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20. November 2018

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 19: Total Therapy - Therapeutisierung des Alltags

Max Penthollow schreibt mir...

Liebe Maren,

am 13. November war ich bei der Premiere von Interrobangs neuer Performance "Total Therapy" im Festsaal der Berliner Sophiensäle.

In der Programm-Ankündigung steht: "in Total Therapy widmen sich Interrobang der zunehmenden Therapeutisierung des Alltags. Im Zuge von gesteigerter Selbstoptimierung, omnipräsentem Coaching und allgegenwärtiger Feedbackkultur werden immer weitere Lebensbereiche therapeutisiert."

Interrobang ist eine Performancegruppe aus Berlin.

Wir sind im Festsaal der Sophiensäle, gefühlt etwa 50 Theatergäste, Frauen und Männer. Im Raum stehen mehrere mit Buchstaben bezeichnete runde weiße Tische mit umgebenden Stühlen, am Boden sind große kreisrunde weiße Felder angelegt, es gibt das stufenförmige Theater-Podest, mehrere Kabinen mit weißen Vorhängen und ein Info-Center in der Mitte des Saals. Es ist ein Spiel und dauert zwei Stunden. Es gibt mehrere Spielgruppen mit jeweils wechselndem Teilnehmerinnen und Teilnehmern und dazu jeweils jemand vom Performance-Team, die oder der die jeweilige Gruppe in der jeweiligen Spielphase leitet. Teilweise findet das Spiel im freien Raum statt, teilweise an den runden Tischen.

 Erste Runde: Was denken wir über unsere Mitspieler*innen? (Foto: Renata Chueire)

Wir alle bekommen einen weißen Rucksack. Wir beurteilen die anderen und die anderen beurteilen uns, mit jeder Menge Vorurteilen, anhand kleiner weißer Zettel mit vorgefertigten Aufdrucken, die wir beliebig verteilen oder zuweisen können: "du hilfst den Nachbarn im Treppenhaus" oder "du hast versucht, die anderen zu übervorteilen". Alle Zettel kommen in den Rucksack. Wir bekommen Attribute in Form von bunten Spielkarten mit Aufschriften, z.B. Dominanz, Ehrgeiz, Bosheit und Mitgefühl. Wir spielen in kleinen Gruppen miteinander um den Erfolg und geben und erhalten Feedback in Form von Anerkennung oder Ablehnung, dementsprechend bekommen die anderen und bekommen wir Eigenschaften zugewiesen. Daraus entsteht jeweils ein individuelles Bild unserer Persönlichkeit.

Zweite Runde: Eigenschaften gewinnen oder verlieren (Foto: Renata Chueire)

Im letzten Viertel der Spielzeit und nachdem wir selbst erlebt haben, wie willkürlich und beliebig und zusammenhangsfrei wir untereinander Feedback und Eigenschaften vergeben und erhalten haben, geht das Spiel in eine Phase der Meditation. Wir bekommen Kopfhörer mit Frauenstimmen und Männerstimmen, die uns weiter begleiten. Die Stimmen leiten uns an, unsere im Spiel erlebten Begebenheiten und Situationen des Spielverlaufs nochmals in Gedanken an uns vorüberziehen zu lassen und zu reflektieren. Für mich war diese Phase eine besonders schöne, entspannende kathartische Situation. Aus dem Kopfhörer vernehmen wir phasenweise weitere beliebige an uns persönlich gerichtete anerkennende oder abwertende Kommentare zu unserer Persönlichkeit. In einer Kabine mit weißem Vorhang betrachten wir uns selbst im Spiegel und bekommen durch eine Lücke in der weißen Kabinenwand einen Gegenstand gereicht, einen kleinen bunten Holzpropeller oder ein kleines rotes Reh aus Plastik. Zum Abschluss begeben wir uns unterer weiterer Kopfhörer-Anleitung zum Podest und suchen uns dort einen Platz aus. Dann gestalten wir unter Anleitung auf den Boden-Ebenen des Podests unsere eigene Collage aus dem Inhalt unseres weißen Rucksacks, den Gegenständen und Zetteln und Eigenschafts-Spielkarten. Nur für uns allein und so wie wir es wollen. Jetzt sind wir ganz bei uns. Niemand bewertet unsere Collagen außer uns selbst. Für mich ist jetzt alles so richtig wie ich es mache und alles ist gut.
 
