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20. November 2018

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 19: Total Therapy - Therapeutisierung des Alltags

Max Penthollow schreibt mir...

Liebe Maren,

am 13. November war ich bei der Premiere von Interrobangs neuer Performance "Total Therapy" im Festsaal der Berliner Sophiensäle.

In der Programm-Ankündigung steht: "in Total Therapy widmen sich Interrobang der zunehmenden Therapeutisierung des Alltags. Im Zuge von gesteigerter Selbstoptimierung, omnipräsentem Coaching und allgegenwärtiger Feedbackkultur werden immer weitere Lebensbereiche therapeutisiert."

Interrobang ist eine Performancegruppe aus Berlin.

Wir sind im Festsaal der Sophiensäle, gefühlt etwa 50 Theatergäste, Frauen und Männer. Im Raum stehen mehrere mit Buchstaben bezeichnete runde weiße Tische mit umgebenden Stühlen, am Boden sind große kreisrunde weiße Felder angelegt, es gibt das stufenförmige Theater-Podest, mehrere Kabinen mit weißen Vorhängen und ein Info-Center in der Mitte des Saals. Es ist ein Spiel und dauert zwei Stunden. Es gibt mehrere Spielgruppen mit jeweils wechselndem Teilnehmerinnen und Teilnehmern und dazu jeweils jemand vom Performance-Team, die oder der die jeweilige Gruppe in der jeweiligen Spielphase leitet. Teilweise findet das Spiel im freien Raum statt, teilweise an den runden Tischen.

 Erste Runde: Was denken wir über unsere Mitspieler*innen? (Foto: Renata Chueire)

Wir alle bekommen einen weißen Rucksack. Wir beurteilen die anderen und die anderen beurteilen uns, mit jeder Menge Vorurteilen, anhand kleiner weißer Zettel mit vorgefertigten Aufdrucken, die wir beliebig verteilen oder zuweisen können: "du hilfst den Nachbarn im Treppenhaus" oder "du hast versucht, die anderen zu übervorteilen". Alle Zettel kommen in den Rucksack. Wir bekommen Attribute in Form von bunten Spielkarten mit Aufschriften, z.B. Dominanz, Ehrgeiz, Bosheit und Mitgefühl. Wir spielen in kleinen Gruppen miteinander um den Erfolg und geben und erhalten Feedback in Form von Anerkennung oder Ablehnung, dementsprechend bekommen die anderen und bekommen wir Eigenschaften zugewiesen. Daraus entsteht jeweils ein individuelles Bild unserer Persönlichkeit.

Zweite Runde: Eigenschaften gewinnen oder verlieren (Foto: Renata Chueire)

Im letzten Viertel der Spielzeit und nachdem wir selbst erlebt haben, wie willkürlich und beliebig und zusammenhangsfrei wir untereinander Feedback und Eigenschaften vergeben und erhalten haben, geht das Spiel in eine Phase der Meditation. Wir bekommen Kopfhörer mit Frauenstimmen und Männerstimmen, die uns weiter begleiten. Die Stimmen leiten uns an, unsere im Spiel erlebten Begebenheiten und Situationen des Spielverlaufs nochmals in Gedanken an uns vorüberziehen zu lassen und zu reflektieren. Für mich war diese Phase eine besonders schöne, entspannende kathartische Situation. Aus dem Kopfhörer vernehmen wir phasenweise weitere beliebige an uns persönlich gerichtete anerkennende oder abwertende Kommentare zu unserer Persönlichkeit. In einer Kabine mit weißem Vorhang betrachten wir uns selbst im Spiegel und bekommen durch eine Lücke in der weißen Kabinenwand einen Gegenstand gereicht, einen kleinen bunten Holzpropeller oder ein kleines rotes Reh aus Plastik. Zum Abschluss begeben wir uns unterer weiterer Kopfhörer-Anleitung zum Podest und suchen uns dort einen Platz aus. Dann gestalten wir unter Anleitung auf den Boden-Ebenen des Podests unsere eigene Collage aus dem Inhalt unseres weißen Rucksacks, den Gegenständen und Zetteln und Eigenschafts-Spielkarten. Nur für uns allein und so wie wir es wollen. Jetzt sind wir ganz bei uns. Niemand bewertet unsere Collagen außer uns selbst. Für mich ist jetzt alles so richtig wie ich es mache und alles ist gut.
 
Bin ich das wirklich? (Foto: Renata Chueire)


Ich habe die Runde sehr genossen und bewundere es sehr, mit welcher Liebe und Hingabe Interrobang sich hier wieder ein wunderbares Spiel für uns ausgedacht haben. Wir alle spielen mit und erleben dabei, jeder für sich, wie relativ Selbstoptimierung, Coaching und allgegenwärtiges Feedback sein können. Wir erleben, wie gut es uns tun kann, in unserem eigenen Leben und Alltag eine Distanz zum Mainstream und zu unserem eigenen Anteil am Mainstream zu finden. So jedenfalls habe ich es erlebt.

Danke, Interrobang!

Allerliebste Grüße

Max


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Konzept: Interrobang
Von und mit: Bettina Grahs, Lisa Großmann, Kaja Jakstat, Elisabeth Lindig, Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg
Bühne / Kostüm: Silke Bauer
Musik: Friedrich Greiling
Lichtdesign / Technische Leitung: Dirk Lutz Produktion ehrliche arbeit – freies Kulturbüro
Öffentlichkeitsarbeit: Tina Ebert
Hospitanz: Miriam Bach
Fotografie: Paula Reissig
Fotocollage: Silke Bauer

Eine Produktion von Interrobang in Koproduktion mit Schauspiel Leipzig, WUK Performing Arts Wien und SOPHIENSÆLE. Gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa und die Konzeptionsförderung des Fonds Darstellende Künste e.V. – aus Mitteln des Bundes.

Weitere Termine:
Residenz Schauspiel Leipzig
11.-18. April 2019

WUK Wien
Termine tbc

Bemerkenswerte Produktionen von Interrobang aus den vergangenen Jahren, über die wir berichtet haben:
Brot und Spiele
Der Prozess 2.0
To Like Or Not To Like


3. März 2018

Rückblick Februar 2018: Brot & Spiele und Worte & Bewegung

Im kurzen Februar habe ich nur zwei - dafür aber eindrückliche - Stücke gesehen.


03.02.2018 BROT und SPIELE von Interrobang (Sophiensäle)

Mitmachen im Theater - nicht jedermanns Sache. Aber bei Interrobang gehörts dazu. Dass man bei der neuesten Produktion der freien Performancegruppe über das Schicksal der Protagonist*innen auf der Bühne in der Weise mitbestimmen kann, dass sie sogar "Demütigungen" - ob berechtigt oder unberechtigt - aushalten müssen, macht die Zuschauer*innen zu Beteiligten. Und so merken wir irgendwann, dass wir selbst Spieler*innen werden. Die Botschaften: Als Nutzer*innen von Online Angeboten geraten wir schneller in ein Spiel, dass wir (vielleicht) nicht mehr kontrollieren können, als wir glauben. Wenn aus dem Spiel Ernst wird, können wir nicht einfach aufhören, denn wir sind auch abhängig von den anderen "Mitspieler*innen". Selbst entscheiden, wann es genug ist? Fehlanzeige!


23.02.2018 revisited TRUST (Schaubühne)

Im April 2010 habe ich dieses Stück zum ersten mal gesehen. Und seit dem immer, immer wieder (ich habe aufgehört zu zählen, wie oft). Mit Freund*innen, die oft ins Theater gehen und mit denen, die ich dafür begeistern will. Trotz einigen Umbestzungen immer wieder ein Highlight. Fürs Herz und für den Kopf.
Hier mein Bericht vom ersten Besuch.

