2. April 2018

TheaterRückBlick März 2018: Kinder

Kinder kann man schon früh fürs Theater begeistern. Ansonstens gabs viel für diejenigen, die Akrobatisches lieben.

18.03.18 Kinder des Paradieses (Berliner Ensemble)
Nach dem Film "Les Enfants du paradis" ("Die Kinder des Olymp") von Jacques Prévert und Marcel Carné.

Die Entstehungsgeschichte des Films, der während des Zweiten Weltkriegs gedreht wurde, ist von Schwierigkeiten geprägt. Juden und Mitglieder des Resistance, die am Film mitwirken, wurden von der Gestapo beobachtet. Nach Ende des Kriegs wurden die "Kinder des Paradiese" 1945 gezeigt. Wegen einer Liebesaffäre mit einem deutschen Offizier war die Hauptdarstellerin Arletty jdoch inhaftiert. Im Stück rekapituliert sie ihre Liebesaffären zum Pantomimen Baptiste Deburau, zum Dichter und Mörder Lacenaire, zum Schauspieler Frédérick Lemaître. Schutz erhielt sie vom begüterten Grafen de Montray. Die Akrobat*innen gestalten die Atmosphäre des Inszenierung. Ilse Ritter als Arletty gibt den Rahmen des Stücks.

Kathrin Wehlisch als Garance
Peter Moltzen als Baptiste Deburau
Ilse Ritter als Arletty
Felix Rech als Frédérick Lemaître
Antonia Bill als Nathalie
Tilo Nest als Lacenaire
Sascha Nathan als Theaterdirektor
Martin Rentzsch als Jericho / Graf de Montray
Mitja Ley als Avril
Biliana Votuchkova als Gräfin

Akrobatik: Marula Bröckerhoff, Kristina Francisco, Lukas Flint, Marvin Kuster, Mitja Ley, Karlo Janke, Marc Unruh

Regie/Bearbeitung: Ola Mafaalani
Musik: Eef van Breen
Bühne: André Joosten
Kostüme: Johanna Trudzinski
Choreografie: Maria Marta Colusi
Licht: Ulrich Eh
Dramaturgie/Bearbeitung: Alexandra Althoff
Musik: Eef van Breen (Blechblasmusik, Sänger, Komponist), Biliana Voutchkova (Violine), Antonis Anissegos (Tasteninstrumente)


24.03.18 PREMIERE Null von Herbert Fritsch (Schaubühne)

Wennn man eine weitere Klammer für die Stücke dieses Monats finden möchte, so ist vielleicht auch die Artistik. Dass Herbert Fritschs Schauspieler*innen das können, ist nicht neu. Die Fahrt auf dem Gabelstapler von Florian Anderer lässt einen dennoch die Luft anhalten.

Die Bühne so karg ausgestattet als hätte man vergessen, die Kulissen aufzubauen. Sie dürfen auf einer Null-Bühne auftreten.

Minutenlangen besprechen sie ihre geplante Choreographie. Probieren? Ja, aber erst muss noch was geklärt werden.

Die mechanische Riesenhand. Die "Hand Gottes"? Jedenfalls wünscht man sich beim Schlussapplaus diejenigen auf die Bühne, die sie gebaut haben,.

Das neue Fritsch-Stück macht Spaß, auch ohne, dass man alles verstehen muss (wie so oft bei ihm).

Schutz oder Bedrohung? Unter der Riesenhand: Jule Böwe, Bernardo Arias Porras, Ingo Günther, Florian Anderer, Carol Schuler, Bastian Reiber, Axel Wandtke, Ruth Rosenfeld (Foto: Thomas Aurin)

Im Kontrast zu früheren knallbunten Kostümen bei Fritsch, hier Pastelltöne (auch die Farbe ist irgendwie Null). Kostüme und Perücken werden nach der Pause getauscht und so treten sie als ihre eigenen Zwillinge auf. Jule Böwe trägt Ruth Rosenfelds blonden Pagenkopf und ihr blaues Kleidchen. Axel Wandtke bekommt Bastian Reibers Baskenmütze usw.

Regie und Bühne: Herbert Fritsch   
Kostüme: Bettina Helmi   
Musik: Ingo Günther   
Dramaturgie: Bettina Ehrlich   
Licht: Carsten Sander   

Mit: Florian Anderer, Bernardo Arias Porras, Jule Böwe, Werner Eng, Ingo Günther, Bastian Reiber, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler, Axel Wandtke   


28.03.18 Emil und die Detektive (Atze Musiktheater)

Kindertheater mit meinem Patenkind! Wer seinen Kindern den Zauber des Theater nahe bringen möchte, sollte hier hingehen. Der Eintritt ist sehr erschwinglich.
Dazu gibt es einen gesonderten Beitrag. 

3. März 2018

Rückblick Februar 2018: Brot & Spiele und Worte & Bewegung

Im kurzen Februar habe ich nur zwei - dafür aber eindrückliche - Stücke gesehen.


03.02.2018 BROT und SPIELE von Interrobang (Sophiensäle)

Mitmachen im Theater - nicht jedermanns Sache. Aber bei Interrobang gehörts dazu. Dass man bei der neuesten Produktion der freien Performancegruppe über das Schicksal der Protagonist*innen auf der Bühne in der Weise mitbestimmen kann, dass sie sogar "Demütigungen" - ob berechtigt oder unberechtigt - aushalten müssen, macht die Zuschauer*innen zu Beteiligten. Und so merken wir irgendwann, dass wir selbst Spieler*innen werden. Die Botschaften: Als Nutzer*innen von Online Angeboten geraten wir schneller in ein Spiel, dass wir (vielleicht) nicht mehr kontrollieren können, als wir glauben. Wenn aus dem Spiel Ernst wird, können wir nicht einfach aufhören, denn wir sind auch abhängig von den anderen "Mitspieler*innen". Selbst entscheiden, wann es genug ist? Fehlanzeige!