Bin ich das wirklich? (Foto: Renata Chueire)


Ich habe die Runde sehr genossen und bewundere es sehr, mit welcher Liebe und Hingabe Interrobang sich hier wieder ein wunderbares Spiel für uns ausgedacht haben. Wir alle spielen mit und erleben dabei, jeder für sich, wie relativ Selbstoptimierung, Coaching und allgegenwärtiges Feedback sein können. Wir erleben, wie gut es uns tun kann, in unserem eigenen Leben und Alltag eine Distanz zum Mainstream und zu unserem eigenen Anteil am Mainstream zu finden. So jedenfalls habe ich es erlebt.

Danke, Interrobang!

Allerliebste Grüße

Max


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Konzept: Interrobang
Von und mit: Bettina Grahs, Lisa Großmann, Kaja Jakstat, Elisabeth Lindig, Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg
Bühne / Kostüm: Silke Bauer
Musik: Friedrich Greiling
Lichtdesign / Technische Leitung: Dirk Lutz Produktion ehrliche arbeit – freies Kulturbüro
Öffentlichkeitsarbeit: Tina Ebert
Hospitanz: Miriam Bach
Fotografie: Paula Reissig
Fotocollage: Silke Bauer

Eine Produktion von Interrobang in Koproduktion mit Schauspiel Leipzig, WUK Performing Arts Wien und SOPHIENSÆLE. Gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa und die Konzeptionsförderung des Fonds Darstellende Künste e.V. – aus Mitteln des Bundes.

Weitere Termine:
Residenz Schauspiel Leipzig
11.-18. April 2019

WUK Wien
Termine tbc

Bemerkenswerte Produktionen von Interrobang aus den vergangenen Jahren, über die wir berichtet haben:
Brot und Spiele
Der Prozess 2.0
To Like Or Not To Like


3. März 2018

Rückblick Februar 2018: Brot & Spiele und Worte & Bewegung

Im kurzen Februar habe ich nur zwei - dafür aber eindrückliche - Stücke gesehen.


03.02.2018 BROT und SPIELE von Interrobang (Sophiensäle)

Mitmachen im Theater - nicht jedermanns Sache. Aber bei Interrobang gehörts dazu. Dass man bei der neuesten Produktion der freien Performancegruppe über das Schicksal der Protagonist*innen auf der Bühne in der Weise mitbestimmen kann, dass sie sogar "Demütigungen" - ob berechtigt oder unberechtigt - aushalten müssen, macht die Zuschauer*innen zu Beteiligten. Und so merken wir irgendwann, dass wir selbst Spieler*innen werden. Die Botschaften: Als Nutzer*innen von Online Angeboten geraten wir schneller in ein Spiel, dass wir (vielleicht) nicht mehr kontrollieren können, als wir glauben. Wenn aus dem Spiel Ernst wird, können wir nicht einfach aufhören, denn wir sind auch abhängig von den anderen "Mitspieler*innen". Selbst entscheiden, wann es genug ist? Fehlanzeige!


23.02.2018 revisited TRUST (Schaubühne)

Im April 2010 habe ich dieses Stück zum ersten mal gesehen. Und seit dem immer, immer wieder (ich habe aufgehört zu zählen, wie oft). Mit Freund*innen, die oft ins Theater gehen und mit denen, die ich dafür begeistern will. Trotz einigen Umbestzungen immer wieder ein Highlight. Fürs Herz und für den Kopf.
Hier mein Bericht vom ersten Besuch.

Tanz ergänzt Worte (Foto: Heiko Schäfer)

26. März 2017

Rückblick Februar & März 2017: Über Schuld, Kunst und Karrieristen

Auch wenn der Februar natürlich vor allem von der Berlinale bestimmt wurde, blieb immer etwas Zeit fürs Theater. Und weil Ende März schon wieder das FIND (Festival Internationale Neue Dramatik an der Schaubühne am Lehniner Platz - 30.3. bis 9.4.) beginnt und ich hierfür eigene Beiträge geplant habe, fasse ich die letzten beiden Moante in einem Artikel zusamen.


