20. November 2018

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 19: Total Therapy - Therapeutisierung des Alltags

Max Penthollow schreibt mir...

Liebe Maren,

am 13. November war ich bei der Premiere von Interrobangs neuer Performance "Total Therapy" im Festsaal der Berliner Sophiensäle.

In der Programm-Ankündigung steht: "in Total Therapy widmen sich Interrobang der zunehmenden Therapeutisierung des Alltags. Im Zuge von gesteigerter Selbstoptimierung, omnipräsentem Coaching und allgegenwärtiger Feedbackkultur werden immer weitere Lebensbereiche therapeutisiert."

Interrobang ist eine Performancegruppe aus Berlin.

Wir sind im Festsaal der Sophiensäle, gefühlt etwa 50 Theatergäste, Frauen und Männer. Im Raum stehen mehrere mit Buchstaben bezeichnete runde weiße Tische mit umgebenden Stühlen, am Boden sind große kreisrunde weiße Felder angelegt, es gibt das stufenförmige Theater-Podest, mehrere Kabinen mit weißen Vorhängen und ein Info-Center in der Mitte des Saals. Es ist ein Spiel und dauert zwei Stunden. Es gibt mehrere Spielgruppen mit jeweils wechselndem Teilnehmerinnen und Teilnehmern und dazu jeweils jemand vom Performance-Team, die oder der die jeweilige Gruppe in der jeweiligen Spielphase leitet. Teilweise findet das Spiel im freien Raum statt, teilweise an den runden Tischen.

 Erste Runde: Was denken wir über unsere Mitspieler*innen? (Foto: Renata Chueire)

Wir alle bekommen einen weißen Rucksack. Wir beurteilen die anderen und die anderen beurteilen uns, mit jeder Menge Vorurteilen, anhand kleiner weißer Zettel mit vorgefertigten Aufdrucken, die wir beliebig verteilen oder zuweisen können: "du hilfst den Nachbarn im Treppenhaus" oder "du hast versucht, die anderen zu übervorteilen". Alle Zettel kommen in den Rucksack. Wir bekommen Attribute in Form von bunten Spielkarten mit Aufschriften, z.B. Dominanz, Ehrgeiz, Bosheit und Mitgefühl. Wir spielen in kleinen Gruppen miteinander um den Erfolg und geben und erhalten Feedback in Form von Anerkennung oder Ablehnung, dementsprechend bekommen die anderen und bekommen wir Eigenschaften zugewiesen. Daraus entsteht jeweils ein individuelles Bild unserer Persönlichkeit.

Zweite Runde: Eigenschaften gewinnen oder verlieren (Foto: Renata Chueire)

Im letzten Viertel der Spielzeit und nachdem wir selbst erlebt haben, wie willkürlich und beliebig und zusammenhangsfrei wir untereinander Feedback und Eigenschaften vergeben und erhalten haben, geht das Spiel in eine Phase der Meditation. Wir bekommen Kopfhörer mit Frauenstimmen und Männerstimmen, die uns weiter begleiten. Die Stimmen leiten uns an, unsere im Spiel erlebten Begebenheiten und Situationen des Spielverlaufs nochmals in Gedanken an uns vorüberziehen zu lassen und zu reflektieren. Für mich war diese Phase eine besonders schöne, entspannende kathartische Situation. Aus dem Kopfhörer vernehmen wir phasenweise weitere beliebige an uns persönlich gerichtete anerkennende oder abwertende Kommentare zu unserer Persönlichkeit. In einer Kabine mit weißem Vorhang betrachten wir uns selbst im Spiegel und bekommen durch eine Lücke in der weißen Kabinenwand einen Gegenstand gereicht, einen kleinen bunten Holzpropeller oder ein kleines rotes Reh aus Plastik. Zum Abschluss begeben wir uns unterer weiterer Kopfhörer-Anleitung zum Podest und suchen uns dort einen Platz aus. Dann gestalten wir unter Anleitung auf den Boden-Ebenen des Podests unsere eigene Collage aus dem Inhalt unseres weißen Rucksacks, den Gegenständen und Zetteln und Eigenschafts-Spielkarten. Nur für uns allein und so wie wir es wollen. Jetzt sind wir ganz bei uns. Niemand bewertet unsere Collagen außer uns selbst. Für mich ist jetzt alles so richtig wie ich es mache und alles ist gut.
 
Bin ich das wirklich? (Foto: Renata Chueire)


Ich habe die Runde sehr genossen und bewundere es sehr, mit welcher Liebe und Hingabe Interrobang sich hier wieder ein wunderbares Spiel für uns ausgedacht haben. Wir alle spielen mit und erleben dabei, jeder für sich, wie relativ Selbstoptimierung, Coaching und allgegenwärtiges Feedback sein können. Wir erleben, wie gut es uns tun kann, in unserem eigenen Leben und Alltag eine Distanz zum Mainstream und zu unserem eigenen Anteil am Mainstream zu finden. So jedenfalls habe ich es erlebt.

