück und trat darin selbst auf. Zu einem Gastspiel in Havanna konnte er im Herbst 2013 nicht mehr mitreisen, trug aber dafür Sorge, dass eine Version gezeigt werden konnte, die seine Passagen per Video einspielte. Das erzählt Valery Tscheplanowa auf der Bühne, sie selbst spielt die weibliche Hauptrolle. Zu Gotscheffs 73. Geburtstag ist diese Variante seiner legendären Inszenierung noch einmal am Deutschen Theater zu sehen. Der letzten Abend des FIND ist für mich noch mal ein Höhepunkt und tief beeindruckt verlasse ich das Theater.

Konzept, Text und Regie: Milo Rau   
Dramaturgie: Stefan Bläske   
Bühne und Kostüme: Anton Lukas   
Kamera und Videodesign: Marc Stephan   
Musik: Laibach
Dramaturgische Mitarbeit: Lucia Kramer, Rose Reiter
Regieassistenz: Jakub Gawlik
Recherche: Stefan Bläske, Mirjam Knapp
Übersetzung: Marija Karaklajic
Produktionsleitung IIPM (Tour): Mascha Euchner-Martinez

Text und Spiel, Text and Performance: Sanja Mitrović, Sudbin Musić, Vedrana Seksan, Valery Tscheplanowa, Manfred Zapatka

Dauer: ca. 120 Minuten

Eine Produktion des Residenztheaters München in Kooperation mit Milo Rau/International Institute of Political Murder (IIPM). Mit freundlicher Unterstützung von Pro Helvetia. 

15. April 2016

FIND 2016 – Review Teil 2 (10.-12. April 2016): Verleihung des ITI-Preises, Mein Jahr ohne Udo Jürgens, Do You Still Love Me, SPEAK!

VIERTER TAG (Sonntag, 10. April 2016) 

Man gewöhnt sich immer so schnell an die Festivalzeit, dass es einem gar nicht mehr merkwürdig vorkommt, jeden Tag im Theater zu verbringen.

Verleihung der ITI-Preises zum Welttheatertag an Milo Rau
Milo Rau, der auf dem FIND mit "The Dark Ages" und der Schaubühnen-Produktion "Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs" vertreten ist, wird mit dem ITI-Preis des Internationalen Theaterinstituts (ITI) geehrt. Aus der Jurybegründung: »Milo Rau erregt mit seinem International Institute of Political Murder Anstoß. Er steht für eine Generation, die mit Kompromisslosigkeit auf die sich immer stärker radikalisierende Wirklichkeit reagiert. Haltung beziehend und Haltung einfordernd verleiht Milo Rau dem Theater und der Gesellschaft Impulse, die den Sprengstoff der globalen Konflikte in unsere Mitte holen«.  Die Preisverleihung findet im Bühnenbild von "Mitleid" statt. Die Laudatio hält Kathrin Röggla.

Mein Jahr ohne Udo Jürgens
Eins mal vorweg: Ich bin kein Fan von Udo Jürgens. Aber ich bin, das ist bekannt, ein Fan von Patrick Wengenroth. Während des szenischen Konzerts lesen er und Thomas Thieme aus Andreas Maiers Buch und singen natürlich. Am Klavier wie immer Matze Kloppe. Höhepunkt ist der im Duett gesungene Ohrwurm "Liebe ohne Leiden" (im Original mit Jenny Jürgens). In den Texten geht es (gefühlt) andauernd um Apfelwein (mit Sekt! gesprizt), der in Frankfurt getrunken wird. Außerdem um die Emotionalität von Jürgens' Liedern und darum, warum das, was Udo Jürgens gemacht hat, nur Udo Jürgens machen konnte. Ein herrlicher, sehr lustiger, anregender Abend! Wengenroth halt. Mehr davon. Immer. Gerne. Und - ich glaub's selbst nicht - Udo Jürgens ist mir nach diesen drei Stunden ein wenig näher. Vielleicht lese ich sogar das Buch...

Realisation: Patrick Wengenroth   
Musik: Matze Kloppe   
Ausstattung: Alena Georgi   
Kostüme: Marc Freitag   
Dramaturgie: Sina Katharina Flubacher   

Mit: Thomas Thieme, Matze Kloppe, Patrick Wengenroth


FÜNFTER TAG (Montag, 11. April 2016)