23.02.2018 revisited TRUST (Schaubühne)

Im April 2010 habe ich dieses Stück zum ersten mal gesehen. Und seit dem immer, immer wieder (ich habe aufgehört zu zählen, wie oft). Mit Freund*innen, die oft ins Theater gehen und mit denen, die ich dafür begeistern will. Trotz einigen Umbestzungen immer wieder ein Highlight. Fürs Herz und für den Kopf.
Hier mein Bericht vom ersten Besuch.

Tanz ergänzt Worte (Foto: Heiko Schäfer)

4. Februar 2018

Rückblick Januar 2018: Fotos, Musik, Premiere

Der Januar ist für mich immer durch Veranstaltungen rund um das Theater und mit den Freunden der Schaubühne geprägt. Außerdem gab es die Premiere des neuen Stücks von Rainald Grebe.


14.01.2018 PREMIERE fontane.200: Einblicke in die Vorbereitungen des Jubiläums des zweihundertsten Geburtstags Theodor Fontanes im Jahr 2019 (Schaubühne)
Ein Abend von und mit Rainald Grebe

Im nächsten Jahr wird der 200. Geburtstag von Theodor Fontane gefeiert und Rainald Grebe, der zuletzt "Westberlin" an der Schaubühne inszenierte, wurde gefragt, ob er dazu einen Abend machen möchte. Wohl auch deswegen, weil man bei Grebe schnell an Brandenburg denkt (Brandenburg-Lied), dessen Bedeutung eng mit dem Leben und Schreiben Fontanes verknüpft ist. Man erhofft sich durch das Fontane-Jahr große Aufmerksamkeit für das Bundesland. Herausgekommen ist kein Lobgesang auf einen der größten deutschen Dichter, sondern eine kritische Auseinandersetzung. Dennoch ist seine neue Inszenierung voller Klamauk und Spaß: Puppentheater, revueartige Zusammenfassungen von Fontanes Büchern und rasant aufbereiteter Geschichsunterricht. Und am Ende steht die Frage, warum eigentlich überwiegend die Männer gefeiert werden. Nach Fontane 2019 folgt Beethoven 2020. Vielleicht ein Grund für Grebe in Bonn zu inszenieren...


Geschichtsunterricht mit Tilla Kratochwil, Iris Becher und Florian Anderer (Foto: Thomas Aurin)

Musik: Jens-Karsten Stoll   
Regie: Rainald Grebe   
Bühne: Jürgen Lier   
Kostüme: Kristina Böcher   
Video: Matias Brunacci, Christin Wilke

Mit: Florian Anderer, Damir Avdic, Iris Becher, Rainald Grebe, Tilla Kratochwil, Jens-Karsten Stoll, Axel Wandtke  


18.01.2018 Booklaunch im C/O Berlin
Bildband Fotokampagnen der Schaubühne 2013-2017

1 Theater - 5 Jahre - 5 Kampagnen - 6 Fotografen - 48 Schauspieler*innen - 158 Fotos

Ende des letzten Jahres erschien das umfangreiche Fotobuch der Schaubühne, das die Fotos der Kampagnen der letzten fünf Jahre sowie Interviews enthält.

Juergen Teller
Ute Mahler und Werner Mahler
Pari Dukovic
Brigitte Lacombe
Paolo Pellegrin

Die Fotografen prägten mit ihrere jeweiligen Handschrift die Kampagnen und so kann man viele der Schauspieler*innen über den Zeitraum der fünf Jahre in ganz unterschiedlichen Facetten sehen: eindrückliche Porträts und überraschender Momentaufnahmen, streng formaler Schwarz-Weiß-Fotografien und puristischer Nahaufnahmen.

In der Monographie sind alle Fotos erstmals zusammen zu finden. Ergänzt wird das über 300 Seiten umfassende Buch mit Texten von Christoph Amend, Thomas Ostermeier, Joseph Pearson, Dirk Peitz, Ingo Taubhorn und Anne Waak.

Die Freunde des Schaubühne unterstützten die Produktion des im Kerber Verlag erschienenen Bildbands finanziell.



Fotobuch der Schaubühnen-Kampagnen von 2013-2017
Zum Booklaunch im C/O Berlin kamen viele Schauspieler*innen und andere an der Entstehung des Buchs Beteiligte. Im Rahmen eines Podiumstalks erzählten Ute und Werner Mahler, Paolo Pellegin, Thomas Ostermeier und Eva Meckbach wie die Fotoproduktionen verliefen und was die entstandenen Bilder den Schauspieler*innen bedeuten.

Das Buch ist im Webshop der Schaubühne für 40 Euro erhältlich (Buchhandelspreis: 48 Euro).


21.01.2018 Carrington / Brown (Bar Jeder Vernunft)

Rebecca Carrington, die ihr Cello-Spiel in ein Comedy-Programm einbaut präsentiert regelmäßig Shows in der Bar Jeder Vernunft. Zusammen mit ihrem Mann Colin Brown gibt sie Einblicke in ihr Leben in Berlin und auf Tour weltweit. Massentauglich verpackt erzählt sie dabei, wie sie als Britin in Deutschland wohnt, arbeiter und auftritt. Dabei interpretiert und kombiniert sie klassische sowie zeitgenössische Musik. Der Unterhaltungswert ist groß, das Ambiente des Spiegelzelts der Bar Jeder Vernunft trägt zum Wohfühlen bei. Comedy meets Classic. Manchmal ist der Humor etwas flach, aber musikalisch ist der Abend allemal bemerkenswert.

3. Januar 2018

Rückblick Dezember 2017: Liebe, Wut, Gewalt

Mein Rückblick des Theatermonats Dezember 2017.