FEBRUAR
01.02.17 Interrobang: Der Prozess 2.0 (Sophiensäle)
Ein Schuldlabyrinth nach Kafka. Theater zum Mitmachen. Mitmachen müssen, können, sollen. Nach dem Betreten des Parcours, müssen die Zuschauer*innen (=Teilnehmer*innen) dieses Theaterprojekts sich ihren persönlichen Ordner abholen, verschiedene Fragen beantworten, Aufgaben erledigen und sich entscheiden, welchen persönlichen Weg sie gehen wollen. All das wird von einem Gericht ausgewertet und in einer Verhandlung für und gegen einen vorgetragen. Das sogenannte "Innere Gericht" verurteilt zunächst noch präzise und detalliert, später im Sammel- und noch später im Eilverfahren jede*n zum Handeln. Dabei spielt es für das Gericht gar keine Rolle mehr, was wirklich hinter den Antworten steckt und (scheinbar) willkürlich werden einzelne Sätze oder Aussagen aus der Akte gegen eine*n verwendet. Eine Mischung aus "Bloß nicht meinen Fall verhandeln" und "Warum nicht meine Akte? Bin ich etwas so langweilig?" macht sich breit. Und was dabei verdächtig im Raum schwebt, ist die Tatsache, dass es egal ist, wie man sich verhält oder was man denkt, alles kann gegen mich verwendet werden. Die Zusammenhänge sind gleichgültig. Und wie Josef K. in Kafkas Prozess, hege ich den Verdacht, dass an dem, was das Gericht da gegen mich vorbingt, vielleicht etwas dran sein könnte...
Interrobang schafft es, die gegenwartsrelevanten Motive aus Kafkas Klassiker in ein instellatives Stück zu packen und die Zuschauer*innen dabei ordentlich aufzurütteln.

Von und mit Till Müller-Klug, Nina Tecklenburg, Lajos Talamonti, Elisabeth Lindig


02.02.17 Zeit der Kannibalen von Johannes Naber nach dem Drehbuch von Stefan Weigl (Vagantenbühne)
Sollte man einen Film einfach so nachspielen? Die Verfilmung mit Katharina Schüttler, Sebastian Blomberg und Devid Striesow ist großartig - keine Frage. Die kammerspielartige Kapitalismus-Kritik mit dem bösen Humor und der Darstellung der Busninessmenschen, deren Welt in nur wenigen Stunden ins Wanken gerät, bietet sich auch fürs Theater an. Dennoch habe ich von dieser Inszenierung  etwas Neues erwartet. Allerdings ist für diejenigen, die den Film nicht kennen, die Bühnenadaption sicher sehr lohnenswert. Meine Empfehlung: Hingehen sollte, wer den Film nicht kennt.

Regie: Bettina Rehm

Mit Björn Bonn, Johann Fohl, Senita Huskić, Hannah von Peinen, Joachim Villegas und Axel Strothmann


03.02.17 Love Hurts In Tinder Times von Patrick Wengenroth (Schaubühne)
Gleich mal vornweg: Mit Tinder hat das Stück (zum Glück) gar nicht so viel zu tun. Tinder Times steht viel mehr für diese Zeit, in der viele nach neuen Wegen des Zusammenlebens und von Liebesbeziehungen suchen. Kann ich einen exklusiven Anspruch auch eine*n Partner*in erheben? Warum schmerzt es den*die andere*n, wenn man sich außerhalb der Beziehung Befriedigung und Bestätigung sucht? Und: Ist es nicht immer ganz anders als es aussieht? Garniert wird dieser Wengenroth-Abend (wie immer) mit viel Musik, diesmal vorrangig aus den 80ern. Und so findet auch der kürzlich verstorbene George Michael seinen Platz im Stück. Die sich nackt in Farbe wälzenden und Kunst machenden Protagonist*innen (Mark Waschke, Lise Risom Olsen, Andreas Schroeders) sehe ich weniger als Provokation, denn als humorvolle gedachte Anspielung auf Performance Künstler und vielleicht sogar das Theater selbst.

