17. März 2012

What a wonderful world: Uraufführung „Märtyrer“ von Marius von Mayenburg (Schaubühne)

Benjamin (Bernardo Arias Porras) will nicht mehr zum Schwimmunterricht gehen und beruft sich dabei auf die Bibel. Mädchen im Bikini verletzen seine religiösen Gefühle behauptet er. Die Mutter (Judith Engel) vermutet Drogen, die Biologielehrerin (Eva Meckbach) interpretiert das als Hilferuf eines Pubertierenden. Doch als sich der junge Mann immer tiefer in die Bibellektüre vertieft, gerät alles aus dem Lot.


Ein Mitschüler (Moritz Gottwald) – in der Klasse ein Außenseiter - wird zum Jünger, der seinem Vorbild voller Bewunderung und zunächst unreflektiert folgt, denn er findet in Benjamin jemanden, der ihm Aufmerksamkeit schenkt und verspricht ihn von seiner Gehbehinderung zu heilen. Benjamin hingegen nutzt die Schwärmerei des Mitschülers für seine Zwecke, um gegen die Erwachsene zu intrigieren.


Bei religiösem Fanatismus spielt es im Grunde keine Rolle, um welche Religion es sich handelt. Daher nimmt Autor und Regisseur Marius von Mayenburg in „Märtyrer“ an der Berliner Schaubühne nicht etwa den Koran als Zitatquelle, sondern die Bibel – insbesondere das neue Testament. Erstaunlich, denn eigentlich gilt ja das alte Testament als besonders blutrünstig. Aber so wie von Mayenburg die Aussagen von Jesus Christus mit dem Kontext der Handlung seines Stückes verknüpft, dienen sie als Aufruf zur Unterdrückung der Frau, als Ablehnung der Lust im allgemeinen und homosexueller Verbindungen im besonderen.

Zu den Highlights des Stückes gehört die Szene in der der Schulpfarrer - glänzend gespielt von Urs Jucker, dem die Rolle offenbar auf den Leib geschrieben wurde –versucht, Benjamin für ein religiöses Camp anzuwerben. Eine groteske Situation, in der der Kirchenvertreter vollständig ausblendet, wie gefährlich das Verhalten des Schülers ist.


Aus dem Ensemble sticht Eva Meckbach hervor, die als glühende Atheistin versucht, den Gründen für Benjamins Verhalten auf den Grund zu gehen, indem sie sich in die Lektüre der Bibel vertieft. Die Deutung der Bibeltexte, in die sie sich im Laufe des Stückes genau wie ihr Schüller immer stärker hinsteigert, wird zur Obsession. In der Schlussszene nagelt sie, soeben vom Schuldienst suspendiert, ihre Füße am Bühnenboden fest: „Ich bleibe hier!“ Die Erkenntnis (wenn auch nicht neu): Religion genauso wie deren Ablehnung dient leider allzu oft auf als Rechtfertigung für fanatisches Verhalten.

Weitere Infos zum Stück.

Trailer zum Stück.

Fotos: Arno Declair/Schaubühne

10. März 2012

Erwachsenwerden oder so: Premiere „Bunny“ von Jack Thorne im Studio der Schaubühne

Katie ist ein Mädchen aus der Mittelschicht, sie lebt in Luton, einem Londoner Vorort und sie hat einen Freund. Doch sie will nicht langweilig und brav sein, das zumindest versucht sie, in ihrer Geschichte zu vermitteln – dem einstündigen Monolog „Bunny“ des britischen Drehbuch- und Theaterautors Jack Thorne, der am 6.3.2012 im Rahmen des F.IN.D. im Studio der Schaubühne Premiere hatte. Der Regisseur Christoph Schletz hat die Rolle der Protagonistin Katie mit der jungen Schauspielerin Jenny König besetzt, die in der aktuellen Spielzeit u.a. in „Maß für Maß“ und „Märtyrer“ zu sehen ist. Auch in diesen beiden Stücken spielt sie junge Frauen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Mit Katie verkörpert sie wieder eine Figur, die noch ihren Platz in der Welt der Erwachsenen sucht.