03.12.17 Streitraum: "Gewalt und Gerechtigkeit" mit Édouard Louis (Schaubühne)

In seinem Roman »Im Herzen der Gewalt« erzählt der französische Autor Édouard Louis die Geschichte seiner eigenen Vergewaltigung nicht allein als furchtbare Erfahrung der Gewalt durch seinen Angreifer. Sondern er erzählt auch von der Art und Weise, wie die Justiz ihm diese Erfahrung Stück für Stück enteignet, wie sie, je häufiger er sie erzählen, begründen, rechtfertigen muss, weniger ihm als der Polizei, den Medizinern, den Ermittlungsbeamten gehört. Édouard Louis’ Roman führt ins analytische Zentrum der Fragen nach Trauma und Sprachlosigkeit, Gewalt und Gerechtigkeit – und nicht zuletzt zur Frage unserer gesellschaftlichen Verantwortung im Reproduzieren von gewaltförmigen Strukturen und Praktiken. (Auszug aus der Synopse auf der Seite der Schaubühne)

Edouard Louis habe ich in Manchester bei der Premiere von „Rückkehr nach Reims“ kennengelernt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits seinen ersten Roman „Das Ende von Eddy“ gelesen. Kurz darauf begab er sich weltweit auf Lesereise für sein zweites Buch „Im Herzen der Gewalt“. Wiedergetroffen habe ich ihn im Rahmen einer Lesung in der Autorenbuchhandlung im September 2017, ein weiteres mal im Streitraum bei Carolin Emcke zum Thema „Gewalt und Gerechtigkeit“. Louis, ein Schüler von Didier Eribon, ist so etwas wie der Shootingstar der französischen Literaturszene. Er ist einer der angenehmsten und freundlichsten Gesprächspartner, die ich kenne. Dankbarkeit für den in der Diskussion mit Thomas Ostermeier geäußerten Hinweis inbegriffen, dass Gewalt, wie sie in seinem Buch beschrieben wird, oft auch Frauen wiederfährt, und wie Frauen in vielen Situationen in Angst um sexuelle Übergriffe leben müssen.

Im Frühjahr 2018 wird in der Schaubühne eine Bühnenfassung des Buches (mit Laurenz Laufenberg und Renato Schuch, Regie: Thomas Ostermeier) zu sehen sein. 


05.12.17 Der gute Mensch von Sezuan von Bertolt Brecht / Musik von Paul Dessau (Schaubühne)

Koproduktion mit der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« Berlin

In jeder Spielzeit gibt es eine Produktion mit den Studierenden des 3. Studienjahr der Ernst Busch unter der Regie von Peter Kleinert. In der Sezuan-Vorstellung, die ich gesehen habe, durfte eine Schauspielerin wegen einer Stimmbandentzündung nicht sprechen. Kurzerhand übernahmen die Kolleg*innen ihren Text. Die Inszenierung funktionierte trotzdem, sogar gut. Ohnehin spielen alle Schauspieler*innen verschiedene Rollen. Wie gut das Zusammenspiel klappte, zeigte sich vor allem dann, als sie sich gegenseitig aushalfen, wo jemand den kurzfristig einstudierten Text der Kollegin nicht parat hatte. Gerade durch diese Improvisationen sammelten sie Sympathipunkte beim Publikum.

Frederik Rauscher, Mayla Häuser, Lea Ostrovskiy, Tiffany Köberich, Leander Senghas, Jan-Eric Meier (Foto: Gianmarco Bresadola)

Regie: Peter Kleinert   
Bühne: Céline Demars   
Kostüme: Susanne Uhl   
Musik: Hans-Jürgen Osmers   
Dramaturgie: Nils Haarmann   

Shen Te / Shui Ta: Laura Balzer    
Yang Sun, ein stellungsloser Flieger / Bruder Wung: Jan Bülow   
Erster Gott / Die Witwe Shin / Nichte: Mayla Häuser   
Wang, ein Wasserverkäufer / Schwangere Schwägerin: Jan Meeno Jürgens   
Zweiter Gott / Hausbesitzerin Mi Tzü / Kind: Tiffany Köberich   
Barbier Shu Fu / Neffe: Jan Eric Meier   
Dritter Gott / Frau Yang, die Mutter des Fliegers / Mutter: Lea Ostrovskiy   
Schreiner Lin To / Bonze / Großvater: Frederik Rauscher   
Arbeitsloser / Polizist: Leander Senghas   
Erzähler / Kellner / Vater: Lukas Walcher


12.12.17 Die Wiedervereinigung der beiden Koreas von Joël Pommerat (Berliner Ensemble)

Übernahme aus dem Schauspiel Frankfurt.

Nach Motiven aus Artur Schnitzlers "Reigen", Tschechows Einaktern und Ingmar Bergmans "Szenen einer Ehe" wird in Joël Pommerats Stück die Liebe beleuchtet. In 19 Szenen werden verschiedene Liebesgeschichten erzählt. Was bedeutet Liebe, wenn die Partnerin wegen ihrer Demenz den Partner nicht mehr erkennt und sich an die gemeinsame Vergangenheit nicht mehr erinnern kann? Wie geht man damit um, wenn geistig Behinderte lieben und ein Kind erwarten? Wie weit kann die Liebe zwischen einem Pfarrer und einer Prostituierten gehen? Lustig und traurig sind diese kleine Episoden und die Dialoge lassen einen oft an selbst erlebte Situationen erinnern. Ich fühlte mich häufig an Szenen aus Yasmina Rezas Stücken und Texten erinnert.