Realisation: Patrick Wengenroth   
Bühne: Mascha Mazur   
Künstlerische Mitarbeit Bühne: Céline Demars   
Kostüme: Ulrike Gutbrod   
Musik: Matze Kloppe  

Mit Matze Kloppe, Lise Risom Olsen, Andreas Schröders, Mark Waschke, Patrick Wengenroth

Andreas Schröders, Mark Waschke, Lise Risom Olsen (Foto: Gianmarco Bresadola)


Essay zum Stück in Pearson's Preview: LOVE HURTS IN TINDER TIMES. Ein Gespräch mit Patrick Wengenroth


12.02.17    revisited Hedda Gabler von Henrik Ibsen (Schaubühne)
Nach vielen Jahren mal wieder dieses Stück. Die Angst vor dem sozialen Abstieg, jede*r kennt sie und erkennte sich in dem Stück wieder. Man kann Hedda (Katharina Schüttler) und ihr Handeln gleichzeitig verabscheuen und bemitleiden. Und wie steht es um ihren Mann Jorgen Tesmann (Lars Eidinger) und den um seine Arbeit betrogenen Eilert Lovborg (Kay Bartholomäus Schulze)? Das Besondere an dem Stück ist, dass man keine*n so richtig mag oder hasst. Zerissen, betroffen, gerührt verlässt man das Theater.

Lore Stefanek, Katharina Schüttler, Lars Eidinger (Foto: Arno Declair)

Regie: Thomas Ostermeier   
Bühne: Jan Pappelbaum   
Kostüme: Nina Wetzel   
Musik: Malte Beckenbach   
Dramaturgie: Marius von Mayenburg   
Video: Sébastien Dupouey   

Jørgen Tesman, Privatdozent der Kulturgeschichte: Lars Eidinger   
Frau Hedda Tesman, seine Frau: Katharina Schüttler   
Fräulein Juliane Tesman, seine Tante: Lore Stefanek   
Frau Elvstedt: Annedore Bauer   
Richter Brack: Jörg Hartmann   
Eilert Løvborg: Kay Bartholomäus Schulze
 


MÄRZ
04.03.17 Denial von Yael Ronnen (Maxim-Gorki-Theater)
Das Stück über Verleugnung und Verdrängung wurde von Yael Ronen gemeinsam mit den Schauspieler*innen entwickelt. In verschiedenen Konstellationen zeigen sie, was es bedeutet, wenn man versucht, die Realität zu verarbeiten, zurechtzubiegen oder einfach zu verstehen. Coming out, Intoleranz und Gewalt in der eigenen Familie, politische Verfolgung und andere traumatische Erlebnisse werden in kurzen Szenen aufgearbeitet bzw. dargestellt. Wie immer bei Yael Ronen wechseln sehr traurige und berührende Geschehnisse mit witzigen Einschüben. Und nie weiß man - auch das ist typisch für ihre Stücke - was aus den Biographien der Schauspieler*innen stammt und was Fiktion ist.

Regie: Yael Ronen
Bühnenbild: Magda Willi
Kostüme: Amit Epstein
Musik: Nils Ostendorf
Video: Hanna Slak

Mit Oscar Olivo, Dimitri Schad, Cigdem Teke, Maryam Zaree und Orit Nahmias.


23.03.17 re-revisited Stück Plastik (Schaubühne)
Darf man Geld rumliegen lassen, wenn die Putzhilfe da ist? Ist Michael, der für Ärzte ohne Grenzen nach Afrika gehen will, ein Egoist? Warum hat Ulrike als Künstlerin versagt?  Und ist Sohn Vincent ein Junge oder ein Mädchen? Diese und viele, viele andere Fragen werden im Stück verhandelt, vielmehr wird darüber gestritten. Das eigentlich interessante ist aber auch, dass die Person, die den Streitimpuls gibt, überhaupt nichts zur Debatte beitragen kann, weil sie einfach nicht zu Wort kommt. Sie drückt sich im Gesang aus, im Gespräch mit dem 12jährigen Sohn der Familie, für die sie putzt und übt Rache. Dialoggewaltiges und äußerst lustiges Stück über richtiges und falsches Verhalten, kommunizieren und zuhören. Stück Plastik von Marius von Mayenburg schrammt manchmal knapp an einer Boulevard-Komödie vorbei und ist deswegen gerade so gut. Die zahlreichen Anspielungen auf die Kunstwelt und das eigene Milieu mit den zackigen Monologen (die von den brillanten Schauspieler*innen einfach mitreißend gespielt werden) machen die Inszenierung zu einer Perle im Spielplan.

