10. September 2012

Zum Wohle der Gesellschaft? - Ein Volksfeind (Schaubühne)

Als der Badearzt Thomas Stockmann (Stefan Stern) entdeckt, dass das Heilwasser seines Heimatorts vergiftet ist – die Zuleitungsrohre führen durch ein durch Fabriken verseuchtes Gebiet -, will er im Interesse der Allgemeinheit die Öffentlichkeit aufklären. Helfen soll ihm die Presse (die Journalisten Hovstadt / Christoph Gawenda  und Billing / Moritz Gottwald sowie der Verleger Aslaksen / David Ruland), die ihm zunächst Unterstützung zusagt.

Stadtrat Peter Stockmann (Ingo Hülsmann) - Foto: Arno Declair
Stockmann fordert seinen Bruder Peter, Stadtrat des Badeortes auf, die nötigen Maßnahmen vorzunehmen. Dieser weist ihn jedoch eindringlich auf die Folgen hin: Hohe Kosten und Imageschädigung für den Kurort – die wirtschaftliche Entwicklung sei damit auf Jahre gefährdet. Ein Gegengutachten soll beweisen, dass sich Stockmann bei seinen Untersuchungen geirrt hat.

Und plötzlich beginnen auch die Unterstützer zu schwanken, wobei weniger die Zweifel an Stockmanns Untersuchung oder die Angst um Folgen für die Gesellschaft eine Rolle spielen. Man befürchtet vielmehr die Gefährdung der eigenen Karriere und Finanzierung der Zeitung (Ausbleiben der Anzeigenschaltung durch Konzerne).

Auf einer Volksversammlung spricht Stockmann und will die Bürger auf seine Seite zwingen. Dabei geht es ihm nicht mehr um das vergiftete Wasser, er prangert die Gesellschaft und ihre Politiker als Ganzes an. Der selbsternannte Wohltäter Stockmann wird zum Volksfeind, seine Familie ausgegrenzt, seine Frau (Eva Meckbach) und er verlieren ihre Anstellungen.

Die Handlung nimmt eine weitere Wendung als sein Schwiegervater Morten Kiil (Thomas Bading) die nun fallenden Aktien des Bades billig aufkauft. Sowohl sein Bruder als auch Hovstadt und Aslaksen sind nun der Meinung, dass Stockmanns Enthüllungen dazu dienten die Aktien zu senken, um diese aufkaufen zu können. Sein Bruder bezichtigt ihn des Betrugs, die Zeitung erhofft sich finanzielle Unterstützung und verspricht, sich wieder auf Stockmanns Seite zu stellen.

Ibsens Drama bewegt sich auf einem schmalen Grat: Stockmann, der zu Beginn als Aufklärer auftritt und dem das Wohlergehen der Bevölkerung das wichtigste Anliegen scheint, entwickelt sich durch zunehmenden Widerstand zum Fanatiker. In seiner Rede auf der Volksversammlung stellt er die Frage:  Kann eine Mehrheit (in Stockmanns Worten: die Dummen) die richtigen Entscheidungen treffen? Oder soll nicht besser eine wissende Minderheit darüber entscheiden, was gut für eine Gesellschaft ist. Er fordert sie Auslöschung der verlogenen/verseuchten Gesellschaft.

Stockmann (Stefan Stern) auf der Volksversammlung - Foto: Arno Declair
Thomas Ostermeiers lässt in seiner Inszenierung des Volksfeind an der Schaubühne Stockmann aus einem Pamphlet des „Unsichtbaren Komitees“ zitieren: "Der kommende Aufstand", entstanden  nach den Aufständen in den französischen Banlieues im Jahr 2005. Im Text wird zum Widerstand gegen den Konsum aufgerufen. Außerdem wird das Publikum zur Volksversammlung und aufgefordert mitzudiskutieren, wie nun weiter verfahren werden soll. Und es ist durchaus unentschlossen als der Stadtrat und Aslaksen fragen, wer denn nun der Meinung Stockmanns sei und wer nicht. Bei der Premiere auf dem Theaterfestival in Avignon im Juli soll heftig diskutiert worden sein. Bei der Berliner Premiere sind die Zuschauer eher zurückhaltend. Den Forderungen des fanatischen Stockmanns kann man ja eigentlich nicht zustimmen. Aber ist es nicht Unrecht, dass aus rein wirtschaftlichen Interessen die Wahrheit vertuscht werden soll? Die Mehrheit des Publikums entzieht sich der Diskussion und überlässt die Entscheidung den Protagonisten auf der Bühne.

Bei Ostermeier sind Stockmann, Hovstadt und Co. eine Gruppe von Freunden, die dem Studentenalter gerade entwachsen scheinen und sich noch nicht recht entscheiden können, ob ihnen Ideale wichtiger sind als die eigene Karriere und damit die Existenzsicherung. Zu Beginn proben sie als Band und singen David Bowies „Changes“ („Don’t want to be a richer man / just turn and face the strain“). Als jeder seinen persönlichen Interessen folgt, werden sie zu Gegnern, die sich mit Farbbeuteln bewerfen.

"Changes" (Moritz Gottwald, Stefan Stern, Eva Meckbach, Christoph Gawenda) - Foto: Arno Declair
Im Programmheft zum Stück wird eine Bildungselite beschrieben, die „einen Lebensstil […] entwickeln, der es ihnen ermöglichte, einerseits wohlhabend und erfolgreich zu sein, andererseits aber auch rebellisch und unorthodox zu bleiben.“ Die sogenannten Bobos (David Brooks: Die Bobos. Der Lebensstil der neuen Elite).

Stefan Stern als nervöser Badearzt Stockmann, der seine Emotionen kaum im Griff hat und für die Erreichung seiner Ziele gerne über dieselben hinausschießt und Ingo Hülsmann als arroganter, aalglatter Stadtrat, die Tatsachen zu verkehren und die Situation zu nutzen weiß, dass ihm andere schnell nachfolgen, sind bemerkenswert. Hülsmann, der gerade erst vom Deutschen Theater an die Schaubühne gewechselt ist, hat die Zuschauer mit dieser Rolle sofort für sich eingenommen.

Ehepaar Stockmann (Eva Meckbach, Stefan Stern) - Foto: Arno Declair
Auch großartig: Thomas Bading als Unternehmenschef Morton Kiil im schlecht sitzenden Anzug und Barbour-Jacke mit Schäferhund an der kurzen Leine.

Wie immer bei Ostermeiers Inszenierungen ist auch das Bühnenbild von Jan Pappelbaum perfekt für das Stück: Es kommt mit wenig Ausstattung aus, die Szenerie wird durch Zeichnungen und Schriftzüge geschaffen, die mit Kreide an die mit Tafelfarbe gestrichenen Wände gemalt werden.