Regie: Oliver Reese
Bühne: Hansjörg Hartung
Kostüme: Elina Schnizler
Musik: Jörg Gollasch

Mit: Verena Bukal, Franziska Junge, Corinna Kirchhoff, Josefin Platt, Carina Zichner, Martin Rentzsch, Veit Schubert, Marc Oliver Schulze, Till Weinheimer)


16.12.17 Buchvorstellung: MIMOS Ursina Lardi (Schaubühne)

Ursina Lardi ist seit der Spielzeit 2012/13 Ensemblemitglied der Schaubühne. Wer sie noch nicht als Lenin in Milo Raus gleichnamigem Stück und in "Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs" gesehen hat, sollte dies bald nachholen. Sie rettet Thomas Ostermeiers "Die kleinen Füchse" in der Rolle der Birdie und ist wunderbar in "Die Ehe der Maria Braun." Falk Richters "For the disconnected child" (leider nicht mehr auf dem Spielplan) machte sie zu einem der größten Theatererlebnisse, die ich erleben durfte. Dass sie 2017 den Schweizer Grand Prix Theater/Hans-Reinhart-Ring, den wichtigsten Theaterpreis der Schweiz, erhielt, ist daher kein Wunder. Die Schweizerische Gesellschaft für Theaterkultur widmete ihr daher den neuesten Band der Reihe »MIMOS. Schweizer Theater-Jahrbuch«, der mit Interviews und Beiträgen von u. a. Romeo Castellucci, Michael Haneke, Thomas Ostermeier, Milo Rau und Volker Schlöndorff Einblick in ihre Arbeit für Theater und Film gibt, und ihren eindrucksvollen Werdegang dokumentiert. Anlässlich der Buchpremiere sprach Ursina Lardi mit dem Theaterkritiker Andreas Wilink.Thomas Ostermeier hielt einführene Worte voll ehrlicher Bewunderung - ein schöner Moment!


Buchempfehlung: MIMOS 2017 Ursina Lardi


17.12.17 Die letzte Station von Ersan Mondtag (Berliner Ensemble)

Alte und Gebrechliche treffen aufeinander, singen und tanzen zusammen. Wie sieht das Ende des Lebens aus? Was ist am Übergang zum "Jenseits"? Ersan Mondtag versucht mit Tänzer*innen und Schauspieler*innen zu zeigen, was uns vor und nach dem Tod erwartet: Komisch und traurig zugleich. "Die künstlerische Handschrift von Ersan Mondtag bewegt sich zwischen Performance, großer Oper, Sprechtheater und darstellender Kunst."

Regie: Ersan Mondtag
Bühne/Video: Stefan Britze
Kostüme: Raphaela Rose
Musik: Diana Syrse
Mit Constanze Becker, Judith Engel, Peter Luppa, Laurence Rupps, Ty Boomershine, Brit Rodemund, Christopher Roman, Jone San Marin, Frederic Tavernini.

Weitere Infos auf der Seite des BE.


18.12.17 Prima Vista Lesung mit Tilo Nest (Berliner Ensemble)

Ich habe bereits einen Bericht über diesen tollen Abend verfasst.


22.12.17 Wut von Elfriede Jelinek (Deutsches Theater)

Welche zerstörerische Wut steckt dahinter, wenn Menschen Attentate verüben? Warum kommunizieren Menschen nicht mehr, sondern äußern ihre Verzweiflung, Ohmacht und Angst durch Gewalt? Vor dem Hintergrund des Überfalls auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Jahr 2015 stellt Jelinek in ihrem Stück diese Fragen und lässt Figuren aus der griechischen Mythologie sowie Wutbürger sprechen. Dank dem furiosen Auftreten der Schauspieler*innen (Andreas Döhler, Sebastian Grünewald, Linn Reusse, Anja Schneider, Sabine Waibel) wird der Abend zu einem tobenden und tosenden Abbild dessen, was im Inneren vieler steckt.

Regie: Martin Laberenz
Bühne: Volker Hintermeier
Kostüme: Aino Laberenz
Musik: Bernhardt.
Video: Daniel Hengst


27.12.17 Die Blechtrommel nach dem Roman von Günther Grass (Berliner Ensemble)

Fulminate One-Man-Show des Schauspielers Nico Holonics als Trommler Oskar Matzerath. Der Roman von Günther Grass gilt als Meilenstein der deutschen Nachkriegsliteratur. In dieser Fassung wird die Geschichte nicht nur aus der Sicht der Hauptfigur erzählt, sondern Oskar auch zur einizigen Figur auf der Bühne erkoren - zusammen mit unzähligen Blechtrommeln als Bühnenbild.

Übernahme der Inszenierung von Oliver Reese aus dem Schauspiel Frankfurt.

Regie: Oliver Reese
Bühne: Daniel Wollenzin
Kostüme: Laura Krack
Musik: Jörg Gollasch

23. Dezember 2017

Gelesen wird, was da liegt: Prima Vista Lesung von Tilo Nest im Berliner Ensemble

Prima Vista Lesungen kenne ich vor allem aus der Kulturbrauerei. Hier mit bekannten Synchronschauspielern wie David Nathan, Simon Jäger, Michael Pan oder Oliver Rohrbeck. Von ganz anderer Qualität ist die Prima Vista Lesung von Tilo Nest im Berliner Ensemble. Ende Dezember fand seine zweite Auf-den-ersten-Blick-Lesung statt, aber der Schauspieler (seit der Spielzeit 2017/18 neu im Ensemble, davor schon in Yasmina Rezas „Gott des Gemetzels“ am BE zu sehen) hat dieses Format bereits mehrmals an anderen Spielorten erprobt. Romanauszüge, Gedichte, Essays, Kurzgeschichten, aber auch Kochrezepte, Gebrauchsanweisungen, E-Mails und dergleichen – jede*r darf mitbringen, was er*sie schon immer mal vorgelesen haben möchte. Auch Selbstgeschriebenes ist erlaubt. Das macht den Reiz des ganzen aus: Lieblingstexte, Lustiges, Schwermütiges und Tiefsinniges werden von einem professionellen Sprecher vorgetragen und bekommen so (vielleicht) einen ganz neue Anstrich.