Tanz ergänzt Worte (Foto: Heiko Schäfer)

26. März 2017

Rückblick Februar & März 2017: Über Schuld, Kunst und Karrieristen

Auch wenn der Februar natürlich vor allem von der Berlinale bestimmt wurde, blieb immer etwas Zeit fürs Theater. Und weil Ende März schon wieder das FIND (Festival Internationale Neue Dramatik an der Schaubühne am Lehniner Platz - 30.3. bis 9.4.) beginnt und ich hierfür eigene Beiträge geplant habe, fasse ich die letzten beiden Moante in einem Artikel zusamen.


FEBRUAR
01.02.17 Interrobang: Der Prozess 2.0 (Sophiensäle)
Ein Schuldlabyrinth nach Kafka. Theater zum Mitmachen. Mitmachen müssen, können, sollen. Nach dem Betreten des Parcours, müssen die Zuschauer*innen (=Teilnehmer*innen) dieses Theaterprojekts sich ihren persönlichen Ordner abholen, verschiedene Fragen beantworten, Aufgaben erledigen und sich entscheiden, welchen persönlichen Weg sie gehen wollen. All das wird von einem Gericht ausgewertet und in einer Verhandlung für und gegen einen vorgetragen. Das sogenannte "Innere Gericht" verurteilt zunächst noch präzise und detalliert, später im Sammel- und noch später im Eilverfahren jede*n zum Handeln. Dabei spielt es für das Gericht gar keine Rolle mehr, was wirklich hinter den Antworten steckt und (scheinbar) willkürlich werden einzelne Sätze oder Aussagen aus der Akte gegen eine*n verwendet. Eine Mischung aus "Bloß nicht meinen Fall verhandeln" und "Warum nicht meine Akte? Bin ich etwas so langweilig?" macht sich breit. Und was dabei verdächtig im Raum schwebt, ist die Tatsache, dass es egal ist, wie man sich verhält oder was man denkt, alles kann gegen mich verwendet werden. Die Zusammenhänge sind gleichgültig. Und wie Josef K. in Kafkas Prozess, hege ich den Verdacht, dass an dem, was das Gericht da gegen mich vorbingt, vielleicht etwas dran sein könnte...
Interrobang schafft es, die gegenwartsrelevanten Motive aus Kafkas Klassiker in ein instellatives Stück zu packen und die Zuschauer*innen dabei ordentlich aufzurütteln.

Von und mit Till Müller-Klug, Nina Tecklenburg, Lajos Talamonti, Elisabeth Lindig


02.02.17 Zeit der Kannibalen von Johannes Naber nach dem Drehbuch von Stefan Weigl (Vagantenbühne)
Sollte man einen Film einfach so nachspielen? Die Verfilmung mit Katharina Schüttler, Sebastian Blomberg und Devid Striesow ist großartig - keine Frage. Die kammerspielartige Kapitalismus-Kritik mit dem bösen Humor und der Darstellung der Busninessmenschen, deren Welt in nur wenigen Stunden ins Wanken gerät, bietet sich auch fürs Theater an. Dennoch habe ich von dieser Inszenierung  etwas Neues erwartet. Allerdings ist für diejenigen, die den Film nicht kennen, die Bühnenadaption sicher sehr lohnenswert. Meine Empfehlung: Hingehen sollte, wer den Film nicht kennt.

Regie: Bettina Rehm

Mit Björn Bonn, Johann Fohl, Senita Huskić, Hannah von Peinen, Joachim Villegas und Axel Strothmann


03.02.17 Love Hurts In Tinder Times von Patrick Wengenroth (Schaubühne)
Gleich mal vornweg: Mit Tinder hat das Stück (zum Glück) gar nicht so viel zu tun. Tinder Times steht viel mehr für diese Zeit, in der viele nach neuen Wegen des Zusammenlebens und von Liebesbeziehungen suchen. Kann ich einen exklusiven Anspruch auch eine*n Partner*in erheben? Warum schmerzt es den*die andere*n, wenn man sich außerhalb der Beziehung Befriedigung und Bestätigung sucht? Und: Ist es nicht immer ganz anders als es aussieht? Garniert wird dieser Wengenroth-Abend (wie immer) mit viel Musik, diesmal vorrangig aus den 80ern. Und so findet auch der kürzlich verstorbene George Michael seinen Platz im Stück. Die sich nackt in Farbe wälzenden und Kunst machenden Protagonist*innen (Mark Waschke, Lise Risom Olsen, Andreas Schroeders) sehe ich weniger als Provokation, denn als humorvolle gedachte Anspielung auf Performance Künstler und vielleicht sogar das Theater selbst.

Realisation: Patrick Wengenroth   
Bühne: Mascha Mazur   
Künstlerische Mitarbeit Bühne: Céline Demars   
Kostüme: Ulrike Gutbrod   
Musik: Matze Kloppe  

Mit Matze Kloppe, Lise Risom Olsen, Andreas Schröders, Mark Waschke, Patrick Wengenroth

Andreas Schröders, Mark Waschke, Lise Risom Olsen (Foto: Gianmarco Bresadola)


Essay zum Stück in Pearson's Preview: LOVE HURTS IN TINDER TIMES. Ein Gespräch mit Patrick Wengenroth


12.02.17    revisited Hedda Gabler von Henrik Ibsen (Schaubühne)
Nach vielen Jahren mal wieder dieses Stück. Die Angst vor dem sozialen Abstieg, jede*r kennt sie und erkennte sich in dem Stück wieder. Man kann Hedda (Katharina Schüttler) und ihr Handeln gleichzeitig verabscheuen und bemitleiden. Und wie steht es um ihren Mann Jorgen Tesmann (Lars Eidinger) und den um seine Arbeit betrogenen Eilert Lovborg (Kay Bartholomäus Schulze)? Das Besondere an dem Stück ist, dass man keine*n so richtig mag oder hasst. Zerissen, betroffen, gerührt verlässt man das Theater.

Lore Stefanek, Katharina Schüttler, Lars Eidinger (Foto: Arno Declair)

Regie: Thomas Ostermeier   
Bühne: Jan Pappelbaum   
Kostüme: Nina Wetzel   
Musik: Malte Beckenbach   
Dramaturgie: Marius von Mayenburg   
Video: Sébastien Dupouey   

Jørgen Tesman, Privatdozent der Kulturgeschichte: Lars Eidinger   
Frau Hedda Tesman, seine Frau: Katharina Schüttler   
Fräulein Juliane Tesman, seine Tante: Lore Stefanek   
Frau Elvstedt: Annedore Bauer   
Richter Brack: Jörg Hartmann   
Eilert Løvborg: Kay Bartholomäus Schulze
 


MÄRZ
04.03.17 Denial von Yael Ronnen (Maxim-Gorki-Theater)
Das Stück über Verleugnung und Verdrängung wurde von Yael Ronen gemeinsam mit den Schauspieler*innen entwickelt. In verschiedenen Konstellationen zeigen sie, was es bedeutet, wenn man versucht, die Realität zu verarbeiten, zurechtzubiegen oder einfach zu verstehen. Coming out, Intoleranz und Gewalt in der eigenen Familie, politische Verfolgung und andere traumatische Erlebnisse werden in kurzen Szenen aufgearbeitet bzw. dargestellt. Wie immer bei Yael Ronen wechseln sehr traurige und berührende Geschehnisse mit witzigen Einschüben. Und nie weiß man - auch das ist typisch für ihre Stücke - was aus den Biographien der Schauspieler*innen stammt und was Fiktion ist.

Regie: Yael Ronen
Bühnenbild: Magda Willi
Kostüme: Amit Epstein
Musik: Nils Ostendorf
Video: Hanna Slak

Mit Oscar Olivo, Dimitri Schad, Cigdem Teke, Maryam Zaree und Orit Nahmias.