Mit Marie Burchard, Robert Beyer, Laurenz Laufenberg, Sebastian Schwarz und Jenny König.
Regie: Marius von Mayenburg


25.03.17 re-visited Professor Bernhardi von Arthur Schnitzler (Schaubühne)
Spannend wie beim ersten mal. Die Aktualität dieses Stückes ist so groß, dass bei fast jeder Szene der Puls hoch geht. Wie in der Sitzungszene die Intrige gegen Professor Bernhardi entsponnen wird - da muss man sich empören. Aber es gibt in dieser Inszenierung nicht immer ein klares Gut und Böse, Richtig oder Falsch. Keine unverfälschten Sympathien. Und das lässt einen noch lange über den Abend hinaus nachdenken.


Damir Avdic, Laurenz Laufenberg, Veronika Bachfischer, Jörg Hartmann (Foto: Arno Declair)

Regie: Thomas Ostermeier   
Bühne: Jan Pappelbaum   
Kostüme: Nina Wetzel   
Musik: Malte Beckenbach   
Wandzeichnungen: Katharina Ziemke

Dr. Bernhardi: Jörg Hartmann   
Dr. Ebenwald: Sebastian Schwarz   
Dr. Cyprian: Thomas Bading   
Dr. Pflugfelder: Robert Beyer   
Dr. Filitz: Konrad Singer   
Dr. Tugendvetter: Johannes Flaschberger   
Dr. Löwenstein: Lukas Turtur   
Dr. Schreimann/Kulka, ein Journalist: David Ruland   
Dr. Adler: Eva Meckbach   
Dr. Oskar Bernhardi: Damir Avdic   
Dr. Wenger/Krankenschwester: Veronika Bachfischer   
Hochroitzpointner: Moritz Gottwald   
Professor Dr. Flint: Hans-Jochen Wagner   
Ministerialrat Dr. Winkler: Christoph Gawenda   
Franz Reder, Pfarrer: Laurenz Laufenberg   

2. Dezember 2015

Die Datenwolke sind wir: Maren und Max bei Interrobang in den Sophiensälen

 Max und ich waren zusammen im Theater...


"To Like Or Not To Like"- Berliner Performancegruppe Interrobang - Sophiensäle - Oktober 2015

Heitere und schaurig-spannende interaktive Big Data-Erlebnisshow mit fiesem aber allgemein bekanntem Ergebnis: unser Leben ist Teil eines globalen Daten-Universums.

MAX: Wir sitzen auf unseren Stühlen, vorn ist die Bühne, die Leinwand, nach hinten steigt der Zuschauerraum an. Neben jedem Stuhl ist ein weiterer Stuhl mit einem zum Sitz gehörigen nummerierten Telefon. Stühle und Telefone sind von der ersten zur zweiten und zu den weiteren Reihen jeweils versetzt. 50 Besucher/Innen passen so in den Saal, den Hochzeitssaal der Sophiensäle. Vorn ist eine große Leinwand, so hoch wie der Saal.

Der Einlass erfolgt jeweils in Zweiergruppen. Zu Beginn wird von jedem ein Foto gemacht und wenn er oder sie  in den Theaterraum geht und sich auf den ihm oder ihr zugewiesenen nummerierten Platz setzt, dann kann er sein Foto und die Fotos der anderen schon fotografierten Theaterbesucher/Innen schon in Farbe in einer seifenblasen-artigen Kugel vor einem hellblauen Hintergrund auf der Leinwand sehen. Es kommen immer neue Kugeln, bis alle 50 Personen im Saal sind. Die Kugeln sind immer in Bewegung und stoßen sich bei gegenseitigem Kontakt jeweils gegenseitig ab.

