2. Dezember 2015

Die Datenwolke sind wir: Maren und Max bei Interrobang in den Sophiensälen

 Max und ich waren zusammen im Theater...


"To Like Or Not To Like"- Berliner Performancegruppe Interrobang - Sophiensäle - Oktober 2015

Heitere und schaurig-spannende interaktive Big Data-Erlebnisshow mit fiesem aber allgemein bekanntem Ergebnis: unser Leben ist Teil eines globalen Daten-Universums.

MAX: Wir sitzen auf unseren Stühlen, vorn ist die Bühne, die Leinwand, nach hinten steigt der Zuschauerraum an. Neben jedem Stuhl ist ein weiterer Stuhl mit einem zum Sitz gehörigen nummerierten Telefon. Stühle und Telefone sind von der ersten zur zweiten und zu den weiteren Reihen jeweils versetzt. 50 Besucher/Innen passen so in den Saal, den Hochzeitssaal der Sophiensäle. Vorn ist eine große Leinwand, so hoch wie der Saal.

Der Einlass erfolgt jeweils in Zweiergruppen. Zu Beginn wird von jedem ein Foto gemacht und wenn er oder sie  in den Theaterraum geht und sich auf den ihm oder ihr zugewiesenen nummerierten Platz setzt, dann kann er sein Foto und die Fotos der anderen schon fotografierten Theaterbesucher/Innen schon in Farbe in einer seifenblasen-artigen Kugel vor einem hellblauen Hintergrund auf der Leinwand sehen. Es kommen immer neue Kugeln, bis alle 50 Personen im Saal sind. Die Kugeln sind immer in Bewegung und stoßen sich bei gegenseitigem Kontakt jeweils gegenseitig ab.

MAREN: Als das Foto gemacht wird, überlege ich mir natürlich, ob das jetzt schon zu viel Preisgabe, zu viel Zugeständnis ist. Ich weiß ja, dass es um „Big Data“ geht und darum, inwieweit man bereit ist, etwas von sich  - also auch ein Bild von sich – der Öffentlichkeit oder wem auch immer zur Verfügung zu stellen. Ich lasse es geschehen und habe gleich ein schlechtes Gewissen. Es gibt übrigens ein paar Zuschauer, die das verweigern und sich nicht fotografieren lassen oder etwas vor die Kamera halten.

Dann kommt eine Schrift: bitte den Hörer abnehmen. Wir nehmen den Hörer ab, werden von einer wohlklingenden Frauenstimme freundlich begrüßt und dürfen jetzt an einer Befragung teilnehmen.
Von uns bzw. unseren Mit-Theaterbesuchern werden mehrere Fotos mit Nummern projiziert, z.B. 1 bis 4, dazu kommen Fragen, z.B. diese vier Personen sind Mitglieder einer Wohngemeinschaft, von wem möchten Sie sich bekochen lassen?

Oder: die hier abgebildeten Personen sind Mitglieder einer Terrorgruppe. Wer von ihnen ist der Anführer, das „Gehirn“?

Oder: diese sechs Personen suchen eine Wohnung. Wer von ihnen hat die größten Chancen, die Wohnung zu bekommen Wähle die 6, wenn du es bist.

Oder: Wer von diesen vier Personen besticht den Makler?

Die Bildzusammenstellungen werden vom System generiert.

Wer von diesen Personen bricht beim Marathonlauf 100m vor dem Ziel zusammen? Es ist viel Raum für unsere Vorurteile.

Es folgen weitere Bilder, von Menschen am Lagerfeuer, vom Grill, von einem Philharmonischen Orchester und die Frage dazu: bist du dabei? – da kann man die Tasten von 0 bis 6 drücken.

Jaja, ich ahne es schon: Gleich kommt mein Bild auch mit irgendeiner Frage. Hoffentlich ist es nichts Peinliches! Als mein Bild erscheint wird gefragt: „Welche Person halten Sie für autoritär?“ Ich bekomme viele Stimmen. Ist das jetzt gut oder schlecht?


Dann können oder sollen wir auch miteinander telefonieren und uns zu den Fragen austauschen: „wie haben die Neuen Medien dein Leben verändert?“ oder „ist es möglich die eigenen Daten zu schützen?“

Gibt’s ja nicht: Ich telefoniere mit Max. Er hat mich versehentlich angerufen, weil er sich vertippt hat. Wir werden aber bald unterbrochen und ich werde von einer anderen Zuschauerin angerufen. Wir reden darüber,  wie es „früher“ mit dem Telefonieren und Verabreden war. Ist auch so ein Klischee. Aber, hey, ich hab das halt wirklich noch so gemacht. Früher. Vor dem Handy. Ich bin 40. Kenne also das und das danach.

Dann können wir auch neue Telefonpartner/Innen wählen, aus 50 nummerierten projizierten Fotos von den Teilnehmer/Innen, einfach die Nummer wählen und weiter geht’s.

Wer nicht drückt oder zu langsam ist, der ist dann aktuell nicht dabei.

Schließlich werden die Meta-Daten ermittelt, z.B. von bestimmten Profilen, die Schnelldrücker, die Verweigerer, die nicht oder zu langsam gedrückt haben.