23.03.17 re-revisited Stück Plastik (Schaubühne)
Darf man Geld rumliegen lassen, wenn die Putzhilfe da ist? Ist Michael, der für Ärzte ohne Grenzen nach Afrika gehen will, ein Egoist? Warum hat Ulrike als Künstlerin versagt?  Und ist Sohn Vincent ein Junge oder ein Mädchen? Diese und viele, viele andere Fragen werden im Stück verhandelt, vielmehr wird darüber gestritten. Das eigentlich interessante ist aber auch, dass die Person, die den Streitimpuls gibt, überhaupt nichts zur Debatte beitragen kann, weil sie einfach nicht zu Wort kommt. Sie drückt sich im Gesang aus, im Gespräch mit dem 12jährigen Sohn der Familie, für die sie putzt und übt Rache. Dialoggewaltiges und äußerst lustiges Stück über richtiges und falsches Verhalten, kommunizieren und zuhören. Stück Plastik von Marius von Mayenburg schrammt manchmal knapp an einer Boulevard-Komödie vorbei und ist deswegen gerade so gut. Die zahlreichen Anspielungen auf die Kunstwelt und das eigene Milieu mit den zackigen Monologen (die von den brillanten Schauspieler*innen einfach mitreißend gespielt werden) machen die Inszenierung zu einer Perle im Spielplan.

Mit Marie Burchard, Robert Beyer, Laurenz Laufenberg, Sebastian Schwarz und Jenny König.
Regie: Marius von Mayenburg


25.03.17 re-visited Professor Bernhardi von Arthur Schnitzler (Schaubühne)
Spannend wie beim ersten mal. Die Aktualität dieses Stückes ist so groß, dass bei fast jeder Szene der Puls hoch geht. Wie in der Sitzungszene die Intrige gegen Professor Bernhardi entsponnen wird - da muss man sich empören. Aber es gibt in dieser Inszenierung nicht immer ein klares Gut und Böse, Richtig oder Falsch. Keine unverfälschten Sympathien. Und das lässt einen noch lange über den Abend hinaus nachdenken.


Damir Avdic, Laurenz Laufenberg, Veronika Bachfischer, Jörg Hartmann (Foto: Arno Declair)

Regie: Thomas Ostermeier   
Bühne: Jan Pappelbaum   
Kostüme: Nina Wetzel   
Musik: Malte Beckenbach   
Wandzeichnungen: Katharina Ziemke

Dr. Bernhardi: Jörg Hartmann   
Dr. Ebenwald: Sebastian Schwarz   
Dr. Cyprian: Thomas Bading   
Dr. Pflugfelder: Robert Beyer   
Dr. Filitz: Konrad Singer   
Dr. Tugendvetter: Johannes Flaschberger   
Dr. Löwenstein: Lukas Turtur   
Dr. Schreimann/Kulka, ein Journalist: David Ruland   
Dr. Adler: Eva Meckbach   
Dr. Oskar Bernhardi: Damir Avdic   
Dr. Wenger/Krankenschwester: Veronika Bachfischer   
Hochroitzpointner: Moritz Gottwald   
Professor Dr. Flint: Hans-Jochen Wagner   
Ministerialrat Dr. Winkler: Christoph Gawenda   
Franz Reder, Pfarrer: Laurenz Laufenberg   

10. August 2016

Rückblick Mai bis Juli 2016: Die Macht von Texten, Musik und Bewegung

Auf der Zielgeraden zum Spielzeit-Ende gab es für mich Neu-Erlebtes, Wieder-Erlebtes und viele Erfahrungen hinter den Kulissen.


MAI

05.05.16 PREMIERE Wallenstein von Friedrich Schiller (Schaubühne)
Drei Stunden ohne Pause. Aber die gingen erstaunlich schnell vorbei. Nebel, Nebel, Nebel und eine große überwiegend dunkle Bühne – das Stück ist ja auch düster. Die typische Thalheimer-Ästhetik. Wallenstein (Ingo Hülsmann) sitzt und sitzt. Und sitzt alles aus. Eigentlich hätte ich mir gewünscht, dass er gar nicht aufsteht. Tut er aber im letzten Drittel doch. Dahinter stehend der/die Astrolog/in gespielt von Lise Risom Olsen als Einflüsterer/in – das Geschlecht bewusst im Unklaren gelassen. Ich muss diese Inszenierung unbedingt noch mal sehen. Auch um noch mehr zu verstehen.


Ingo Hülsmann, Urs Jucker, Lise Risom Olsen in "Wallenstein" (Foto: Katrin Ribbe)

Regie: Michael Thalheimer  
Bühne: Olaf Altmann  
Kostüme: Nehle Balkhausen  
Musik: Bert Wrede  

Wallenstein: Ingo Hülsmann  
Octavio Piccolomini: Peter Moltzen  
Max Piccolomini: Laurenz Laufenberg  
Graf Terzky: Felix Römer  
Illo: Andreas Schröders  
Buttler: Urs Jucker  
Isolani, Gefreiter: David Ruland  
Questenberg, Wrangel: Ulrich Hoppe  
Seni: Lise Risom Olsen  
Herzogin von Friedland: Marie Burchard / Cathlen Gawlich  
Thekla: Alina Stiegler  
Gräfin Terzky: Regine Zimmermann  

Dauer: ca. 180 Minuten

Weitere Infos und Trailer.


13.05.16 re-visited Ungeduld des Herzens von Simon McBurney nach dem Roman von Stefan Zweig (Schaubühne)

Christoph Gawenda (Foto: Gianmarco Bresadola)

Grandioses Schauspieler/innen-Theater! Mittlerweile spielen sie ohne Teleprompter und schaffen dieses Text-Monster richtig gut.


20.05.16 Lesung „Skizzen für einen Spielfilm“ von Isa Genzken (Haus der Berliner Festspiele / Theatertreffen)
Drei Schauspieler/innen (Jule Böwe, Karin Pfammatter, Felix Römer)  lesen aus  den 1993 veröffentlichen Texten, in denen die Künstlerin Isa Genzken Momentaufnahmen aus ihrem Leben skizziert. Einfühlsam und profan reihen sich die Erinnerungen aneinander, beginnend mit ihrer Geburt in Bad Oldesloe und endend mit einer Ausstellungseröffnung in Bremen.


22.05.16 Streitraum: Wann ist ein „Nein“ ein „Nein“ (Schaubühne)
Das Sexualstrafrecht vor und nach Köln. - Carolin Emcke diskutierte mit Christina Clemm (Rechtsanwältin), Hilal Sezgin (Journalistin) und Jürgen Thiele (Leiter des Dezernates für Sexualdelikte im Landeskriminalamt Berlin).
Muss sich eine Frau gegen einen Übergriff wehren oder reicht auch, dass sie eindeutig und explizit mit einem »Nein« ihre Ablehnung bekundet? Besonders hängen blieb dieses Bild von Carolin Emcke: Sie müsse sich doch auch nicht an ihren Fernseher klammern, um klarzumachen, dass sie einen Diebstahl ablehne. Bei dem eigenen Körper - etwas Persönlicheres gibt es kaum - wirde aber darüber diskutiert, ob ein "Nein" reichen kann.

Carolin Emcke erhält übrigens in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels; sie leiste mit ihren Büchern, Artikeln und Reden einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Dialog und zum Frieden, heißt es in der Begründung des Vereins.

Weitere Infos und Videos vergangener Streiträume hier.
 

22.05.16 re-re-re-re-visited TRUST von Falk Richter (Schaubühne)
Ich glaube, ich habe dieses Stück nun schon fünf mal gesehen. Und, achja, es bleibt einfach eines meiner Lieblingsstücke! „Pack deine Sachen und bleib!“

Nina Wollny (Foto: Heiko Schäfer)


25.05.16 Common Ground von Yael Ronen (Maxim Gorki Theater)
Über diese Inszenierung habe ich einen Artikel verfasst: "Ein Land, das es nicht mehr gibt".