In der Kulisse von „Die letzte Station“ sitzt Tilo Nest und spielt Klavier als wir den Bühnenraum des Kleinen Hauses im BE betreten. Es riecht nach Tannen, weil auf der Bühne etwas 30 ungeschmückte Bäume stehen. Feierliche Stimmung. Überall sind von der Requisite Bücher verteilt worden und ich lege die dazu, die ich mitgebracht habe (u.a. "Liebesgedichte" von Bertolt Brecht – dem Haus treu bleibend-, "Grrrimm" von Karen Duve – eine bitterböse Abrechnung mit den Märchen der Gebrüder Grimm -. und der "Urfaust auf Hessisch" – Tilo Nest kommt wie ich aus Hessen), weil ich nicht kapiere, dass die vor allem aus Dekogründen da liegen. Das was gelesen werden soll, liegt nämlich auf einem kleinen Tischchen neben einem Sessel, in dem Tilo Nest Platz nimmt. Es handelt sich vorwiegend um Zettel mit selbstgeschriebenen Texten, die die anderen Zuschauer*innen auf die Probe stellen: Auszüge aus Romanen, eine kryptische Auflistung von Zahlen und Namen, ein Gedicht eines afghanischen Flüchtlings (Teilnehmer beim Poetry Project), dadaistische Kurztexte usw. Aber darum geht’s ja: Es muss gelesen werden, was die Zuschauer*innen ins Spiel bringen. Und der Vorleser hat die nicht ganz einfache Aufgabe, daraus eine Dramaturgie zu schaffen. Deswegen kann ein Brief des afghanischen Flüchtlings an die AfD auf ein witziges Gedicht folgen. Und es funktioniert!

Mit unter 20 Zuschauer*innen sind wir ein sehr kleiner Kreis, was die Lesung zu einem Erlebnis mit fast privatem Charakter macht. Ich find's wunderbar so, aber denke natürlich darüber nach, dass sich der Gastgeber sicherlich mehr Interessent*innen gewünscht hätte. Es ist ein Geschenk Tilo Nest – wunderbar angenehme Stimme und natürlich höchst professionell beim Vortragen auch der Texte, die ihm persönlich vielleicht nicht so zusagen – zuzuhören.

Und das beste kommt wie immer zum Schluss: Ein Teil der Zuschauer*innen findet sich nach der Veranstaltung mit dem Schauspieler in der Kantine ein, um über Schreiben, Lesen, Theater und viele andere Dinge bei einem Bier zu diskutieren. Nach eine paar Minuten fallen die Hemmungen und Masken. Wir freuen uns, uns in diesem Rahmen kennengelernt zu haben, Kontaktdaten werden ausgetauscht, denn über die Texte entstehen unerwartete Verbindungen und wir haben einen wunderbaren Abend bis die letzte Bahn fährt.

Hoffentlich gibt es in 2018 eine neue Ausgabe der Prima Vista Lesung!

6. Dezember 2017

Rückblick Oktober & November 2017: Eine Welt im Theater, ein Theater in der Welt

Mir fällt auf, dass der Oktober fast ausschließlich im Zeichen des Feminismus stand und gleichzeitig ein Vorbote auf die Themen im November war: Weltpolitik, Globalisierung, Demokratie.


OKTOBER

1.10.2017 Es sagt mir nichts das sogenannte draußen von Sibylle Berg (Maxim Gorki Theater)

Vier Schauspielerinnen spielen eine Frau – typische (?) Mitzwanzigerin, aber kein role models, wie sie selbst sagt. Keine Lust auf Zumba? Aber auch andere sagen, dass sie sich damit total gut fühlen („den Körper spüren“). Was ist so schlimm daran, zu Hause zu bleiben? Die Versprechungen der Party erfüllen sich ja doch nicht. Schließlich muss sie auf dem Laufenden bleiben, was die Liebes-Ent-und Verwicklungen des Schwarms angeht – das Handy immer am Start (nur mal kurz in die Nachricht gucken). Die Anrufe der Mutter, die wissen will, was sie so für die Zukunft geplant hat, stören da eigentlich auch nur. Lieber Typen verprügeln. Sibylle Berg hat einen Tex für vier Schauspielerinnen des Maxim Gorki Theaters geschrieben - und die sind vor allem eins: wütend - aber dabei auch unglaublich komisch. Sie zeigt, wie Frauenbilder von der Medien und der Werbung produziert werden. Körperkult und Fitnesswahn, Shoppingexzesse zwischen den BWL-Vorlesungen und der Vertrieb von selbstsynthetisierten Drogen über das Internet - wie soll Frau da wissen, wie sie leben soll?  

Vier Frauen auf der Suche nach dem richtigen Leben: Rahel Jankowski, Cynthia Micas, Suna Gürler, Nora Abdel-Maksoud (Foto: Thomas Aurin)

Das Stück wurde von der Fachzeitschrift „Theater Heute“ zum deutschsprachigen Stück des Jahres 2014 gewählt.

Text: Sibylle Berg
Regie: Sebastian Nübling
Choreografie: Tabea Martin
Bühnenbild: Magda Willi
Kostüme: Ursula Leuenberger und Moïra Gilliéron
Mit: Nora Abdel-Maksoud, Cynthia Micas, Suna Gürler, Rahel Jankowski


5.10.2017 revisited thisisitgirl von Patrick Wengenroth (Schaubühne)

Das war mein sechster Besuch dieser Inszenierungen. Es gibt aber auch immer noch Freund*innen, die dieses tolle Stück noch nicht gesehen haben. Hier noch mal ein Link zu meinem Bericht aus 2015.


19.10.2017 PREMIERE LENIN von Milo Rau (Schaubühne)

Nach der Oktoberrevolution 1917 kämpft Lenin (Ursina Lardi) in seinem Landhaus mit seinem körperlichen Verfall, mehrere Schlaganfälle führen dazu, dass er auf die Hilfe seiner Familie und Freund*innen angewiesen ist. Dieses Setting wählt Milo Rau für sein Stück. Und sein Nachfolger und Gegenspieler Stalin (Damir Avdic) wird immer stärker. Der Autor-Regissuer und das Ensemble der Schaubühne blicken auf die zentralen Charaktere der wohl folgenreichsten Revolution der Menschheitsgeschichte. Aufbruch und Apathie, Revolutionssehnsucht und reaktionäre Widerstände, ein Labyrinth der Hoffnungen und Ängste, der politischen Ideale und kollektiven Gewalterfahrung. Düster und beklemmend sieht man auf der Bühne und parallel per Video, was nicht aufzuhalten ist. Ein "Gruselfilm in historischen Kostümen" hat Milo Rau sein Inszenierung genannt. Die Schauspieler*innen verwandeln sich immer mehr in ihre Figuren, sie ziehen sich auf der Bühne um und erhalten ihre Masken. Auch wenn diese Inszenierung sich von den letzten Arbeiten Raus unterscheidet, ist hier doch das Re-Enactment zu erkennen. Während am Anfang noch alle deutsche sprechen, ist zum Schluss fast nur noch russisch zu hören.