Dann spricht das System mit freundlicher wohlklingender Männerstimme mit uns, fordert uns auf, eine Frage mit ihm zu erörtern, wenn wir wollen. Wer die 1 drückt, ist weiter dabei, wer aber nicht drückt, z.B. weil er gar keine Frage hat, die er mit dem System erörtern will, ist raus. Der kann dann zuhören oder zuschauen, wie sich die anderen Theaterbesucher/Innen angeregt von jemandem einen Text anhören und in der Interaktion weitere Nummern auf der Tastatur wählen.

Ich frage mich: 1. Hören die Männer eine Frauenstimme? 2. Warum gebe ich so viel von mir preis? 3. Gebe ich zu viel von mir preis? 4. Speichern „die“ jetzt wirklich meine Daten? 5. Warum mache ich jetzt da mit? 6. Bin ich jetzt cool, weil ich die Sache nicht boykottiere oder genau das Gegenteil? 7. Warum stelle ich mir überhaupt diese Fragen?

Wir sehen auf blauen Himmel-Hintergrund eine weiße Wolke mit zentral eingeblendeten binären Symbolen. Die Wolke, das sind wir und unsere Daten. Das System fordert uns auf, mit ihm eine Frage zu besprechen und erzählt uns über einige unserer Persönlichkeitsmerkmale, die es herausgefunden hat durch unser Entscheidungsverhalten bei der Befragung, auch und besonders auch über die Metadaten, wann wir was gedrückt haben, wie schnell wir gedrückt haben, mit wem bzw. mit wie vielen Personen wir telefoniert haben.

Dann am Ende sagt uns die Männerstimme der Maschine, dass wir nun mit unseren Daten für immer bei ihr sein werden und weit über unser irdisches Leben hinaus beim bzw. im System bleiben werden, damit sind wir unsterblich und sind wir mit dem System für immer eins.

Ach Mensch, ich füge mich jetzt einfach...


Ausgeklügelte elektronische Schleifen führen uns je nach unserem Wahlverhalten zu immer neuen bzw. auch wieder zu denselben Ansagen der Stimme im Telefon, sehr faszinierend.

Ich denke: Was ist das für ein Wahsinnsaufwand sowas zu programmieren.

Zum Schluss sehen wir wieder unsere Fotos in den wasserhellen seifenblasenartigen Kugeln auf der Leinwand vor himmelblauem Hintergrund, ein lautes bassbetontes immer stärker werdendes Rauschen und Beben, bei dem nach und nach die Blasen mit unseren Fotos zerplatzen. Wir sind weg - im Datenhimmel.

Wir sind gar nicht weg. Wir sind auf immer im Datenhimmel. Datenarchiv. Datensammelsurium. Gruselig...

Es gibt großen Applaus für die Künstler/Innen der Performancegruppe Interrobang, die sich das alles ausgedacht haben, ein aus meiner Sicht ganz klug und mit  großer Liebe und Hingabe entwickeltes und ausgestaltetes überraschungsreiches Programm mit einem von Anfang bis Ende schlüssigen Konzept mit bestechender Konsequenz und mit faszinierender technischer Performance.

Wahnsinn. Wahnsinn! Die machen sich so viel Arbeit. Ich denke an „Her“, den Film mit Joaquin Phoenix und Scarlett Johansson. Hatten die den auch im Hinterkopf? Hatten sie!

Wir erleben Dinge, die wir kennen und machen Erfahrungen mit einem System, das wir lieber nicht kennenlernen wollen, von dem wir aber genau wissen, dass es längst Bestandteil unseres Lebens ist oder noch genauer: dass unser Leben in Daten und in den daraus zu ermittelnden Fakten und Profilen Bestandteil des Systems ist.

Vielleicht ist es besser, darüber nicht nachzudenken... Oder vielleicht ist es besser, darüber mal genauer nachzudenken...?

Verstörend aber höchst unterhaltsam, lustvoll, dionysisch, ein bisschen fies.

Aller-aller-feinst!

Ja, ja und ja! Max, danke, dass du mich mitgenommen hast!

Ich war gleich zweimal da. 

Aus meiner Sicht auch herausragend: Interrobangs Projekt „Callcenter Übermorgen“, für mich ein ganz großes Theatererlebnis 2015 beim Heidelberger Sückemarkt, vorgesehen um den 20. Juni 2016 in Leipzig. Ich will wieder hin!

Mein Fazit: Ich will auch mehr sehen von Interrobang.

Max & Maren 
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Von und mit Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg 
Dramaturgie: Kaja Jakstat 
Telefoninstallation und Datenbankprogrammierung: Georg Werner 
Videodesign, Sounddesign und Programmierung: Florian Fischer 
Bühne und Kostüm: Sandra Fox 
Musik: Joscha Eickel 
Produktionsleitung: ehrliche arbeit 
Hospitanz: Anja Schneidereit
Übersetzung (englische Version): Daniel Brunet 
Fotos: Michael Bennett, Renata Chueire, Nina Tecklenburg

Eine Koproduktion von Interrobang mit Schauspiel Leipzig und SOPHIENSÆLE.
Gefördert aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds.

 

Weitere Infos zum Stück und Trailer hier.

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