28.5.2016 PREMIERE MACHT was ihr wollt - Ein Projekt der Polyrealisten (Schaubühne)

Elf Spielerinnen und Spieler treten gegeneinander an. Was tun sie, um mächtig zu werden? Jede/r erzählt ihre/seine Geschichte, um Punkte zu sammeln. Dazwischen gibt es weitere Aufgaben. Wie gehen Menschen in eine solchen Wettkampfsituation? Und sind Sie sie bereit ihre Prinzipien zu verraten. Nehmen Sie Rücksicht auf die Bedürfnisse und Nöte der Mitspieler/innen?
Ein Jahr lang haben sich die Polyrealisten, eine Gruppe von Menschen zwischen 27 und 67 Jahren, mit dem Thema »Macht« auseinandergesetzt und treten nun mit den Ergebnissen das erste Mal auf das Spielfeld.

Ikko Masuda von den Polyrealisten (Foto: Gianmarco Bresadola)

Leitung: Wiebke Nonne
Künstlerische Mitarbeit: Nele Rennert, Katharina Berger
Bühne: Emilie Cognard  
Kostüme: Arianna Fantin  

Mit: Robert Akstinat, Chantal Chelli-Zenner, Christian Haffmann, Hannes Hannemann, Anke Liermann, Ikko Masuda, Stefan Matzke, Claudio Melis, Sarah Müller, Eva Reuß-Richter, Heike Schalk

Weitere Infos auf der Seite der Schaubühne.


JUNI
  
01.06.16 Tschick nach dem Roman von Wolfgang Herndorf (Deutsches Theater)
Laut der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins lag Tschick auf Platz 1 der meistgespielten Texte auf den deutsprachigen Bühnen in der Spielzeit 2014/215. Der Road-Roman für Jugendliche wurde mittlerweile auch von Fatih Akin verfilmt. Am DT läuft das Stück seit 2011 mit großem Erfolg. Das Tolle an der Inszenierung: Die Rollen von Maik und Tschick werden wechselnd von den beiden Schauspielern gespielt und der Wechsel ist jedesmal überzeugend. Ich kann nur sagen: Auf in die Wallachei. Mit dem Lada!

Regie: Alexander Riemenschneider
Bühne und Kostüme: Rimma Starodubzeva
Musik: Arne Jansen
Mit Wiebke Mollenhauer, Sven Fricke, Thorsten Hierse, Arne Jansen

Weitere Infos zum Stück und Programmheft zum Download auf der Seite des DT.


11.06.16 Lesung For the Disconnected Child von Falk Richter (Schaubühne)
Leider ist diese Inszenierung, die 2013/2014 in Kooperation mit der Staatsoper an der Schaubühne lief, nicht mehr zu sehen. Umso schöner, dass der Autor und Regisseur zusammen mit seinen Schauspieler/innen Ursina Lardi und Tilmann Strauß das Stück noch einmal mit Texten und Musik aufleben ließ. Zugleich durften wir dem Gesang von Helgi Jónsson, der neben anderen die Musik dafür komponierte, lauschen. Falk Richter las außerdem einige Texte aus "Small Town Boy" (Maxim Gorki Theater), "Never Forever" (Schaubühne) und "Zwei Uhr Nachts" (Schauspiel Frankfurt). Seine Texte gibt es übrigens auch in Buchform, zu erwerben u.a. in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert.


19.06.16 Keiner findet sich schön von René Pollesch (Volksbühne)
Hier habe ich über diese Inszenierung geschrieben: "Iggy Pop oder Robocop".


23.06.16 Freunde der Schaubühne // Freunde hinter den Kulissen: Führung durch die Kostümbildnerei (Schaubühne)
Mein Bericht im Archiv der Freunde der Schaubühne e.V. hier.


25.06.16 re-visited FEAR von Falk Richter (Schaubühne)
Ich habe das Stück nach den rechtlichen Streitigkeiten und der umfangreichen Breichterstattung noch mal mit anderen Augen gesehen. Unter dem unmittelbaren Eindruck des Brexit erscheint auch der Europa-Monolog von Lise Risom Olsen neu.


27.06.16. Freunde der Schaubühne // Freunde treffen Künstler: Ein Abend mit Peter Moltzen, Andreas Schröders und Ingo Hülsmann über Michael Thalheimers „Wallenstein“ (Schaubühne)

Wir sprachen mit Wallenstein, Octavio Piccolomini und Illo oder vielmehr den Schauspielern Ingo Hülsmann, Peter Moltzen und Andreas Schröders über Michael Thalheimers Wallenstein-Inszenierung. Was gibt es Neues aus Politik, Kultur und Sport? Mit dieser Frage beschäftigen sich nicht etwa die Figuren in Schillers Stück. Sie wurde zu Beginn der Proben gestellt. Im Rahmen unseres Abends mit den drei Schauspielern ging es dann natürlich auch um Astrologie und die Frage, warum Wallenstein seine Sache im wahrsten Sinne des Wortes aussitzt.

Alle drei Schauspieler haben bereits mit Michael Thalheimer gearbeitet, der nach "Die Macht der Finsternis" von Leo Tolstoi (2011), "Tartuffe" von Molière (2013) und "Nachtasyl" von Maxim Gorki (2015) mit "Wallenstein" von Friedrich Schiller (Premiere: 5. Mai 2016) nun bereits zum vierten mal an der Schaubühne inszeniert hat. In der kommenden Spielzeit wird Thalheimer sich ein weiteres mal mit Molière beschäftigen und im Januar 2017 "Der eingebildete Kranke" auf die Bühne bringen.


29.06.16 der die mann nach Texten von Konrad Bayer (Volksbühne)
Die Texte des österreichischen Literaten Konrad Bayer humorvoll und bunt von Herbert Fritsch auf die Bühne gebracht. Bayers Wortschöpfungen werden von den Schauspieler/innen zelebriert und man glaubt seinen Augen und Ohren nicht. Wer sowas kann ist ein/e große/r Künstler/in. Rhythmus. Dada. Performance. Gesang. Man verlässt das Theater und hat - kaum zu glauben - ein paar Ohrwürmer, die einen den Rest des Abends begleiten: "Aber Karl gibt nicht auf..."

Kein Wunder, dass Herbert Fritsch mit dieser Inszenierung erneut zum Berliner Theaterterffen eingeladen wurde.

Regie & Bühne: Herbert Fritsch
Kostüme: Victoria Behr
Musikalische Leitung: Ingo Günther

Mit: Florian Anderer, Jan Bluthardt, Werner Eng, Annika Meier, Ruth Rosenfeld, Axel Wandtke und Hubert Wild & dasderdiemannorchester mit Ingo Günther, Michael Rowalska, Taiko Saito und Fabrizio Tentoni


30.6.16 ungefähr gleich von Jonas Hassen Khemiri (Schaubühne)
Als ich den Titel des Stückes das erste mal las - ohne zu wissen, worum es geht - dachte ich, es ginge vielleicht auch hier wieder um Feminismus (ein Thema, das an der Schaubühne in den letzten Monaten sehr präsent war). Auch in "thisisitgirl" und "istgleich" (man achte auf die Ähnlichkeit des Titels!) ging es darum. Doch das Stück handelt von Geld, den Wert von Kunst und Theater und die Suche nach Glück in einer durchökonomisierten Welt. Folgende Assoziation kommt mir in den Sinn: Ein Bekannter sagte kürzlich zu mir, dass Schaubühnen-Tickets mittlerweile wie Goldstaub seien. Das passt zum Bild des im Stück verwendeten goldenen Konfettis, mit dem die Regisseurin Mina Salehpour den Zauber, aber auch die Vergänglichkeit der Kunst am Theater ausdrücken wollte. Greifbar und doch nicht greifbar.

Regie: Mina Salehpour   
Bühne: Andrea Wagner   
Kostüme: Maria Anderski   
Dramaturgie: Bettina Ehrlich   
Mit: Bernardo Arias Porras, Iris Becher, Renato Schuch, Alina Stiegler

Essay zum Stück in Pearson's Preview: Sekt oder Champagner? Ungefähr gleich – Mina Salehpour nimmt Komödien ernst


 JULI
  
01.07.16 Five easy pieces von Milo Rau (Sophiensäle)
Einen ausführlichen Artikel habe ich hier verfasst: "Das Grauen spielen".
Weitere Infos zum Stück auf der Seite des IPM. In 2016/2017 u.a. noch in Frankfurt, Basel, Lausanne, Zürich, Amsterdam, Paris, Manchester/Brighton, Barcelona und Rotterdam zu sehen. Hingehen - es lohnt sich!