Danke, Interrobang!

Allerliebste Grüße

Max


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Konzept: Interrobang
Von und mit: Bettina Grahs, Lisa Großmann, Kaja Jakstat, Elisabeth Lindig, Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg
Bühne / Kostüm: Silke Bauer
Musik: Friedrich Greiling
Lichtdesign / Technische Leitung: Dirk Lutz Produktion ehrliche arbeit – freies Kulturbüro
Öffentlichkeitsarbeit: Tina Ebert
Hospitanz: Miriam Bach
Fotografie: Paula Reissig
Fotocollage: Silke Bauer

Eine Produktion von Interrobang in Koproduktion mit Schauspiel Leipzig, WUK Performing Arts Wien und SOPHIENSÆLE. Gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa und die Konzeptionsförderung des Fonds Darstellende Künste e.V. – aus Mitteln des Bundes.

Weitere Termine:
Residenz Schauspiel Leipzig
11.-18. April 2019

WUK Wien
Termine tbc

Bemerkenswerte Produktionen von Interrobang aus den vergangenen Jahren, über die wir berichtet haben:
Brot und Spiele
Der Prozess 2.0
To Like Or Not To Like


15. November 2018

Falscher richtiger Ehemann: Champignol wider Willen (Schaubühne)

Ein großer Fritsch-Abend in jeder Hinsicht. Und mal wieder eine richtig schöne Komödie an der Schaubühne. Das Ensemble (die alte Frisch-Truppe erweitert durch langjährige Ensemblemitglieder und Schauspielstudent*innen der UDK) kann hier zeigen was es in Sachen Komödie drauf hat. Fritsch nimmt sich diesmal ein Stück von Georges Feydeau vor, ein Autor des Vaudeville - geradezu eine Steilvorlage für Fritsch.

Das Timing ist perfekt. Gesang und Choereographie in typischer Fritsch-Manier. Allen voran Bastian Reiber als Saint-Florimon und Florian Anderer als Champignol turnen, springen, zappel über die große Bühne, dass das Publikum vor Freude jauchzt. Szenenapplaus gibt’s schon nach den ersten drei Minuten.

Und man fragt sich: Warum ist eigentlich bisher noch niemand auf die Idee gekommen, Robert Beyer in einem Fritsch-Stück zu besetzen? Das passt einfach perfekt.

Carol Schuler und Robert Beyer (Foto: Thomas Aurin)

Optisch ist alles (konsequent bis hin zum Programmheft) in Camouflage gehalten, Bühne und Kostüme in zig Varianten des Tarnlooks in allen möglichen Farbkombinationen.

Die Verballhornung des Militärs ein großer Spaß. Eine Verwechslungskomödie so gut und satt, wie man sie im Boulevardtheater nicht finden wird. Denn Klischees werden hier nicht platt ausgespielt, sondern zu großer Kunstfertigkeit gemacht.

Ursina Lardi als Angele und Ensemble (Foto: Thomas Aurin)


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Regie und Bühne: Herbert Fritsch   
Kostüme: Victoria Behr   
Musikalische Leitung: Ingo Günther   

Saint-Florimond: Bastian Reiber   
Champignol: Florian Anderer   
Angèle, seine Frau: Ursina Lardi   
Camel, ihr Onkel: Werner Eng   
Mauricette, seine Tochter: Fine Sendel*
Singleton, deren Mann: Damir Avdic   
Camaret, Capitaine: Axel Wandtke   
Adrienne, seine Tochter: Iris Becher   
Célestin, sein Neffe: Bernardo Arias Porras   
Charlotte, Dienstmädchen bei Champignol: Carol Schuler   
Joseph, Diener bei Champignol / Jérôme, Diener bei Rivolet: Robert Beyer   

Fourrageot, Commandant: Stefan Staudinger   
Ledoux, Adjudant: Robert Beyer   
Belouette, Sergent: Vito Sack*
Grosbon, Caporal: Carol Schuler   
Deneuve, Reservist: Bernardo Arias Porras   
Delon, Reservist: Nina Bruns*
Prinz von Valance, Reservist: Maximilian Diehle*
Depardieu, Reservist: Robert Knorr*
Schneider, Reservist: Teresa Annina Korfmacher*
Bardot, Reservist: Sarah Schmidt*
Ein Gendarm: Stefan Staudinger   

Musiker_innen: Ingo Günther, Taiko Saito, Fabrizio Tentoni   

In Kooperation mit der Universität der Künste Berlin (UdK).

* Studierende der UdK

Essay zum Stück in Pearson's Preview: Champignol in Farbe – oder: Komödie wider Willen