Do You Still Love Me
Ich fand nie, dass Theater und Fußball wenig gemeinsam haben. Die Haltung mancher Theater-Fans (wie mir) zum "Hobby" ist der der Fußball-Fans nicht unähnlich. Die freie Zeit wird so eingeplant, dass man möglichst oft dabei ist und vieles wird dem untergeordnet. Die Beschäftigung mit allem, was damit irgendwie in Zusammenhang steht, ist intensiv. Beides findet live und vor Publikum statt und lebt vom konflikthaften Aufeinandertreffen. Die Unterschiede zwischen Theater und Fußball liegen freilich beim Geld - für das eine gibts (zu) wenig, für das andere (zu) viel. Und in der Größe der Fangemeinde sowie der öffentlichen Wahrnehmung. Sanja Mitrović lässt in "Do You Still Love Me" französische und belgische Fußballfans und Schauspieler/innen aufeinandertreffen und die Hintergründe für ihre Begeisterung erläutern, die im Zusammenhang mit der eigenen Lebensgeschichte stehen. Der Bezug zu nationalen Symbolen und das Zugehörogkeitsgefühl zu Gruppen spielt dabei eine wichtige Rolle. Interessanterweise kommt während des Stücks nie da Gefühl auf, dass die nicht-professionellen Darsteller bei ihren Auftritten hinter den professionellen Schauspieler/innen zurückfallen. Und irgendwann vergisst man, wer zu welcher Gruppe gehört.
 
Fans (Foto: Joeri Thiry)

Regie: Sanja Mitrović
Dramaturgie: Jorge Palinhos
Kostüme: Frédérick Denis
Sound: Vladimir Rakic
Kamera und Videodesign: Sanja Mitrovic
Licht: Stéphane Lebonvallet
Produktion und Tourmanagement: Liesbeth Stas

Mit: Servane Ducorps, Cédric Eeckhout, Ina Geerts, Sid van Oerle & Kostas Pericaud, Dominique Piron, Sam De Leener, Gregory Uytterhaegen (Anhänger des Fußballvereins Royale Union Saint-Gilloise)

Dauer: ca. 110 Minuten

Eine Produktion von Stand Up Tall Productions (NL), La Comédie de Reims-CDN / Reims Scènes d’Europe (FR), Hiros (BE) in Koproduktion mit STUK (BE), Beursschouwburg (BE). Unterstützt von: The Amsterdam Fund for the Arts (NL), The Flemish Community (BE), Performing Arts Fund (NL).


Englischsprachige Q&A zum Stück in Pearson's Preview: What Football Supporters and Theatre Have in Common  


SECHSTER TAG (Dienstag, 12. April 2016)

SPEAK!
Noch ein Stück von Sanja Mitrović. Diesmal steht sie selbst auf der Bühne, zusammen mit dem flämischen Performer Jorre Vandenbussche. Beide tragen in einem Wettbewerb in acht Runden bekannte poltische öffentliche gehaltene Reden vor. Die Zuschauer/innen erfahren dabei erst nach den einzelnen Runden, wer die Reden im Original gehalten hat (z.B. Fidel Castro, Rosa Luxemburg, Margaret Thatcher, Severn Suzuki) und zu welchem Anlass. Nach jeder Runde muss das Publikum wählen, welcher Vortrag besser war. Jede Runde ist anders gestaltet: Die beiden sprechen nacheinander, gleichzeitig, abwechselnd oder ohne Worte. Mit vielen Gesten oder keinen. Sie nutzen Requisiten, Kostüme oder Kulissen. Die letzte Runde ist eine Compilation aller Reden ("We must..."-Sätze). Es gilt zwar die Performance zu bewerten, doch kann man sich nicht frei machen vom Inhalt der Rede. Das fließt zwangsläufig in die Bewertung ein. Auch kann ein Vortrag gelungener sein, aber die Person im gleichen Moment unsympathischer erscheinen. Und natürlich spielt es (zumindest für mich) eine Rolle, ob man ihr oder ihm den Sieg mehr wünscht (schon deshalb weil sie schlicht mit Frau/women und Mann/men bezeichnet werden). Die Entscheidungen fallen immer schwerer. Das Ergebnis am Ende fällt sehr knapp aus. Zum Schlussapplaus darf nur die/der Gewinner/in vor das Publikum treten. Was für eine Idee! Dafür gehe ich ins Theater, denn nur hier gibt's so etwas.

Sanja Mitrović (Foto: Bea Borgers)

Konzept, Regie und Choreografie: Sanja Mitrović
Bühne und Licht: Laurent Liefooghe, Christophe Antipas (LLAC Architects)
Kostüme: Frédérick Denis
Sound Design: Luka Ivanovic
Dramaturgie: Jonas Rutgeerts

Mit: Sanja Mitrović, Jorre Vandenbussche

Dauer: ca. 70 Minuten

Eine Produktion von Stand Up Tall Productions (NL), koproduziert von Kunstenfestivaldesarts (BE). Unterstützt von: Beursschouwburg (BE), Pianofabriek Kunstenwerklplaats (BE), SPRING Festival (NL), STUK Kunstencentrum (BE). Finanziell unterstützt von: The Amsterdam Fund for the Arts (NL).