08.07.16 My Fair Lady (Komische Oper)
Mein letzter Musical-Besuch liegt schon ein paar Jahre zurück. Was mir an der Inszenierung dieses Klassikers an der Komischen Oper besonders gefiel: Das reduzierte Bühnenbild (Grammophone in verschiedenen Größen) und die bekannten Lieder. Im anschließenden Publikumsgespräch entpuppten sich die beiden Hauptdarsteller/innen Musical-Star Katharine Mehrling (Eliza Doolitle) und Schauspieler Max Hopp (Henry Higgins) als äußerst sympathisch. Was ich sonst noch lernte: Das Musical wird fälschlicherweise meistens als Komödie gesehen, dabei ist der Ausgang der Pygmalion-Geschichte von George Bernard Shaw eher traurig.

Musikalische Leitung: Kristiina Poska, Peter Christian Feigel
Inszenierung: Andreas Homoki
Choreographie: Arturo Gama
Bühnenbild: Frank Philipp Schlößmann
Kostüme: Mechthild Seipel

Professor Henry Higgins: Max Hopp
Eliza Doolittle: Katharine Mehrling, Mirka Wagner
Alfred P. Doolittle: Jens Larsen, Carsten Sabrowski
Oberst Pickering: Christoph Späth, Tom Erik Lie
Mrs. Higgins: Susanne Häusler
Mrs. Pearce: Christiane Oertel
Freddy Eynsford-Hill: Johannes Dunz, Adrian Strooper
Professor Zoltan Karpaty: Zoltan Fekete, Mate Gyenei
Chorsolisten der Komischen Oper Berlin


11.07.16 Eisler on the Beach (Deutsches Theater)
Wie in Shakespeares Dramen geht es zu in der Familie Eisler soll Charlie Chaplin gesagt haben. Die Geschichte um Hanny Eisler und seine beiden Geschwister Gerhart und Ruth, die als Zeugin der Anklage vor dem "Ausschuss für unamerikanische Umtriebe" aussagt. Zusammen mit der Bolschewistischen Kurkapelle Schwarz-Rot erzählen Tom Kühnel und Jürgen Kuttner die Geschichte der Linken im 20. Jahrhundert als Familiengeschichte. Das Problem der Inszenierung: Es wird nicht klar, warum die beiden Regisseure die Geschichte erzählen. Außerdem wird man das Gefühl nicht los, dass auch die Schauspieler nicht richtig bei der Sache sind. Enttäuschend!

Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner
Bühne: Jo Schramm
Kostüme: Daniela Selig
Musik: Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot
Mit Maren Eggert, Daniel Hoevels, Jürgen Kuttner, Ole Lagerpusch, Jörg Pose, Thomas Neumann, Simone von Zglinicki


15.07.16 The blind poet von Jan Lauwers & Needcompany (Foreign Affairs Festival // Berliner Festspiele)
Portraits der sieben Performer/innen dargestellt in Bewegung und Text. Beleuchtet und gegenüber gestellt werden dabei die persönlichen Biographien und die verschiedenen Nationalitäten - alleine, im Chor, als Songs, als Tänze.  Sie entwickeln auf der Bühne verschiedene Identitäten im gegenwärtigen multikulturellen Europa - mal traurig, mal lustig.

Grace Ellen Barkey mit Clowns-Nase und Clowns-Schuhen (Foto: Maarten Vanden Abeele)

Das belgische Künstlerkollektiv Needcompany wurde 1986 von dem Theatermacher und Künstler Jan Lauwers und der Choreographin Grace Ellen Barkey gegründet.

Text, Regie & Bühne: Jan Lauwers
Musik: Maarten Seghers
Kostüme: Lot Lemm, Bachir bin Ahmed bin Rhaïem El Toukabri

Mit Grace Ellen Barkey, Jules Beckman, Anna Sophia Bonnema, Hans Petter Melø Dahl, Benoît Gob, Maarten Seghers, Mohamed Toukabri, Elke Janssens, Jan Lauwers

Weitere Infos & Trailer auf der Seite der Berliner Festspiele.


16.6.16 Freunde der Schaubühne // Freunde hinter der Kulissen: Theaterführung mit Jürgen Schitthelm & Spielzeitende (Schaubühne)
Jürgen Schitthelm, der 1962 die Schaubühne gründete, ist das, was man eine lebende Theater-Legende nennt. Nicht jede/r kommt in den Genuss, seinen Ausführungen aus über 50 Jahren Schaubühnen-Geschichte zu lauschen. Ein Bericht folgt in Kürze und wird dann im Archiv der Freunde der Schaubühne e.V. veröffentlicht. Der ideale Ausklang der Spielzeit 2015/2016!


"Spaceship Schaubühne": Die Unterbühne (Foto: Maren Vergiels)

Bilder aus über 50 Jahren Schaubühne (Foto: Maren Vergiels)

2. Juli 2016

Das Grauen spielen: "Five Easy Pieces" von Milo Rau (Sophiensäle)

Five Easy Pieces: Sieben Kinder spielen. (Foto: Phile Deprez)
Kann man mit Kindern als Schauspieler/innen das Leben, die Verbrechen und das Umfeld des belgischen Kindermörders Marc Dutroux in einem Stück darstellen? Wo sind die Grenzen? Kann man Kindern soetwas überhaupt zumuten? Und wie weit darf man in der Darstellung gehen?

Jedes Kind in Belgien kennt diesen negativen nationalen Mythos, erkennt Marc Dutroux auf einem Foto, kann sofort erzählen, was er getan hat. In „Five Easy Pieces“ zeigt Milo Rau in fünf Szenen mit sieben Kinder-Schauspieler/innen aus Belgien und einem erwachsenen Schauspieler (Peter Seynaeve), der als Spielleiter fungiert, die Familien vom Marc Dutroux und seiner Opfer sowie die Opfer selber. Er geht dabei auch auf geschichtliche Details wie die Kolonialisierung des Kongo durch Belgien ein, in der Dutrouxs Vater Lehrer war, sowie die plötzliche Unabhängigkeit des Landes und den kongolesischen Unabhängigkeitskämpfer Patrice Lumumba. Milo Rau geht dabei an Grenzen (und man überlegt: überschreitet er sie sogar?) des für die Kinder Zumutbaren. Etwa als eine achtjährige Kinder-Schauspielerin eines der entführten Mädchen darstellen und sich dabei entkleiden soll. Oder als ein dreizehnjähriger Junge, der den Vater eines Opfers spielt, dazu gedrängt wird, echte Tränen zu weinen. Wahrscheinlich weiß jede/r im Raum, dass alles nur mit dem absoluten Einverständnis der Kinder geschieht und niemand zu etwas gezwungen wird. Aber trotzdem fühlt man sich bei diesen Szenen extrem unwohl. Erträglich ist das alles nur, weil die Szenen immer wieder gebrochen und die Zuschauer/innen daran erinnert werden, dass wir uns im Theater befinden und die Kinder „nur“ Rollen spielen. Spielen wollen ("Theater ist wie Puppenspiel, nur mit echten Menschen").

Maurice Leerman als Victor Dutroux im Interview (Foto: Phile Deprez)

Dabei handelt es sich um mehr als Reenactments. Denn es werden Performancefragen erörtert und mit moralischen Themen verknüpft: Was ist das Wichtigste für eine/n Schauspieler/in? Würdet ihr eine/n andere/n Schauspieler/in in einer Szene küssen? Habt ihr schon einmal getötet?