Damir Avdic, Ursina Lardi, Jakov Ahrens (Foto: Thomas Aurin)

Essay zum Stück in Pearson's Preview: Schöpferische Unruhe: Milo Raus »LENIN«

Regie: Milo Rau   
Bühne und Kostüme: Anton Lukas, Silvie Naunheim   
Video: Kevin Graber   
Dramaturgie: Stefan Bläske, Florian Borchmeyer, Nils Haarmann   

Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin: Ursina Lardi   
Nadeschda Konstantinowna Krupskaja: Nina Kunzendorf   
Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Leo Trotzki: Felix Römer   
Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin: Damir Avdic   
Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski: Ulrich Hoppe   
Fjodor Alexandrowitsch Guetier: Kay Bartholomäus Schulze   
Pjotr Petrowitsch Pakaln: Lukas Turtur   
Lydia Alexandrowna Koschkina: Iris Becher   
Sapogow: Konrad Singer   
Feiga Shabat: Veronika Bachfischer   
Kinder: Jakov und Sophia Ahrens / Georg Arms und Lia Vinogradova / Benjamin und Mirjam Wachsmuth
Live-Kamera: Florian Baumgarten, Moritz von Dungern, Matthias Schoebe

Dauer: ca. 120 Minuten


23.10.17 Feminista, Baby! (Deutsches Theater)
nach dem SCUM-Manifesto von Valerie Solanas

1968 schoss Valerie Solanas auf Andy Warhol, verletze ihn lebensgefährlich. Jahre später verstarb der Künstler an den Spätfolgen dieses Attentats. Als Solanas nach den Gründen für die Tat gefragt wurde, verwies sie auf ihr Manifest: SCUM. Bedeutung? Abschaum. Aber auch Society for cutting up men. Auch: Eine Selbstbezeichnung einer weiblichen, zukünftigen Elite, "dominierenden, sicheren, selbstvertrauenden, widerlichen, gewalttätigen, eigensüchtigen, unabhängigen, stolzen, sensationshungrigen, frei rotierenden, arroganten Frauen, die sich imstande fühlen, das Universum zu regieren."

Den feministischen Text von Valerie Solanas, der voller Witz und Furor steckt, hat Jürgen Kuttner mit drei Schauspielern (Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose) im Deutschen Theater auf die Bühne gebracht. Ein feministisches Manifest gespielt von drei Männern - funktioniert das?

Zu Beginn des Stückes ziehen sich die drei Marilyn-Monroe-Kleider und -Perücken an und schminken sich. Und dann geht es los. Kuttner hat sich wohl dafür entschieden, die Texte von Solanas von Männern sprechen zu lassen, weil sie somit an Schärfe verlieren und koödiantischer wirken. Das ist keine schlechte Idee. Aber trotzdem denke ich die ganze Zeit: Wie wäre es, wenn das jetzt eine Frau sagen würde. Am Ender legen die Schauspieler die Frauenkleider wieder ab und steigen in ihre Männerklamotten. Alles nur ein Spiel. Alles nicht ganz ernst?

Kuttner selbst spielt auch mit: Prototyp des Machos und deswegen schwer erträglich. Diese plakative Vorstellung braucht es für mich nicht, ärgert eigentlich nur. Solanas Text reicht doch.

Das Beste an dem Abend sind die Songs von Christiane Rösinger, die einzig wahre Feministin des Abends.

Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner
Bühne: Jo Schramm
Kostüme: Daniela Selig
Musik: Christiane Rösinger, Andreas Spechtl

Jürgen Kuttner, Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose
Live-Musik: Christiane Rösinger, Andreas Spechtl, Ramin Bijan
Live-Kamera: Marlene Blumert, Bernadette Knoller


30.10.17 Die Entführung Europas (Berliner Ensemble)
Ein Crime Noir von Alexander Eisenach

...oder der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft.

Der Privatdetektiv Max Messer (Alter Ego von Heiner Müller) wird beauftragt, die verschwundene Europa ausfindig zu machen. Tipps erhält er vom Börsenspekulaten Teiresias. Nach einer durchzechten Nacht befindet er sich im Kongo, verwirrt und ohne eine Ahnung, welche Zeit gerade herrscht. Autor und Regisseur Alexander Eisenach nimmt ein Hörspiel von Heiner Müller als Vorlage für sein Stück, um zentrale Fragen unserer Gegenwart zu stellen: Kann Europa, das noch vor wenigen Jahren ein Versprechen schien, neues Leben eingehaucht werden? Oder wird unser auch kulturell vielfältiger Kontinent unter der Vorherrschaft des ökonomischen Paradigmas weiter an Attraktivität einbüßen?