Katie hat einen Freund, er ist schwarz. „Nicht, dass das ein Problem wäre oder so, aber ich weiß halt nie wann ich das sagen soll“, erklärt sie. Dies sagt sie scheinbar unbeschwert daher. Und ebenso plappert sie offenherzig von ihren sexuellen Erfahrungen. In ihrer Schuluniform mit Kniestrümpfen (Kostüm: Marc Freitag) gibt sie jedoch das Bild einer naiven Schülerin ab und reagiert Männern gegenüber seltsam unaufgeklärt. Diese Diskrepanz zeigt sich auch im Bühnenbild von Philipp Strigel. Während des gesamten Monologs befindet sich Katie in einem Wohnzimmer und stellt die Handlung durch Verrücken der Sofateile nach. Um andere Figuren der Geschichte zu zitieren, nutzt sie eine Stehlampe als Mikrofon. Dieses bürgerliche Umfeld steht in Kontrast zur Geschichte, die sie erzählt: Als ihr Freund von einem Radfahrer angefahren wird, eilen Kollegen aus der Fabrik, unter ihnen der Pakistani Asif zur Hilfe und nehme die Verfolgung auf. Während der Jagd nach dem Flüchtigen erhält Katie von Asif, der sie in seinem Auto zwingt, ihre Unterwäsche auszuziehen, den verächtlichen Spitznamen Bunny. Trotz dieser Demütigung ist sie von Asif fasziniert, ja sogar fast stolz darauf, ihre weiblichen Reize zeigen zu können. Schließlich erhofft sie sich Spannung von diesem „Abenteuer“ und ein Flucht aus ihrem bürgerlichen Leben, denn zu Hause wartet nur ein Platz an einer zweitklassigen Universität auf sie. Der Wunsch nach einem Leben frei von bürgerlichen Zwängen scheitert jedoch genau da, wo sie glaubt unkonventionell zu sein. Sie unterwirft sich den Wünschen der Männer und verwirkt ihre Chance, selbstbestimmt zu handeln.



Wer Jenny König in „Bunny“ sehen möchte, kann über die Seite der Schaubühne Tickets für die Vorstellungen am 13.3. und 22.4.2012 bestellen.

Fotos: Gianmarco Bresadola

9. März 2012

Ich vermisse: Galerie der Toten bei „Galaxy" von BLITZ auf dem F.I.N.D. 2012

"Ich bin River Phoenix. Ich starb am 31. Oktober 1993 an einer Mischung aus Drogen und Alkohol. Ich vermisse meine Geschwister, Johnny Depp und die Red Hot Chili Peppers.“ – „Ich bin eine Kassette. Ich starb vor einigen Jahren. Ich wurde getötet von der CD, der Minidisc, der MP3, der MP4. Wie konnte das passieren.“ So und so ähnlich lauten die Mini-Monologe in Galaxy: Eva Meckbach, Jule Böwe, Bernardo Arias Porras, Judith Engel, Christoph Gawenda und Thomas Bading von der Schaubühne sowie Christos Passalis von BLITZ aus Athen stellen in einer dreistündigen Performance Tote und Totgesagtes vor. Sie schreiben Namen und Begriffe mit Edding auf Zettel und erläutern Namen, Todesdatum, Bedeutung und Zusammenhänge.


Historische Persönlichkeiten, Ideale, Epochen, Kunstformen der letzten Jahrhunderte werden, ebenso wie tote Menschen, Tiere und Erfahrungen aus dem persönlichen Schatz der Schauspieler (Christoph Gawendas Bruder, Bernardo Arias Porras Schnurrbart, der Hund von Judith Engels Oma oder Eva Meckbach mit 18) beschrieben. Tänze (Breakdance, Steptanz uva.) werden genauso wie Liedgut (Pioniergesänge und Hymnen) in die Gegenwart geholt. Rollen, die die Darsteller einmal gespielt haben (Evas Meckbach spricht z.B. über Desdemona, die sie in Othello an der Schaubühne gespielt hat) werden in die Performance integriert, Menschen, von deren Ableben man aus dem Medien erfahren hat und theaterspezifische Anekdoten (das von den Kritikern immer wieder monierte schlechte (sic!) Sprechen der Schauspieler oder unkonkrete Regieanweisungen). Sowieso findet die Auseinandersetzung mit der Schaubühne (die „alte Schaubühne“ unter Peter Stein) oder dem künstlerischen Leiter (Erinnerung an die Baracke des DT unter der Leitung von Thomas Ostermeier, die Jule Böwe, Jens Hilje, Thomas Bading u.a. vermisst) Beachtung. Für Schaubühnen-Kenner wird sogar die von der Kritik geschmähte Edward II-Inszenierung thematisiert (die die Schauspieler, die das Stück gerne spielen, vermisst).

Die Performance ist offen, d.h. die Zuschauer können jederzeit den Raum verlassen und wieder zurückkehren. Aber da das alles ganz schön süchtig macht und man immer noch den nächsten und das nächste sehen will, möchte man nichts als hier bleiben. Der Zuschauer schwankt ständig zwischen Lachen-Müssen und Weinen-Wollen, zwischen Erinnern, Entsetzen und Erstaunen und wird mit einer Achterbahnfahrt der Gefühle sowie echten Herausforderung für das eigene historische Wissen konfrontiert. Einen besonderen Reiz macht auch die Überlagerung der Kurzmonologe aus, wenn die Schauspieler ihre Texte satzweise im Wechsel sprechen und dadurch unvermutete Bezüge entstehen (Freud/Depression). Oder wenn offensichtliche Bezüge eine andere Richtung nehmen: Auf Steve Jobs folgt konsequenterweise Apple, bei dem es sich jedoch nicht um die Software, sondern um einen verstorbenen Hundwelpen handelt.

Galaxy ist zunächst nur auf dem F.I.N.D. 2012 zu sehen. Bleibt zu hoffen, dass diese Performance in das Programm der Schaubühne übernommen wird.