MAREN: Als das Foto gemacht wird, überlege ich mir natürlich, ob das jetzt schon zu viel Preisgabe, zu viel Zugeständnis ist. Ich weiß ja, dass es um „Big Data“ geht und darum, inwieweit man bereit ist, etwas von sich  - also auch ein Bild von sich – der Öffentlichkeit oder wem auch immer zur Verfügung zu stellen. Ich lasse es geschehen und habe gleich ein schlechtes Gewissen. Es gibt übrigens ein paar Zuschauer, die das verweigern und sich nicht fotografieren lassen oder etwas vor die Kamera halten.

Dann kommt eine Schrift: bitte den Hörer abnehmen. Wir nehmen den Hörer ab, werden von einer wohlklingenden Frauenstimme freundlich begrüßt und dürfen jetzt an einer Befragung teilnehmen.
Von uns bzw. unseren Mit-Theaterbesuchern werden mehrere Fotos mit Nummern projiziert, z.B. 1 bis 4, dazu kommen Fragen, z.B. diese vier Personen sind Mitglieder einer Wohngemeinschaft, von wem möchten Sie sich bekochen lassen?

Oder: die hier abgebildeten Personen sind Mitglieder einer Terrorgruppe. Wer von ihnen ist der Anführer, das „Gehirn“?

Oder: diese sechs Personen suchen eine Wohnung. Wer von ihnen hat die größten Chancen, die Wohnung zu bekommen Wähle die 6, wenn du es bist.

Oder: Wer von diesen vier Personen besticht den Makler?

Die Bildzusammenstellungen werden vom System generiert.

Wer von diesen Personen bricht beim Marathonlauf 100m vor dem Ziel zusammen? Es ist viel Raum für unsere Vorurteile.

Es folgen weitere Bilder, von Menschen am Lagerfeuer, vom Grill, von einem Philharmonischen Orchester und die Frage dazu: bist du dabei? – da kann man die Tasten von 0 bis 6 drücken.

Jaja, ich ahne es schon: Gleich kommt mein Bild auch mit irgendeiner Frage. Hoffentlich ist es nichts Peinliches! Als mein Bild erscheint wird gefragt: „Welche Person halten Sie für autoritär?“ Ich bekomme viele Stimmen. Ist das jetzt gut oder schlecht?


Dann können oder sollen wir auch miteinander telefonieren und uns zu den Fragen austauschen: „wie haben die Neuen Medien dein Leben verändert?“ oder „ist es möglich die eigenen Daten zu schützen?“

Gibt’s ja nicht: Ich telefoniere mit Max. Er hat mich versehentlich angerufen, weil er sich vertippt hat. Wir werden aber bald unterbrochen und ich werde von einer anderen Zuschauerin angerufen. Wir reden darüber,  wie es „früher“ mit dem Telefonieren und Verabreden war. Ist auch so ein Klischee. Aber, hey, ich hab das halt wirklich noch so gemacht. Früher. Vor dem Handy. Ich bin 40. Kenne also das und das danach.

Dann können wir auch neue Telefonpartner/Innen wählen, aus 50 nummerierten projizierten Fotos von den Teilnehmer/Innen, einfach die Nummer wählen und weiter geht’s.

Wer nicht drückt oder zu langsam ist, der ist dann aktuell nicht dabei.

Schließlich werden die Meta-Daten ermittelt, z.B. von bestimmten Profilen, die Schnelldrücker, die Verweigerer, die nicht oder zu langsam gedrückt haben.

Dann spricht das System mit freundlicher wohlklingender Männerstimme mit uns, fordert uns auf, eine Frage mit ihm zu erörtern, wenn wir wollen. Wer die 1 drückt, ist weiter dabei, wer aber nicht drückt, z.B. weil er gar keine Frage hat, die er mit dem System erörtern will, ist raus. Der kann dann zuhören oder zuschauen, wie sich die anderen Theaterbesucher/Innen angeregt von jemandem einen Text anhören und in der Interaktion weitere Nummern auf der Tastatur wählen.

Ich frage mich: 1. Hören die Männer eine Frauenstimme? 2. Warum gebe ich so viel von mir preis? 3. Gebe ich zu viel von mir preis? 4. Speichern „die“ jetzt wirklich meine Daten? 5. Warum mache ich jetzt da mit? 6. Bin ich jetzt cool, weil ich die Sache nicht boykottiere oder genau das Gegenteil? 7. Warum stelle ich mir überhaupt diese Fragen?

