2. Juli 2016

Das Grauen spielen: "Five Easy Pieces" von Milo Rau (Sophiensäle)

Five Easy Pieces: Sieben Kinder spielen. (Foto: Phile Deprez)
Kann man mit Kindern als Schauspieler/innen das Leben, die Verbrechen und das Umfeld des belgischen Kindermörders Marc Dutroux in einem Stück darstellen? Wo sind die Grenzen? Kann man Kindern soetwas überhaupt zumuten? Und wie weit darf man in der Darstellung gehen?

Jedes Kind in Belgien kennt diesen negativen nationalen Mythos, erkennt Marc Dutroux auf einem Foto, kann sofort erzählen, was er getan hat. In „Five Easy Pieces“ zeigt Milo Rau in fünf Szenen mit sieben Kinder-Schauspieler/innen aus Belgien und einem erwachsenen Schauspieler (Peter Seynaeve), der als Spielleiter fungiert, die Familien vom Marc Dutroux und seiner Opfer sowie die Opfer selber. Er geht dabei auch auf geschichtliche Details wie die Kolonialisierung des Kongo durch Belgien ein, in der Dutrouxs Vater Lehrer war, sowie die plötzliche Unabhängigkeit des Landes und den kongolesischen Unabhängigkeitskämpfer Patrice Lumumba. Milo Rau geht dabei an Grenzen (und man überlegt: überschreitet er sie sogar?) des für die Kinder Zumutbaren. Etwa als eine achtjährige Kinder-Schauspielerin eines der entführten Mädchen darstellen und sich dabei entkleiden soll. Oder als ein dreizehnjähriger Junge, der den Vater eines Opfers spielt, dazu gedrängt wird, echte Tränen zu weinen. Wahrscheinlich weiß jede/r im Raum, dass alles nur mit dem absoluten Einverständnis der Kinder geschieht und niemand zu etwas gezwungen wird. Aber trotzdem fühlt man sich bei diesen Szenen extrem unwohl. Erträglich ist das alles nur, weil die Szenen immer wieder gebrochen und die Zuschauer/innen daran erinnert werden, dass wir uns im Theater befinden und die Kinder „nur“ Rollen spielen. Spielen wollen ("Theater ist wie Puppenspiel, nur mit echten Menschen").

Maurice Leerman als Victor Dutroux im Interview (Foto: Phile Deprez)

Dabei handelt es sich um mehr als Reenactments. Denn es werden Performancefragen erörtert und mit moralischen Themen verknüpft: Was ist das Wichtigste für eine/n Schauspieler/in? Würdet ihr eine/n andere/n Schauspieler/in in einer Szene küssen? Habt ihr schon einmal getötet?

Jede Szene wird mit einer kurzen Videoaufnahme eingeleitet, in der erwachsene Schauspieler/innen das Thema des Pieces anspielen, die Kinder stellen dabei synchron das Dargestellte auf der Bühne nach. Dann beginnen die Monologe von Victor Dutroux, einem Polizisten, einem Opfer und den Eltern der entführten Mädchen. Die Monologe werden von Peter Seynaeve gefilmt. Zwischen den Szenen sprechen er und die Kinder über Alltägliches, die eigene Familie und Belgien. Sie fühlen sich auf der Bühne und in ihren Szenen offensichtlich nicht unwohl und spielen dabei so gut wie ausgebildete Schauspieler/innen. Eine solche Leistung von Kindern habe ich noch nie auf der Bühne gesehen.

Reenactment: Die belgisch-kongolesische Schauspielerin Elle Liza Tayou als Patrice Lumumba (Foto: Phile Deprez)

Der Titel des Stückes ist übrigens angelehnt an Igor Stravinskys „Five Easy Pieces“, eine Komposition, mit der Kindern das Klavier­spielen beigebracht werden sollte, sowie an Marina Abramovićs „Seven Easy Pieces”, die ikonische Aktionen der Performance­kunst nachspielte.

Wie alle Stücke, die ich bisher von Milo Rau („Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ an der Schaubühne, „The Dark Ages“ im Rahmen des FIND 2016, „The Civil Wars“ im Rahmen des FIND 2015) gesehen habe, geht mir das alles sehr nahe. Und wenn die Kritik schreibt, dass Milo Rau einer der wichtigsten Regisseur unserer Zeit ist, dann hat sie hier recht.

Ich überlege, wem ich empfehlen würde, in dieses Stück zu gehen (im Grunde jedem/jeder) und bei wem dabei zu viele Ängste produziert würden (mein Bruder und meine Freund/innen, die Kinder haben)...

"Five Easy Pieces" läuft noch am 2. und 3. Juli, jeweils um 19.30 Uhr in den Sophiensaelen.

Winne Vanacker als König möchte tanzen. (Foto: Phile Deprez)


Das Stück wurde bereits in Brüssel, Utrecht und Berlin gezeigt und ist in 2016/17 außerdem in Oslo, Hertogenbosch, Singapur, Genf, Rom, Terni, Prato, München, Gent, Aalst, Frankfurt, Valenciennes, Basel, Turnhout, Lausanne, Zürich, Amsterdam, Mons, Genk, Paris, Manchester/Brighton, Oostende, Barcelona, Rotterdam und Roeslare zu sehen. 

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Eine Produktion von IIPM und CAMPO Gent in Koproduktion mit Kunstenfestivaldesarts Brussels 2016, Münchner Kammerspiele, La Bâtie – Festival de Genève, Kaserne Basel, Gessnerallee Zürich, Singapore International Festival of Arts (SIFA), SICK! Festival UK, Le phénix scène nationale Valenciennes pôle européen de création und SOPHIENSÆLE.

Konzept, Text, Regie: Milo Rau
Spiel: Rachel Dedain, Maurice Leerman, Pepijn Loobuyck, Willem Loobuyck, Polly Persyn, Peter Seynaeve, Elle Liza Tayou, Winne Vanacker
Spiel Video: Sara De Bosschere, Pieter-Jan De Wyngaert, Johan Leysen, Jan Steen, Ans Van den Eede, Hendrik Van Doorn, Annabelle Van Nieuwenhuyse
Dramturgie: Stefan Bläske
Regieassistenz, Performance Coach: Peter Seynaeve
Bühne, Kostüme: Anton Lukas

Weitere Infos zum Stück auf der Seite des IIPM.

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