13. April 2016

FIND 2016 – Review Teil 1 (7.-9. April 2016): The Last Supper, The Trip, Checkov's First Play, Die Erfindung der RAF

ERSTER TAG (Donnerstag, 7.4.2016)

Endlich! Das FIND 2016 hat begonnen. Eine andere Welt für zehn Tage. Oder besser gesagt: Andere Welten. Ein geistiger Ausnahmezustand. Aber auch körperlich bin ich dieser Tage weniger in meiner Wohnung, sondern einmal mehr im Theater (der Schaubühne) zu Hause. Great! 


Familien-Selfie mit Kuhkopf (Foto: Mostafa Abdel Aty)

The Last Supper
Es beginnt mit „The Last Supper“ von Ahmed El Attar, einem Stück, das in der Zeit nach dem Arabischen Frühling und der Revolution auf dem Tahrir-Platz angesiedelt ist. Ägypten befindet sich im gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Wandel. Es wird die Gesellschaft im Umbruch aus der Perspektive der oberen Zehntausend beleuchtet: Die Mitglieder einer reichen Kairoer Großfamilie kommen anlässlich eines Abendessens zusammen. Ich brauche 10-15 Minuten, um mich in das Stück einzufinden, denn es wird viel gesprochen und meistens gleichzeitig. Und schnell. Die Hierarchie der handelnden Personen wird bald klar. Auch die Klischees. Spannend wird’s als eines der Kinder auf der Bühne einen Bediensteten solange piesackt, bis diesem die Hand ausrutscht und er sich der Dinner-Gesellschaft stellen muss – er wird bestraft. Als Zuschauerin bin ich natürlich empört. Und gerade mitten im Stück angekommen. Und da ist es schon vorbei. Gerade mal 45 Minuten hat die erste Vorstellung beim FIND gedauert. Kurz. Kurzweilig.

Konzept und Regie: Ahmed El Attar
Bühne und Kostüme: Hussein Baydoun
Licht: Charlie Aström
Musik: Hassan Khan
Sound: Hussein Sami

Mit: Boutros Boutros-Ghali, Mahmoud El Haddad, Ahmed Farag, Mona Farag, Mohamed Hatem, Ramsi Lehner, Nanda Mohammad, Sayed Ragab, Abdel Rahman Nasser, Mona Soliman, Marwa Tharwat

Dauer: ca. 55 Minuten

Eine Produktion der The Temple Independent Theatre Company in Kooperation mit Tamasi Collective.

Q&A with Ahmed El Attar by Joseph Pearson (4.4.2016).


ZWEITER TAG (Freitag, 8.4.2016)

The Trip

Selten sitze ich weinend im Theater, dieses Stück hat mich so berührt. Nicht nur mich. Ich höre, sehe und spreche anschließend mit Menschen, die ihren Gefühlen hier im Theater ihren Lauf lassen müssen. In „The Trip“ erzählt der syrische Regisseur Anis Hamdoun die Geschichte von Ramie, seinem Alter Ego, der zusammen mit seinen Freunden in Homs gegen das Assad-Regime auf die Straße ging und den Bürgerkrieg als einziger überlebte. Die jungen Menschen erzählen uns von ihren Träumen. Und dann wird alles anders. Sie geraten in Gefangenschaft, erleiden Folter und Ramie, der als einziger nach Deutschland flüchten konnte, quält sich mit der Situation als einziger überlebt zu haben. Der Preis, den das Überleben kostet. Das Stück dauert nur 40 Minuten, ist aber in seiner Intensität groß. Auch wenn das jetzt wie das immer gleiche Mantra klingt: Ich kann es wieder nicht fassen, dass es in diesem Land tatsächlich Menschen gibt, die glauben, dass Geflüchtete, die in Deutschland ankommen, sich ein leichtes Leben machen möchten. Bedauerlich, dass sie dieses Stück (wahrscheinlich) niemals sehen werden.


Anja S. Gläser und Marius Lamprecht vom Theater Osnabrück (Foto: Maik Reishau)

Regie: Anis Hamdoun
Bühne: Mona Müller
Kostüme: Anna Grabow, Miriam Schliehe
Dramaturgie: Elisabeth Zimmermann

Mit: Patrick Berg, Anja S. Gläser, Marius Lamprecht, Nawar Bulbul (im Video), Zainab Alsawah (Gesang)

Dauer: ca. 60 Minuten

Eine Produktion des Theater Osnabrück.

