3. Dezember 2015

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 10: Schmerzliche Einschnitte ("Fräulein Julie" an der Schaubühne)

Max Penthollow schreibt mir...

Liebe Maren,

mehr zu Fräulein Julie:

Fräulein Julie von August Strindberg 1888 – Schaubühne – Regie: Katie Mitchell – Premiere am 25. September 2010

1. Der Inhalt:
Mittsommernacht in Schweden 1888, Küche im Gutshaus, Fest der Sommersonnenwende. Fräulein Julie (25), Tochter der Herrschaften, verführt den mit Köchin Kristin (35) verlobten Diener Jean (30), den sie schon seit ihrer Kindheit anhimmelt.

Nach der Mittsommer-Liebes-Nacht sieht Julie ihre Ehre verloren und nimmt sich mit Jeans Rasiermesser das Leben.

 2. Bühne und Kostüme sind im Stil der damaligen Zeit. Die Darsteller/innen spielen das Stück in stark verkürzter Form. Auf der Bühne wird synchron zum Spiel vom Spiel ein Film gemacht, der synchron zum Spiel auf der Projektions-Leinwand über der Bühne zu sehen ist. Links vorn auf der Bühne ein Tisch für Nahaufnahmen, rechts vorn auf der Bühne ein Tisch mit ca. fünf Mikrofonen für die Geräusche.

Zwei Geräuschemacherinnen, zwei Kameramänner. Schauspieler/innen und Kameraleute bedienen fünf Videokameras. 400 Filmschnitte (Go's), zwei Beamer – just in case.

Luise Wolfram als Julie vor der Kamera (Foto: Thomas Aurin)

Es gibt viel Bewegung, Laufen und Rennen, das Ganze ist eine ausgeklügelte Choreografie für ein Ballett der Darsteller/innen und Kameraleute auf der Bühne für das Schauspiel und für die zeitgenaue Bedienung der Stative, Kabel, Kameras, Tonlabor. Alle arbeiten in präzisem Zeittakt.

3. Cellomusik live mit Ensemble-Begleitung vom Tonträger und aus schallgedämpften Tonkabinen eingesprochene Lyrik von Inger Christensen aus Dänemark und warmes hellgelbes Licht, das von draußen durch die Fenster hereinfällt.

4. Der Strindberg-Text
ist stark gekürzt, Motive und Leitmotive sind immer präsent und wesentliches Merkmal der Inszenierung und des Stücks: das Wasser, die Spiegel, das Blut, das Feuer, die Kräuter, die Blumen, die Wanduhr, das Rasiermesser, das Licht, die Gestaltung der Bühne, die Kostüme, die Cellomusik, die eingesprochene Lyrik aus den Kabinen („die Aprikosenbäume, die vierzehn Kristallgitter, die sieben kristallinischen Systeme, Zedern, Zypressen, Cerebellum“, „das unbenutzte Bett des Schlaflosen“ und so weiter).

 5. Einige Requisiten der Geräuschemacherinnen
sind: Zündhölzer, Feuer, Wasser, Gläser, Fläschen mit Verschlusskorken, Vogelfedern, Stoff, unter dem Tisch Kies, Gras-Äquivalent, verschiedenartige Schuhe, ca. fünf Mikrofone über und unter dem Tisch.

Cathlen Gawlich, Jule Böwe, Tilman Strauß u.a.: Text & Geräusche (Foto: Thomas Aurin)

6. Und jetzt kommt das Beispiel: Jean zündet in der Küche seine Zigarre mit einem großen Zündholz an: dieses Anzünden des Zündholzes ist zeitgleich vierfach zu sehen für die Theaterbesucher/innen in vier unterschiedlichen Szenen: 1. direkt: in der Küche (Jean zündet ein Zündholz an), 2. direkt: links am Tisch für Großaufnahmen (Darstellerin zündet ein Zündholz an, Live-Großaufnahme), 3. direkt: rechts am Tisch für das Geräusch des aufflammenden Zündholzes (Geräuschemacherin zündet ein Zündholz an, Live-Tonaufnahme) und schließlich 4. im Film auf der Projektionswand die Live-Großaufnahme des Anzündens vom Tisch auf der Bühne links und die Live-Tonaufnahme des eben entfachten und auflodernden Zündholzes vom Tisch auf der Bühne rechts. Für die Szene werden also zeitgleich drei Zündhölzer angezündet und vier sind zu sehen! Das hat schon was!