Jede Szene wird mit einer kurzen Videoaufnahme eingeleitet, in der erwachsene Schauspieler/innen das Thema des Pieces anspielen, die Kinder stellen dabei synchron das Dargestellte auf der Bühne nach. Dann beginnen die Monologe von Victor Dutroux, einem Polizisten, einem Opfer und den Eltern der entführten Mädchen. Die Monologe werden von Peter Seynaeve gefilmt. Zwischen den Szenen sprechen er und die Kinder über Alltägliches, die eigene Familie und Belgien. Sie fühlen sich auf der Bühne und in ihren Szenen offensichtlich nicht unwohl und spielen dabei so gut wie ausgebildete Schauspieler/innen. Eine solche Leistung von Kindern habe ich noch nie auf der Bühne gesehen.

Reenactment: Die belgisch-kongolesische Schauspielerin Elle Liza Tayou als Patrice Lumumba (Foto: Phile Deprez)

Der Titel des Stückes ist übrigens angelehnt an Igor Stravinskys „Five Easy Pieces“, eine Komposition, mit der Kindern das Klavier­spielen beigebracht werden sollte, sowie an Marina Abramovićs „Seven Easy Pieces”, die ikonische Aktionen der Performance­kunst nachspielte.

Wie alle Stücke, die ich bisher von Milo Rau („Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ an der Schaubühne, „The Dark Ages“ im Rahmen des FIND 2016, „The Civil Wars“ im Rahmen des FIND 2015) gesehen habe, geht mir das alles sehr nahe. Und wenn die Kritik schreibt, dass Milo Rau einer der wichtigsten Regisseur unserer Zeit ist, dann hat sie hier recht.

Ich überlege, wem ich empfehlen würde, in dieses Stück zu gehen (im Grunde jedem/jeder) und bei wem dabei zu viele Ängste produziert würden (mein Bruder und meine Freund/innen, die Kinder haben)...

"Five Easy Pieces" läuft noch am 2. und 3. Juli, jeweils um 19.30 Uhr in den Sophiensaelen.

Winne Vanacker als König möchte tanzen. (Foto: Phile Deprez)


Das Stück wurde bereits in Brüssel, Utrecht und Berlin gezeigt und ist in 2016/17 außerdem in Oslo, Hertogenbosch, Singapur, Genf, Rom, Terni, Prato, München, Gent, Aalst, Frankfurt, Valenciennes, Basel, Turnhout, Lausanne, Zürich, Amsterdam, Mons, Genk, Paris, Manchester/Brighton, Oostende, Barcelona, Rotterdam und Roeslare zu sehen. 

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Eine Produktion von IIPM und CAMPO Gent in Koproduktion mit Kunstenfestivaldesarts Brussels 2016, Münchner Kammerspiele, La Bâtie – Festival de Genève, Kaserne Basel, Gessnerallee Zürich, Singapore International Festival of Arts (SIFA), SICK! Festival UK, Le phénix scène nationale Valenciennes pôle européen de création und SOPHIENSÆLE.

Konzept, Text, Regie: Milo Rau
Spiel: Rachel Dedain, Maurice Leerman, Pepijn Loobuyck, Willem Loobuyck, Polly Persyn, Peter Seynaeve, Elle Liza Tayou, Winne Vanacker
Spiel Video: Sara De Bosschere, Pieter-Jan De Wyngaert, Johan Leysen, Jan Steen, Ans Van den Eede, Hendrik Van Doorn, Annabelle Van Nieuwenhuyse
Dramturgie: Stefan Bläske
Regieassistenz, Performance Coach: Peter Seynaeve
Bühne, Kostüme: Anton Lukas

Weitere Infos zum Stück auf der Seite des IIPM.

30. Dezember 2015

Rückblick September bis Dezember 2015: Das Theater greift aktuelle Themen auf

Die erste Hälfte der Spielzeit 2015/16 hat uns viele große und kleine Highlights sowie einige Stücke, die ich wieder und wieder sehen möchte, geboten. Über einige Premieren an der Schaubühne habe ich geschrieben. Viele Eindrücke hat Max mit seinen Texten beigesteuert, dem ich an dieser Stelle herzlich für seine Beiträge danke. So ist auf meinem Blog wieder etwas mehr passiert in den letzten Wochen. Besonderen Spaß hat der Blogbeitrag gemacht, den ich mit Max gemeinsam nach dem Besuch von Interrobang geschrieben habe. Ich freue mich auf weitere tolle Theater-Erlebnisse mit Max genauso wie auf seine Blogbeiträge.


Einige Themen haben die Spielzeit bisher besonders geprägt und spiegeln gleichzeitig aktuelle und brisante gesellschaftliche Themen wider: Angst und Fremdenfeindlichkeit ebenso wie Flucht spielten und spielen eine zentrale Rolle. An Falk Richters FEAR kam in den letzten Wochen kaum jemand vorbei. Nicht nur die Drohungen gegen den Regisseur und die Schaubühne, sondern auch der Gerichtsprozess um die Inszenierung, bei der es um die Zensur von Kunst ging, wurden von vielen Medien besprochen (z.B. Peter Laudenbach in der SZ vom 15.12.2015 "Recht auf Angst").

Daneben schreibt die Schaubühne das Thema Feminismus in dieser Spielzeit mit zwei Inszenierungen (thisisitgirl von Patrick Wengenroth und istgleich von der Werkstattgruppe der Schaubühne) groß. Zusätzlich wurde das Thema in Heinz Budes "Streit ums Politische" diskutiert.

Das zentrale Motiv in Ungeduld des Herzens von Simon McBurney nach dem Roman von Stefan Zweig wird titelgebend auch Anfang des kommenden Jahres eine Rolle spielen, in Milo Raus Stück Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs (Premiere am 16. Januar 2016 an der Schaubühne).


Laurenz Laufenberg und Christoph Gawenda als Hofmiller in "Ungeduld des Herzens" (Foto: Gianmarco Bresadola)

Hier mein Rückblick auf die Monate September bis Dezember 2015.

SEPTEMBER

07.09. Ghosts von Constanza Macras (Schaubühne)
Ein schöner Start nach der Sommerpause - hier zum Nachlesen.

16.09. PREMIERE thisisitgirl von Patrick Wengenroth (Schaubühne)
Ein Stück über Frauen und Frauenfragen... Feminismus: eines der dominierenden Themen an der Schaubühne zur Zeit - hier mein Artikel zur Premiere.

 

OKTOBER

02.10. PREMIERE Westberlin von Rainald Grebe (Schaubühne)
Es beginnt mit einer Abhandlung über die "beste" Berliner Currywurst, die es dann auch in einem Wagen vor dem Theater zu kaufen gibt. Es folgt ein bunter, amüsanter Ritt durch die Geschichte West-Berlins von 1949 bis 1989. Ein Revue vieler Berliner Typen und Promis sowie typische Eigenarten, die es so nur in Berlin gegeben hat. Damals wie heute gilt: Wer wo hingeht und welche Bars, Clubs und Veranstaltungen man besucht, ist wichtig. Bei der Schreibweise im Titel handelt es sich übrigens um die in Ost-Berlin gebräuchliche.

Marie Burchard und Evelyn Gundlach in "Westberlin" (Foto: Gianmarco Bresadola)


16.10. Freunde der Schaubühne: Freunde treffen Künstler - Ein Abend mit der Schauspielerin Jenny König
Jenny folgte gerne unserer Einladung und erzählte uns aus ihrem Leben als Schauspielerin (Infos zu JK hier). Wir hörten ihr gerne zu. Ein Bericht dazu auf der Seite der Freunde der Schaubühne.

25.10. PREMIERE FEAR von Falk Richter (Schaubühne)
Mit dieser Inszenierung ging es bis vors Gericht. Zwei der im Stück erwähnten Personen wollten Zensur üben - bisher zum Glück ohne Erfolg. Mein Bericht zur Premiere hier und eine kurze Zusammenfassungen der Ereignisse, nachdem der Schaubühne und Regisseur Falk Richter massiv gedroht wurde.