Checkov's First Play

Das macht das Festival aus: Nach dem emotionalen Hammer („The Trip“) kommt das erste Stück von Dead Centre. Ganz anders. Ganz toll, voller Energie. Es erinnert auch sofort ein wenig an Simon McBurney, der im letzten Jahr beim FIND in „Amazon Beaming“ ebenfalls mit Kopfhörern für die Zuschauer/innen gearbeitet hat und so Illusionen schaffte. In „Checkov's First Play“ hören wir die Kommentare des Regisseurs, wie eine kleine Stimme im Kopf, als Anmerkungen zu dem was, die Schauspieler/innen auf der Bühne umsetzen. Nach den ersten 30 Minuten, in denen (scheinbar) klassisch inszeniert „Platonov“ gespielt wird, löst sich die Form nach und nach auf. Und mit ihr der Inhalt. Bis sogar das Bühnenbild von einer Abrissbirne zerstört wir (begleitet von Miley Cyrus „Wrecking Ball“). Dann Auftritt der Hauptfigur: Platonov steht aus dem Publikum auf (kein Schauspieler!), betritt die Bühne und spricht kein einziges Wort. Alle projizieren ihr Sehnsüchte und Hoffnungen auf ihn. Er steht nur da und bewegt sich ohne zu handeln über die Bühne.

Platonov Projektionsfläche der Sehnsüchte  (Foto: Jose Miguel Jimenez)

Bush Moukarzel, der Regisseur, der auch die Rolle des Regisseurs im Stück spielt, erklärt im anschließenden Publikumsgespräch, dass es „Randnotizen“ von Tschechow tatsächlich gegeben hat. Auch er kommentierte die Auftritte der Schauspieler/innen. 

Regie: Ben Kidd, Bush Moukarzel
Bühne: Andrew Clancy
Ausstattung und Bühneneffekte: Grace O’Hara
Kostüme: Saileóg O’Halloran
Sound Design: Jimmy Eadie
Co-Sound Design: Kevin Gleeson
Licht: Stephen Dodd

Mit: Liam Carney, Breffni Holahan, Rory Nolan, Rebecca O’Mara, Annie Ryan, Dylan Tighe

Dauer: ca. 70 Minuten

In Auftrag gegeben von Battersea Arts Centre und Irish Arts Center, New York. In Koproduktion mit dem Dublin Theatre Festival, Baltoscandal (Rakvere) und Le Théâtre National de Bordeaux en Aquitaine. Das Projekt wurde koproduziert von NXTSTP, mit Unterstützung der Kulturförderung der Europäischen Union. Die Tour wird ermöglicht durch die Unterstützung von Culture Ireland.

Pearson's Preview: Unfinished Plays for Unfinished People: Dead Centre in Berlin


DRITTER TAG (Samstag, 9.4.2016)


Premiere: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 
Armin Petras hat Frank Witzels Buchpreis gekröntem Roman Szenen entnommen und in gut zwei Stunden auf die Bühne gebracht. In die Geschichte eines 13jähringe Jugendlichen aus der hessischen Provinz ist eine Rekonstruktion der alten Bundesrepublik eingewoben. Ich fange mit dem an, was mir gefallen hat: Die Musik von den "Nerven". Es ist toll zu sehen, wie viel Spaß die Jungs auf der Bühne haben und dank ihnen bekommt das Stück auch eine gewissen Drive. Das Bühnenbild (Katrin Brack) aus Schaufensterpuppen (Kinder und Erwachsene) mit Kleidung aus den 60ern/70ern ist wunderbar. Es gibt ein paar schöne Momente z.B. als die fünf Schauspieler/innen ikonografische Bilder der Zeit nachstellen (das Nacktbild der Kommune 1 von 1967, die Black Panther Fäuste der Sportler bei den Olympischen Spielen 1968, der Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970 u.a.) oder Julischka Eichel als resolute Caritas-Mitarbeiterin. Insgesamt kann ich aber keine wirkliche Begeisterung aufbringen. Irgendwie hat das Stück nicht das richtige Tempo und ich habe den Verdacht, dass auch die Schauspieler/innen nicht hinter der Inszenierung stehen. Irgendwie unzufrieden verlasse ich den Saal.
Aber: Da das Festival so viele hervorragende Produktionen zu bieten hat, kann ich diese hier für den Moment gut verzeihen.

Die Nerven - Max Rieger, Kevin Kuhn, Julian Knoth (Foto: Thomas Aurin)


Autor: Frank Witzel   
Regie: Armin Petras   
Bühne: Katrin Brack
Kostüme: Annette Riedel   
Video: Rebecca Riedel   
Dramaturgie: Katrin Spira, Maja Zade   
Licht: Erich Schneider

Live-Musik: Die Nerven

Mit: Jule Böwe, Julischka Eichel, Paul Grill, Peter René Lüdicke, Tilman Strauß   

Dauer: ca. 120 Minuten

Koproduktion mit dem Schauspiel Stuttgart.

Weitere Infos zum Stück auf der Seite der Schaubühne.

Pearson's Preview "The Prism of the Red Army Faction, Reflections and Refraction"