7. Wenn das kleine braune Fläschchen mit dem Kräuter-Elixir beim Entkorken Plop macht, gibt es im Saal leises Lachen.

8. Die Aufführung
dauerte zuletzt (Oktober 2013) etwa 75 Minuten, ganz früher bis 85 und 90 Minuten.

Am 16. Oktober 2013 war die 75. Vorstellung (laut Schaubühnen-Programm).

9. Bei dem ganzen synchrontechnisch und choreografisch ausgeklügelten und teilweise ballettartigen Spiel mit Stativen, Kabeln und Kameras habe ich ich besonders die kleinen nicht geplanten Besonderheiten geliebt, wenn etwas nicht ganz perfekt war, wenn z.B. ungeplant plötzlich ein Kontrollmonitor im Bild (Film) auftaucht oder wenn unbeabsichtigt Julies kleiner Zeisig Serine im Live-Film bereits zerteilt auf dem Schneidebrett in der Küche in zwei Stücken zu sehen ist, schon kurz bevor (!) Jean im Stück (nur im Film/Bild zu sehen!) den kleinen Vogel mit dem Küchenmesser mit einem lauten Messerschlag mit einem Hieb in zwei Stücke schneidet. Oder wenn die langen Kamerakabel auf der Bühne entwirrt werden müssen und das Entwirren der Kabel etwas länger dauert.

Mir haben das emsige Treiben und das gelegentlich eilige Laufen und Rennen auf der Bühne immer sehr gut gefallen. Besonders gern habe ich den Geräuschemacherinnen bei Ihrer Arbeit zugesehen.

Das Intro finde ich ganz toll!

10. Das Spannende und das besonders Faszinierende an Katie Mitchell‘s Inszenierung besteht für mich in einer aufregenden Balance zwischen dem Spiel auf der Bühne und dem synchron dazu gemachten und synchron dazu gezeigten Spiel des Live-Films vom Spiel auf der Bühne.

Die Cellomusik auf der Bühne, die eingesprochene dänische Lyrik und das eigenwillig fallende goldgelbe Licht der sonnigen Mittsommernacht geben dem Stück aus meiner Sicht eine besondere und eigenartige unwirkliche Stimmung.

11. Die Schaubühne ist für Gastspiele von Katie Mitchells Inszenierung von „Fräulein Julie“ viel und weit gereist:

Gastspiele der Schaubühne mit „Fräulein Julie“ (Quelle: www.schaubuehne.de):
Paris (März 2012)
Athen (Juni 2012)
Stockholm (Juni 2012)
Avignon (Juli 2012)
Zagreb (September 2012)
Moskau (Dezember 2012)
Paris (März 2013)
London (April/Mai 2013)
Rennes (November 2013)
Reims (Dezember 2013)
Tianjin (April 2014)
Beijing (April/Mai 2014)
São Paulo (März 2015)
Almada (Juli 2015)

 12. In den vergangenen vier Jahren habe ich Katie Mitchells „Fräulein Julie“ an der Schaubühne genau 20 mal gesehen.

Ich möchte „Fräulein Julie“ dort sehr gerne noch ein paar mal sehen!

Sehr, sehr gerne!

Allerliebst

Max
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Autor: August Strindberg
Regie: Katie Mitchell, Leo Warner
Bühne und Kostüme: Alex Eales
Licht: Philip Gladwell
Sounddesign: Gareth Fry, Adrienne Quartly
Musik: Paul Clark
Dramaturgie: Maja Zade

Kristin: Jule Böwe
Jean: Tilman Strauß
Julie: Luise Wolfram
Kristin Double: Cathlen Gawlich
Kristin Hände: Lisa Guth, Luise Wolfram
Kamera: Andreas Hartmann / Stefan Kessissoglou, Krzysztof Honowski
Geräusche: Maria Aschauer, Lisa Guth
Weitere Kameraaufnahmen, Geräusche und Stimmen aus dem Off: Ensemble
Violoncello: Chloe Miller / Gabriella Strümpel

Dauer: ca. 75 Minuten

Infos und Trailer auf der Seite der Schaubühne.

Mein Bericht aus Stockholm 2012 zu „Fräulein Julie“ hier.

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