26.10. Streit ums Politische: Antikapitalismus »Queer Trans Pop PoC Xeno? Postkapitalistischer Feminismus« (Schaubühne)
Der Soziologe Heinz Bude und Sonja Eismann, Herausgeberin des Missy-Magazins, sprachen darüber, welche Verläufe die Begriffsgeschichte des Feminismus in den letzten Jahren genommen hat, wo aktuell die spannendsten Auseinandersetzungen stattfinden und wo heute noch radikal emanzipatorische Potentiale angesiedelt sein könnten. Infos über weitere Veranstaltungen der Reihe hier.

27.10. Freunde der Schaubühne: Freunde diskutieren - Ein Abend mit Bernd Stegemann
Die Nachfolgeregelung für die Volksbühne durch den Kultursenator Müller und seinen Staatssekretär Tim Renner hat die theaterinteressierte Öffentlichkeit überrascht und eine heftige Debatte in Gang gesetzt und die Frage nach der Form des Theaters aufgeworfen. Mit dem Dramaturgen Bernd Stegemann diskutierte ein interessierter Kreis über das Ensembletheater versus Kuratoriumstheater.

30.10. To like or not to like von Interrobang (Sophiensäle)
Der Text, den Max und ich gemeinsam über den Abend verfasst haben, findet sich hier.


NOVEMBER       

02.11. Der geteilte Himmel von Armin Petras nach Motiven der Erzählung von Christa Wolff (Schaubühne)
Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Gründungsjahre der DDR mit Jule Böwe, Tilmann Strauß und Kay Bartholomäus Schulze. Die Schauspieler/innen agieren auf einer Art Laufsteg, der den Bühnenraum teilt, die Zuschauer sitzen auf beiden Seiten der Bühne. Viele Szenen werden im Off gespielt und dabei auf eine Leinwand in den Zuschauerraum übertragen. Mehr zum Stück hier.

Jule Böwe in "Der geteilte Himmel" (Foto: Dorothea Tuch)


08.11. thisisitgirl (Schaubühne) re-visited
Auch beim zweiten mal: Tolles Stück!

16.11. Jugend. Erinnerung 1945/2015 vom Jungen DT (Deutsches Theater)
Jugendliche aus Deutschland, Polen und Russland reisen nach Krakau, Wolgograd und Berlin. Sie wollen wissen, was Jugendliche vor 70 Jahren dort erlebt haben. Im Stück des Jungen DT geht es um neue Rituale des Gedenkens. Die 18 Jugendlichen spielen, tanzen, singen und nehmen Bezug auf aktuelle Geschehnisse wie den Krieg in Syrien. Infos zum Stück hier.

22.11. Hamlet - 250. Vorstellung (Schaubühne)
Insgesamt fünf mal habe ich die Inszenierung bereits gesehen, allerdings das erste mal mit Jenny König als Ophelia/Gertrud. Auch diesmal und natürlich für das Jubiläumspublikum hielt Lars Eidinger wieder einige improvisierte Situationen bereit. Ungeplant ist das Loch im Bühnenboden, das während der Vorstellung repariert werden musste. Dass das augerechnet beim Hamlet passierte, war natürlich fast schon eine Steilvorlage für LE. Besonders ist mir diesmal Urs Jucker aufgefallen, der die Rolle des Claudius spielt. Großartiger Schauspieler! Das habe ich auch schon in meinem Beitrag über Tartuffe befunden. Ansonsten war der Abend für mich natürlich auch eine "Vorbereitung" auf Ophelias Zimmer von Katie Mitchell, die sich damit auseinandersetzte, was geschieht, wenn Ophelia (Jenny König) nicht auf der Bühne ist. Ein Beitrag über die 250. Vorstellung von Hamlet von Gastbloggerin Anna folgt in Kürze.


DEZEMBER    
       
06.12. Streitraum Extra: Lesung zum Thema Flucht (Schaubühne)
Schauspieler/innen, Autor/innen und der Künstlerische Leiter der Schaubühne lasen im Rahmen dieser Benefizveranstaltung eigene und fremde Texte, um Geld für PRO ASYL und professionellen Rechtsschutz für Flüchtlinge zu sammeln. Mein Bericht dazu hier.

08.12. PREMIERE Ophelias Zimmer von Katie Mitchell (Schaubühne)
Bendruckendes und gleichzeitig beklemmendes Kunstwerk der britischen Regisseurin Katie Mitchell mit Jenny König als Ophelia. Ich habe meine Eindrücke hier geschildert und Max schreibt hier

13.12. istgleich von der Werkstattgruppe der Schaubühne
Ebenfalls mit dem Thema Feminismus hat sich die Werkstattgruppe der Schaubühne unter der Leitung von Philipp Rost auseinandergesetzt. Ein Spiel mit Konstruktionen, Erfahrungen und Gedanken. Infos zum Stück gibt's hier.

Die Werkstattgruppe der Schaubühne mit "istgleich" (Foto: Silke Briel)

19.12. Voraufführung Ungeduld des Herzens von Simon McBurney nach dem Roman von Stefan Zweig (Schaubühne)
Einer der Höhepunkte der bisherigen Spielzeit. Der britische Schauspieler, Regisseur und Mitbegründer von Complicite entwickelte eine Bühnenfassung von Stefan Zweigs einzigem Roman über die Frage, was wahres Mitleid ist. Dafür arbeitete er das erste mal mit einem deutschen Schauspiel-Ensemble und nutzte Klang und Video. Die Schauspieler/innen sprechen ihre Texte in Mikrophone, wechseln dabei die Rollen und erzeugen ein großes, eindrucksvolles Gesamtkunstwerk. Ich werde dazu noch einen Beitrag verfassen. Infos zum Stück gibt es hier.
Weitere Termine für das Stück:
14.01.2016
15.01.2016
16.01.2016
17.01.2016
11.02.2016
12.02.2016
13.02.2016
14.02.2016

Einen guten Start ins Theaterjahr 2016!

2. Dezember 2015

Die Datenwolke sind wir: Maren und Max bei Interrobang in den Sophiensälen

 Max und ich waren zusammen im Theater...


"To Like Or Not To Like"- Berliner Performancegruppe Interrobang - Sophiensäle - Oktober 2015

Heitere und schaurig-spannende interaktive Big Data-Erlebnisshow mit fiesem aber allgemein bekanntem Ergebnis: unser Leben ist Teil eines globalen Daten-Universums.

MAX: Wir sitzen auf unseren Stühlen, vorn ist die Bühne, die Leinwand, nach hinten steigt der Zuschauerraum an. Neben jedem Stuhl ist ein weiterer Stuhl mit einem zum Sitz gehörigen nummerierten Telefon. Stühle und Telefone sind von der ersten zur zweiten und zu den weiteren Reihen jeweils versetzt. 50 Besucher/Innen passen so in den Saal, den Hochzeitssaal der Sophiensäle. Vorn ist eine große Leinwand, so hoch wie der Saal.

Der Einlass erfolgt jeweils in Zweiergruppen. Zu Beginn wird von jedem ein Foto gemacht und wenn er oder sie  in den Theaterraum geht und sich auf den ihm oder ihr zugewiesenen nummerierten Platz setzt, dann kann er sein Foto und die Fotos der anderen schon fotografierten Theaterbesucher/Innen schon in Farbe in einer seifenblasen-artigen Kugel vor einem hellblauen Hintergrund auf der Leinwand sehen. Es kommen immer neue Kugeln, bis alle 50 Personen im Saal sind. Die Kugeln sind immer in Bewegung und stoßen sich bei gegenseitigem Kontakt jeweils gegenseitig ab.

MAREN: Als das Foto gemacht wird, überlege ich mir natürlich, ob das jetzt schon zu viel Preisgabe, zu viel Zugeständnis ist. Ich weiß ja, dass es um „Big Data“ geht und darum, inwieweit man bereit ist, etwas von sich  - also auch ein Bild von sich – der Öffentlichkeit oder wem auch immer zur Verfügung zu stellen. Ich lasse es geschehen und habe gleich ein schlechtes Gewissen. Es gibt übrigens ein paar Zuschauer, die das verweigern und sich nicht fotografieren lassen oder etwas vor die Kamera halten.