Regie: Alexander Eisenach
Bühne: Daniel Wollenzin
Kostüme: Lena Schmid , Pia Dederichs
Musik: Sven Michelson
Video: Mareike Trillhaas
Dramaturgie: Frank Raddatz

Max Messer: Christian Kuchenbuch
Grace / Europa: Stephanie Eidt
Margaret: Kathrin Wehlisch
Jupiter Kingsby: Peter Moltzen
Teiresias: Laurence Rupp



NOVEMBER

01.11.17 General Assembly: Was ist globaler Realismus? - Diskussion mit Harald Welzer und Milo Rau (Schaubühne)

Moderation: Doris Akrap (taz)

Als Auftakt zur General Assembly und anlässlich des Erscheinens des Buches »Wiederholung und Ekstase« wurde im Rahmen dieser Diskussionsrunde der Versuch unternommen, die Hintergründe für soziale und politische Ungerechtigkeit im 21. Jahrhundert, zu erklären. Dabei wurden folgende Fragen angeschnitten: Was sind die Aufgaben und Grenzen eines Weltparlaments im Zeitalter von globalem Kapitalismus, Klimawandel und Massenmigration?

In Kooperation mit FuturZwei, Diaphanes Verlag und taz.die tageszeitung.

03.-5.11.2017 General Assembly: Plenarsitzungen (Schaubühne)

07.11.17 General Assembly: Sturm auf den Reichstag (Schaubühne)

Einen ausführlichen Bericht zu den Sitzungen der General Assembly und dem Sturm auf den Reichstag habe ich bereits veröffentlicht. 


18.11.2017 revisitd Bella Figura von Yasmina Reza (Schaubühne)

Eine Freundin hat sich gewünscht, dieses Stück (Regie: Thomas Ostermeier), deren Rollen Reza auf die Schauspieler*innen zugeschnitten hat, zu sehen. Also habe ich es nach gut zweieinhalb Jahren noch mal angeschaut. Es kratzt ja immer etwas an der Boulevard Komödie, ist es aber dank seiner Dialoge dann eben doch nicht. Natürlich ist das eingespielte Duo Hoss-Waschke sowie das übrige Ensemble weit davon entfernt Boulevard zu sein. Die Anleihen sind vielleicht gewollt? Neben mir die Freundin kommentiert: Das ist wie bei uns zu Hause! Wie viele im Publikum denken das auch? Und wieder bin ich entzückt von der perfekten Auswahl der Kostüme (Florence von Gerkan).

Die Fassade bröckelt: Renato Schuch, Lore Stefanek, Nina, Hoss, Mark Waschke und Stephanie Eidt (Foto: Arno Declair)


21.11.17 Filmvorführung & Diskussion: Ein Volksfeind unterwegs (Freunde der Schaubühne e.V.)

Es passt, dass der Volksfeind-Film, der von den weltweiten Gastpielen der Schaubühne mit der Inszenierung "Ein Volksfeind" von Thomas Ostermeier, handelt, die weltpolitischen Themen, die in der General Assembly verhandelt wurden, beinhaltet. Für die Freund*innen der Schaubühne wurde die zweistündige Dokumentation über die Aufführungen der Inszenierung in Instanbul, London, Moskau, Torun, Seoul, Dehli, Santiago de Chile u.a. Städten exklusiv gezeigt. Die Filmemacher Matthias Schellenberg und Andreas Nickel waren anwesend und standen im Anschluss für eine Diskussion mit den Freundekreismitgliedern zur Verfügung.

Bisher ist noch nicht sicher, in welchem Rahmen, der Film noch einmal gezeigt wird. Interessierte können sich aber in der Mediathek der Schaubühne Ausschnitte ansehen.

10. November 2017

General Assembly vom 3.-5.11. & Sturm auf den Reichstag am 7.11. - Ein Fazit (Wenn die persönlichen Probleme ganz klein werden)

Ein wahnsinniges Projekt. Wie soll man 19 Stunden in sieben Sitzungen und die Wortbeiträge von 60 Abgeordneten plus Diskussionen bei diesem Weltparlament in ein paar Worte fassen? Ist es möglich ein Fazit zu ziehen? Kann ich eigentlich darüber urteilen, ob die General Assembly sinnvoll, richtig und erfolgreich war?

Das Weltparlament in der Schaubühne.


Ob die Idee, ein Weltparlament zu inszenieren funktioniert hat, ist eine der Fragen, die sich stellt. Die Antwort: Ja. Schon allein, weil die General Assembly stattgefunden hat. Mit echten Akteur*innen und echten Fragen der Weltpolitik, in ernsthaften Debatten. Das Ziel: Demokratische Strukturen finden, die die gesamte Welt betreffen.

Ist es dann überhaupt noch Theater? Ja und nein. Tatsächlich hätte dieses Weltparlament nicht stattgefunden, wenn es nicht als Theaterprojekt mit einem vorher festgelegten Ablauf, mit von der Regie bestimmten Regeln und ausgewählten Parlamentarier*innen geplant worden wäre. Andererseits handelt es sich um echte Probleme der Welt, um Betroffene mit wahren Geschichten und tatsächlicher Geschichte. Das Theater (die Schaubühne als Raum und Rahmen) bildet dabei nur die Möglichkeit, dies alles überhaupt stattfinden zu lassen. Es sei performativ, so Robert Misik in seiner Rede in der Abschlusssitzung, und daher Theater. Aber indem es so tue, als sei es ein echtes Weltparlament, sei es das letzlich auch. Die Utopie eines Weltparlaments ist wahr geworden, allein dadurch, dass es jemanden gab, der sie "einfach" umgesetzt hat.

Wäre ein nicht-inszeniertes Weltparlement ebenso abgelaufen, wie an diesen drei Tagen am vergangenen Wochenende? Nein. Denn vermutlich wären andere Personen an der Generalversammlung beteiligt gewesen. Die Regeln wären andere gewesen (z.B. mehr Raum für Diskussionen für die einzelnen Themen und Anträge, vielleicht mehr Antagonist*innen, womöglich mehr Mitbestimmung den Ablauf betreffend). Doch: Die General Assembly hat nie für sich in Anspruch genommen, perfekt zu sein oder die ideale Plattform für die Fragen der Weltpolitik darzustellen. Wichtig ist, dass sie ein Anfang ist. Auch wenn in der Abschlusssitzung Kritik an der Form und den Abläufen geübt wurde, ist am Ende doch jedem und jeder klar geworden - so zumindest mein Eindruck - dass es ein Weltparlement braucht und die Idee Nachahmer*innen finden muss.