Trailer Galaxy von BLITZ.

Foto: Schaubühne

4. März 2012

Die Realität ist keine Party: Ostermeiers „Fräulein Julie“ nach Strindberg auf dem F.I.N.D. 2012

Festival ist schon eine besondere Theateratmosphäre! Und gerade heute, wo Thomas Ostermeier „Fräulein Julie“, das er mit dem Ensemble des Theaters der Nationen aus Moskau einstudiert hat, gezeigt wird, setzt sich das Publikum natürlich völlig anders zusammen als gewohnt. Irgendwie ist heute im Zuschauerraum alles ein bisschen schicker, glamouröser und dekadenter als sonst. Ich warte nur darauf, dass irgendwer mit einem Handtaschenhund hineinkommt. Den trägt später Juli über die Bühne und aus dem Publikum kommt das obligatorische „Ohhhh…“. Auffällig ist außerdem, dass noch während der ersten Szene überall herumgetuschelt wird und dass sich mindestens fünf Zuschauer vom Hinweis das Handy während der Vorstellung auszuschalten, nicht angesprochen fühlten. Dafür gabs am Schluss jede Menge Blumen und sogar Pralinen für die Schauspieler. Festivals ist eben anders.


Aber nun mal vom Zuschauerraum auf die Bühne:
Für Ostermeiers Julie-Inszenierung hat der russische Autor Michail Durnenkow Strindbergs Stück ins heutige Russland übertragen. In der Eingangsszene kocht die Hausangestellte Kristina (Julia Peresild) am Silvesterabend stumm ein Huhn für den eingangs erwähnten Hund. Im Hintergrund fällt Schnee, aus dem Off hört man Technoklänge. Die Szene in der verchromten Küche (Bühne: Jan Pappelbaum), die nicht eben viel Gemütlichkeit ausstrahlt, wird von Videokameras, die irgendwo versteckt sind, gefilmt und auf eine Leinwand projiziert. In diese kühle Stille platzen zuerst der Chauffeur Jean (Jewgenij Mironow) und schließlich Julie (Tschulpan Chamatowa), die Tochter des Hausherrn. Die Handlung nimmt ihren Lauf wie sie muss: Die beiden fühlen sich aus unterschiedlichen Gründen zueinander hingezogen – er wittert Aufstiegschancen, sie ein Abenteuer durch den Ausbruch aus ihrer Welt. Nach einem Flirt landen die beiden im Bett. Währenddessen besetzen die Partygäste die Bühne und feiern im eben noch klinischen Setting eine wilde orgiastische Party. Das Schlachtfeld, das sie hinterlassen wird in der Folge der Schauplatz für das ungleiche Paar. Jean, der den Standesunterschied anerkennend noch während des Flirts kontrolliert und distanziert agierte, packt nun richtig zu: Er stößt und schleudert Julie über die Bühne, sperrt sie in den Gefrierschrank, mal leidenschaftlich, mal wütend und unkontrolliert . Julie, die vor der Verführung noch Herrin der Lage war und ihre weiblichen Reize als Machtinstrument einsetzte, bekommt es, die Konsequenzen nicht abschätzen könnend, mit der Angst zu tun und wechselt von einer Rolle in die nächste: mal hysterisch, dann wieder kokett, mal als Opfer und gleich darauf wieder gefährlich provokant reizt sie Jean. Beide stoßen sich permanent an und wieder ab, sind mal zärtlich miteinander, mal brutal. Keiner scheint mehr zu wissen, in welchen Grenzen er sich zu bewegen hat, haben sie diese doch gerade selbst aufgehoben. Weil es kein zurück mehr gibt, entschließen sie sich zur Flucht, die jedoch durch das erneute Auftreten der Hausangestellten Kristian gestoppt wird. Sie führt den beiden vor Augen, welche Rollen ihnen in dieser Gesellschaft zustehen. Das sich das Geschehene jedoch nicht mehr ungeschehen machen lässt, liegt die Lösung schließlich in der bewaffneten Hand Julies.


Mit seinen beiden Hauptdarstellern hat Ostermeier eine gute Wahl getroffen: Beide sind attraktiv, energetisch und verfügen über eine extreme Körperbeherrschung (wenn Chamatowa in 14-Zentimerter-Plateautschuhen mit einer Wodkaflasche in der Hand über den spiegelglatten Boden torkelt, der über und über mit Geschirr, Flaschen und Partydekoresten übersäht ist, grenzt das an Akrobatik). Und auch wenn man kein Wort russisch versteht (Anmerkung: deutsche und englische Übertitel), kommen die Emotionen in den Dialogen sogar in den hinteren Reihen an. Ostermeier ist hier mal wieder eine Inszenierung gelungen, die ihresgleichen sucht und die zwei Tage vor der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Russland zusätzlich noch an Bedeutung gewinnt.

Weitere Infos zum F.I.N.D. 2012.

Fotos: Sergey Petrov