Dann kommt eine Schrift: bitte den Hörer abnehmen. Wir nehmen den Hörer ab, werden von einer wohlklingenden Frauenstimme freundlich begrüßt und dürfen jetzt an einer Befragung teilnehmen.
Von uns bzw. unseren Mit-Theaterbesuchern werden mehrere Fotos mit Nummern projiziert, z.B. 1 bis 4, dazu kommen Fragen, z.B. diese vier Personen sind Mitglieder einer Wohngemeinschaft, von wem möchten Sie sich bekochen lassen?

Oder: die hier abgebildeten Personen sind Mitglieder einer Terrorgruppe. Wer von ihnen ist der Anführer, das „Gehirn“?

Oder: diese sechs Personen suchen eine Wohnung. Wer von ihnen hat die größten Chancen, die Wohnung zu bekommen Wähle die 6, wenn du es bist.

Oder: Wer von diesen vier Personen besticht den Makler?

Die Bildzusammenstellungen werden vom System generiert.

Wer von diesen Personen bricht beim Marathonlauf 100m vor dem Ziel zusammen? Es ist viel Raum für unsere Vorurteile.

Es folgen weitere Bilder, von Menschen am Lagerfeuer, vom Grill, von einem Philharmonischen Orchester und die Frage dazu: bist du dabei? – da kann man die Tasten von 0 bis 6 drücken.

Jaja, ich ahne es schon: Gleich kommt mein Bild auch mit irgendeiner Frage. Hoffentlich ist es nichts Peinliches! Als mein Bild erscheint wird gefragt: „Welche Person halten Sie für autoritär?“ Ich bekomme viele Stimmen. Ist das jetzt gut oder schlecht?


Dann können oder sollen wir auch miteinander telefonieren und uns zu den Fragen austauschen: „wie haben die Neuen Medien dein Leben verändert?“ oder „ist es möglich die eigenen Daten zu schützen?“

Gibt’s ja nicht: Ich telefoniere mit Max. Er hat mich versehentlich angerufen, weil er sich vertippt hat. Wir werden aber bald unterbrochen und ich werde von einer anderen Zuschauerin angerufen. Wir reden darüber,  wie es „früher“ mit dem Telefonieren und Verabreden war. Ist auch so ein Klischee. Aber, hey, ich hab das halt wirklich noch so gemacht. Früher. Vor dem Handy. Ich bin 40. Kenne also das und das danach.

Dann können wir auch neue Telefonpartner/Innen wählen, aus 50 nummerierten projizierten Fotos von den Teilnehmer/Innen, einfach die Nummer wählen und weiter geht’s.

Wer nicht drückt oder zu langsam ist, der ist dann aktuell nicht dabei.

Schließlich werden die Meta-Daten ermittelt, z.B. von bestimmten Profilen, die Schnelldrücker, die Verweigerer, die nicht oder zu langsam gedrückt haben.

Dann spricht das System mit freundlicher wohlklingender Männerstimme mit uns, fordert uns auf, eine Frage mit ihm zu erörtern, wenn wir wollen. Wer die 1 drückt, ist weiter dabei, wer aber nicht drückt, z.B. weil er gar keine Frage hat, die er mit dem System erörtern will, ist raus. Der kann dann zuhören oder zuschauen, wie sich die anderen Theaterbesucher/Innen angeregt von jemandem einen Text anhören und in der Interaktion weitere Nummern auf der Tastatur wählen.

Ich frage mich: 1. Hören die Männer eine Frauenstimme? 2. Warum gebe ich so viel von mir preis? 3. Gebe ich zu viel von mir preis? 4. Speichern „die“ jetzt wirklich meine Daten? 5. Warum mache ich jetzt da mit? 6. Bin ich jetzt cool, weil ich die Sache nicht boykottiere oder genau das Gegenteil? 7. Warum stelle ich mir überhaupt diese Fragen?

Wir sehen auf blauen Himmel-Hintergrund eine weiße Wolke mit zentral eingeblendeten binären Symbolen. Die Wolke, das sind wir und unsere Daten. Das System fordert uns auf, mit ihm eine Frage zu besprechen und erzählt uns über einige unserer Persönlichkeitsmerkmale, die es herausgefunden hat durch unser Entscheidungsverhalten bei der Befragung, auch und besonders auch über die Metadaten, wann wir was gedrückt haben, wie schnell wir gedrückt haben, mit wem bzw. mit wie vielen Personen wir telefoniert haben.

Dann am Ende sagt uns die Männerstimme der Maschine, dass wir nun mit unseren Daten für immer bei ihr sein werden und weit über unser irdisches Leben hinaus beim bzw. im System bleiben werden, damit sind wir unsterblich und sind wir mit dem System für immer eins.

Ach Mensch, ich füge mich jetzt einfach...


Ausgeklügelte elektronische Schleifen führen uns je nach unserem Wahlverhalten zu immer neuen bzw. auch wieder zu denselben Ansagen der Stimme im Telefon, sehr faszinierend.

Ich denke: Was ist das für ein Wahsinnsaufwand sowas zu programmieren.

Zum Schluss sehen wir wieder unsere Fotos in den wasserhellen seifenblasenartigen Kugeln auf der Leinwand vor himmelblauem Hintergrund, ein lautes bassbetontes immer stärker werdendes Rauschen und Beben, bei dem nach und nach die Blasen mit unseren Fotos zerplatzen. Wir sind weg - im Datenhimmel.

Wir sind gar nicht weg. Wir sind auf immer im Datenhimmel. Datenarchiv. Datensammelsurium. Gruselig...

Es gibt großen Applaus für die Künstler/Innen der Performancegruppe Interrobang, die sich das alles ausgedacht haben, ein aus meiner Sicht ganz klug und mit  großer Liebe und Hingabe entwickeltes und ausgestaltetes überraschungsreiches Programm mit einem von Anfang bis Ende schlüssigen Konzept mit bestechender Konsequenz und mit faszinierender technischer Performance.

Wahnsinn. Wahnsinn! Die machen sich so viel Arbeit. Ich denke an „Her“, den Film mit Joaquin Phoenix und Scarlett Johansson. Hatten die den auch im Hinterkopf? Hatten sie!

Wir erleben Dinge, die wir kennen und machen Erfahrungen mit einem System, das wir lieber nicht kennenlernen wollen, von dem wir aber genau wissen, dass es längst Bestandteil unseres Lebens ist oder noch genauer: dass unser Leben in Daten und in den daraus zu ermittelnden Fakten und Profilen Bestandteil des Systems ist.

Vielleicht ist es besser, darüber nicht nachzudenken... Oder vielleicht ist es besser, darüber mal genauer nachzudenken...?

Verstörend aber höchst unterhaltsam, lustvoll, dionysisch, ein bisschen fies.

Aller-aller-feinst!

Ja, ja und ja! Max, danke, dass du mich mitgenommen hast!

Ich war gleich zweimal da. 

Aus meiner Sicht auch herausragend: Interrobangs Projekt „Callcenter Übermorgen“, für mich ein ganz großes Theatererlebnis 2015 beim Heidelberger Sückemarkt, vorgesehen um den 20. Juni 2016 in Leipzig. Ich will wieder hin!

Mein Fazit: Ich will auch mehr sehen von Interrobang.

Max & Maren 
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Von und mit Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg 
Dramaturgie: Kaja Jakstat 
Telefoninstallation und Datenbankprogrammierung: Georg Werner 
Videodesign, Sounddesign und Programmierung: Florian Fischer 
Bühne und Kostüm: Sandra Fox 
Musik: Joscha Eickel 
Produktionsleitung: ehrliche arbeit 
Hospitanz: Anja Schneidereit
Übersetzung (englische Version): Daniel Brunet 
Fotos: Michael Bennett, Renata Chueire, Nina Tecklenburg

Eine Koproduktion von Interrobang mit Schauspiel Leipzig und SOPHIENSÆLE.
Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds.

 

Weitere Infos zum Stück und Trailer hier.