Das Weltparlament wird weitergehen in anderen Städten und Ländern, mit den gleichen und teilweise anderen Abgeordneten. Der Anfang war voller Fragen, z.B. wie die Abgeordneten in Zukunft ausgewählt werden, resümmierte Milo Rau.

Ein Fazit von Regisseur Milo Rau.

Und die General Assembly hat noch mehr bewirkt: Noch nie habe ich erlebt, dass ein Theaterpublikum so intensiv, hitzig und wach in den Pausen diskutierte. Und dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob nun Freund*in oder Fremde*r gerade da stand. Alle fühlten sich als Teil des Geschehens auf der Bühne des Theaters. Trotz unterschiedlichster Meinungen, waren alle Menschen, die als Beobachter`*innen, die Sitzungen verfolgten so stark involviert, dass sich niemand entziehen wollte. Und da werden die persönlichen Sorgen und Nöte auf einmal ganz klein und unwichtig.

Kein Publikum mehr

Wir hatten miterlebt, wie einer der Parlemtarier von den weiteren Sitzungen ausgeschlossen werden sollte, weil er den Genozid an den Armenieren geleugnet hatte. Genauso so groß wie die Empörung über die Aussage des AKP-Anhängers saß der Schock, darüber, dass es hier ja dann doch eine Regie gab, die den Ausschluss bestimmen kann. Verstärkt wurde diese Schrecksekunde durch die Aussage des Parlamentspräsidenten, der erklärte er sei "just an actor" und müsse die Anweisung der Regie befolgen. Theater oder nicht...?! Die Frage: Kann oder muss der Raum, das Theater, die Form die Menschen dort oben schützen oder muss man sich hier genau darüber hinwegsetzen? Meines Erachtens war der Ausschluss richtig, aber weil sie als Regieanweisung kam (oder so wirkte), entstand das Gefühl, dass hier über die Köpfe der "eigentlichen" Entscheider*innen bestimmt wurde. Weil die Parlamentarier*innen jedoch darauf insistierten, abstimmen und entscheiden zu können, ob der Delegierte bleiben kann oder nicht, bewiesen sie ihre Macht. Der Ausschluss wurde rückgängig gemacht, die Regie stand trotz begründeter Einwände eine Fehlentscheidung ein. 

Dieser Vorfall zeigte, dass das Konzept des Weltparlements noch vieler Verbesserungen bedarf. Sie zeigte aber aber auch, dass die Idee der Selbstermächtigung funkioniert. Die Regie war nötig, um die Utopie umsetzen zu können. Aber sobald diese Utopie einmal real wird, entwickelt sie sich von allein.

Noch mal Robert Misik: Das Parlament der Träume sei auch eines der Alpträume.
Die Folgen der Kolonialisierung, die Ausbeutung von Menschen, Tieren und der Umwelt, die Macht der Konzerne, die Folgen des Konsums der westlichen Welt, der durch uns verursachte Klimawandel, Hunger, Folter, Krieg - all das wissen wir ja eigentlich, aber es ist auch irgendwie wichtig, dies in allen schonungslosen Einzelheiten noch mal geschildert zu bekommen, auch wenn es oft schwer zu ertragen ist. Damit wir hier in unserem gemütlichen Theatersessel darüber nachdenken, dass es so wie es ist, nicht bleiben kann. "Sie können uns nicht alles nehmen und dann erwarten, dass wir nicht kommen" sagte Abou Bakar Sidibé (Filmemacher aus Mali). Und "Afrika ist die Mülldeponie für die Konsumprodukte der westlichen Welt" erklärte die Aktivistin Joana Adesuwa Reiterer.

Jeder*r kann in seinem Leben und Konsumverhalten etwas ändern, um die inakzeptablen Zustände nicht weiter zu fördern. Aber genauso wichtig ist es auch, dass die von uns gewählten Politiker*innen, sich dieser Probleme annehmen und Lösungen dafür anbieten. Die Abgeordneten der General Assembly repräsentierten diejenigen, die von den Entscheidungen der Politik betroffen sind, aber kein Mitspracherecht haben. Aber globale Politik muss mit einem globalen Parlament gemacht werden.

Weltparlament für alle und alles


Daher sollte am Ende der General Assembly die Verabschiedung eine Charta für das 21. Jahrhundert stehen, die mit dem Sturm auf den Reichstag dem Deutschen Bundestag symbolisch übergeben werden sollte. Elf Anträge wurden von der Generalversammlung angenommen, zwei abgelehnt, zwei konnten aufgrund von Formulierungsfragen nicht entschieden werden. Aus diesen Anträgen und den diskutierten Erweiterungsvorschlägen wird in den nächsten Tagen in Zusammenarbeit mit den politischen Beobachter*innen die finale Charta für das 21. Jahrhundert entstehen. Diese wird in verschiedenen europäischen Parlamenten, auch dem Deutschen Bundestag, verlesen werden.

Da müssen wir mit unseren Forderungen hinein! Der Sturm auf den Reichstag.

Der Sturm auf den Reichstag war vor allem eine letzte Zusammenkunft aller Beteiligten, Abgeordneten, Unterstützer*innen (auch Mitglieder des Bundestages waren dabei) und ein guter Abschluss der General Assembly. Wir haben den Reichstag nur symbolisch gestürmt, d.h. bis zur für uns vorgesehenen Abgrenzung. Aber es hat gut getan, zu sehen, wie etwas in Gang gesetzt wurde, was nun hoffentlich überall auf der Welt wiederholt werden wird.

Ein wahnsinniges Projekt - ja. Aber so wichtig und so richtig!

Themen, Abgeordnete, Ziele der General Assembly.

Idee & Umsetzung: International Institute of Political Murder (IIPM )/ Milo Rau.

Kooperationspartner: Schaubühne am Lehniner Platz


Fotos: Elmar Engels, Maren Vergiels