Wir sehen auf blauen Himmel-Hintergrund eine weiße Wolke mit zentral eingeblendeten binären Symbolen. Die Wolke, das sind wir und unsere Daten. Das System fordert uns auf, mit ihm eine Frage zu besprechen und erzählt uns über einige unserer Persönlichkeitsmerkmale, die es herausgefunden hat durch unser Entscheidungsverhalten bei der Befragung, auch und besonders auch über die Metadaten, wann wir was gedrückt haben, wie schnell wir gedrückt haben, mit wem bzw. mit wie vielen Personen wir telefoniert haben.

Dann am Ende sagt uns die Männerstimme der Maschine, dass wir nun mit unseren Daten für immer bei ihr sein werden und weit über unser irdisches Leben hinaus beim bzw. im System bleiben werden, damit sind wir unsterblich und sind wir mit dem System für immer eins.

Ach Mensch, ich füge mich jetzt einfach...


Ausgeklügelte elektronische Schleifen führen uns je nach unserem Wahlverhalten zu immer neuen bzw. auch wieder zu denselben Ansagen der Stimme im Telefon, sehr faszinierend.

Ich denke: Was ist das für ein Wahsinnsaufwand sowas zu programmieren.

Zum Schluss sehen wir wieder unsere Fotos in den wasserhellen seifenblasenartigen Kugeln auf der Leinwand vor himmelblauem Hintergrund, ein lautes bassbetontes immer stärker werdendes Rauschen und Beben, bei dem nach und nach die Blasen mit unseren Fotos zerplatzen. Wir sind weg - im Datenhimmel.

Wir sind gar nicht weg. Wir sind auf immer im Datenhimmel. Datenarchiv. Datensammelsurium. Gruselig...

Es gibt großen Applaus für die Künstler/Innen der Performancegruppe Interrobang, die sich das alles ausgedacht haben, ein aus meiner Sicht ganz klug und mit  großer Liebe und Hingabe entwickeltes und ausgestaltetes überraschungsreiches Programm mit einem von Anfang bis Ende schlüssigen Konzept mit bestechender Konsequenz und mit faszinierender technischer Performance.

Wahnsinn. Wahnsinn! Die machen sich so viel Arbeit. Ich denke an „Her“, den Film mit Joaquin Phoenix und Scarlett Johansson. Hatten die den auch im Hinterkopf? Hatten sie!

Wir erleben Dinge, die wir kennen und machen Erfahrungen mit einem System, das wir lieber nicht kennenlernen wollen, von dem wir aber genau wissen, dass es längst Bestandteil unseres Lebens ist oder noch genauer: dass unser Leben in Daten und in den daraus zu ermittelnden Fakten und Profilen Bestandteil des Systems ist.

Vielleicht ist es besser, darüber nicht nachzudenken... Oder vielleicht ist es besser, darüber mal genauer nachzudenken...?

Verstörend aber höchst unterhaltsam, lustvoll, dionysisch, ein bisschen fies.

Aller-aller-feinst!

Ja, ja und ja! Max, danke, dass du mich mitgenommen hast!

Ich war gleich zweimal da. 

Aus meiner Sicht auch herausragend: Interrobangs Projekt „Callcenter Übermorgen“, für mich ein ganz großes Theatererlebnis 2015 beim Heidelberger Sückemarkt, vorgesehen um den 20. Juni 2016 in Leipzig. Ich will wieder hin!

Mein Fazit: Ich will auch mehr sehen von Interrobang.

Max & Maren 
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Von und mit Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg 
Dramaturgie: Kaja Jakstat 
Telefoninstallation und Datenbankprogrammierung: Georg Werner 
Videodesign, Sounddesign und Programmierung: Florian Fischer 
Bühne und Kostüm: Sandra Fox 
Musik: Joscha Eickel 
Produktionsleitung: ehrliche arbeit 
Hospitanz: Anja Schneidereit
Übersetzung (englische Version): Daniel Brunet 
Fotos: Michael Bennett, Renata Chueire, Nina Tecklenburg

Eine Koproduktion von Interrobang mit Schauspiel Leipzig und SOPHIENSÆLE.
Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds.

 

Weitere Infos zum Stück und Trailer hier.