10. August 2016

Rückblick Mai bis Juli 2016: Die Macht von Texten, Musik und Bewegung

Auf der Zielgeraden zum Spielzeit-Ende gab es für mich Neu-Erlebtes, Wieder-Erlebtes und viele Erfahrungen hinter den Kulissen.


MAI

05.05.16 PREMIERE Wallenstein von Friedrich Schiller (Schaubühne)
Drei Stunden ohne Pause. Aber die gingen erstaunlich schnell vorbei. Nebel, Nebel, Nebel und eine große überwiegend dunkle Bühne – das Stück ist ja auch düster. Die typische Thalheimer-Ästhetik. Wallenstein (Ingo Hülsmann) sitzt und sitzt. Und sitzt alles aus. Eigentlich hätte ich mir gewünscht, dass er gar nicht aufsteht. Tut er aber im letzten Drittel doch. Dahinter stehend der/die Astrolog/in gespielt von Lise Risom Olsen als Einflüsterer/in – das Geschlecht bewusst im Unklaren gelassen. Ich muss diese Inszenierung unbedingt noch mal sehen. Auch um noch mehr zu verstehen.


Ingo Hülsmann, Urs Jucker, Lise Risom Olsen in "Wallenstein" (Foto: Katrin Ribbe)

Regie: Michael Thalheimer  
Bühne: Olaf Altmann  
Kostüme: Nehle Balkhausen  
Musik: Bert Wrede  

Wallenstein: Ingo Hülsmann  
Octavio Piccolomini: Peter Moltzen  
Max Piccolomini: Laurenz Laufenberg  
Graf Terzky: Felix Römer  
Illo: Andreas Schröders  
Buttler: Urs Jucker  
Isolani, Gefreiter: David Ruland  
Questenberg, Wrangel: Ulrich Hoppe  
Seni: Lise Risom Olsen  
Herzogin von Friedland: Marie Burchard / Cathlen Gawlich  
Thekla: Alina Stiegler  
Gräfin Terzky: Regine Zimmermann  

Dauer: ca. 180 Minuten

Weitere Infos und Trailer.


13.05.16 re-visited Ungeduld des Herzens von Simon McBurney nach dem Roman von Stefan Zweig (Schaubühne)

Christoph Gawenda (Foto: Gianmarco Bresadola)

Grandioses Schauspieler/innen-Theater! Mittlerweile spielen sie ohne Teleprompter und schaffen dieses Text-Monster richtig gut.


20.05.16 Lesung „Skizzen für einen Spielfilm“ von Isa Genzken (Haus der Berliner Festspiele / Theatertreffen)
Drei Schauspieler/innen (Jule Böwe, Karin Pfammatter, Felix Römer)  lesen aus  den 1993 veröffentlichen Texten, in denen die Künstlerin Isa Genzken Momentaufnahmen aus ihrem Leben skizziert. Einfühlsam und profan reihen sich die Erinnerungen aneinander, beginnend mit ihrer Geburt in Bad Oldesloe und endend mit einer Ausstellungseröffnung in Bremen.


22.05.16 Streitraum: Wann ist ein „Nein“ ein „Nein“ (Schaubühne)
Das Sexualstrafrecht vor und nach Köln. - Carolin Emcke diskutierte mit Christina Clemm (Rechtsanwältin), Hilal Sezgin (Journalistin) und Jürgen Thiele (Leiter des Dezernates für Sexualdelikte im Landeskriminalamt Berlin).
Muss sich eine Frau gegen einen Übergriff wehren oder reicht auch, dass sie eindeutig und explizit mit einem »Nein« ihre Ablehnung bekundet? Besonders hängen blieb dieses Bild von Carolin Emcke: Sie müsse sich doch auch nicht an ihren Fernseher klammern, um klarzumachen, dass sie einen Diebstahl ablehne. Bei dem eigenen Körper - etwas Persönlicheres gibt es kaum - wirde aber darüber diskutiert, ob ein "Nein" reichen kann.

Carolin Emcke erhält übrigens in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels; sie leiste mit ihren Büchern, Artikeln und Reden einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Dialog und zum Frieden, heißt es in der Begründung des Vereins.

Weitere Infos und Videos vergangener Streiträume hier.
 

22.05.16 re-re-re-re-visited TRUST von Falk Richter (Schaubühne)
Ich glaube, ich habe dieses Stück nun schon fünf mal gesehen. Und, achja, es bleibt einfach eines meiner Lieblingsstücke! „Pack deine Sachen und bleib!“

Nina Wollny (Foto: Heiko Schäfer)


25.05.16 Common Ground von Yael Ronen (Maxim Gorki Theater)
Über diese Inszenierung habe ich einen Artikel verfasst: "Ein Land, das es nicht mehr gibt".


28.5.2016 PREMIERE MACHT was ihr wollt - Ein Projekt der Polyrealisten (Schaubühne)

Elf Spielerinnen und Spieler treten gegeneinander an. Was tun sie, um mächtig zu werden? Jede/r erzählt ihre/seine Geschichte, um Punkte zu sammeln. Dazwischen gibt es weitere Aufgaben. Wie gehen Menschen in eine solchen Wettkampfsituation? Und sind Sie sie bereit ihre Prinzipien zu verraten. Nehmen Sie Rücksicht auf die Bedürfnisse und Nöte der Mitspieler/innen?
Ein Jahr lang haben sich die Polyrealisten, eine Gruppe von Menschen zwischen 27 und 67 Jahren, mit dem Thema »Macht« auseinandergesetzt und treten nun mit den Ergebnissen das erste Mal auf das Spielfeld.

Ikko Masuda von den Polyrealisten (Foto: Gianmarco Bresadola)

Leitung: Wiebke Nonne
Künstlerische Mitarbeit: Nele Rennert, Katharina Berger
Bühne: Emilie Cognard  
Kostüme: Arianna Fantin  

Mit: Robert Akstinat, Chantal Chelli-Zenner, Christian Haffmann, Hannes Hannemann, Anke Liermann, Ikko Masuda, Stefan Matzke, Claudio Melis, Sarah Müller, Eva Reuß-Richter, Heike Schalk

Weitere Infos auf der Seite der Schaubühne.


JUNI
  
01.06.16 Tschick nach dem Roman von Wolfgang Herndorf (Deutsches Theater)
Laut der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins lag Tschick auf Platz 1 der meistgespielten Texte auf den deutsprachigen Bühnen in der Spielzeit 2014/215. Der Road-Roman für Jugendliche wurde mittlerweile auch von Fatih Akin verfilmt. Am DT läuft das Stück seit 2011 mit großem Erfolg. Das Tolle an der Inszenierung: Die Rollen von Maik und Tschick werden wechselnd von den beiden Schauspielern gespielt und der Wechsel ist jedesmal überzeugend. Ich kann nur sagen: Auf in die Wallachei. Mit dem Lada!

Regie: Alexander Riemenschneider
Bühne und Kostüme: Rimma Starodubzeva
Musik: Arne Jansen
Mit Wiebke Mollenhauer, Sven Fricke, Thorsten Hierse, Arne Jansen

Weitere Infos zum Stück und Programmheft zum Download auf der Seite des DT.


11.06.16 Lesung For the Disconnected Child von Falk Richter (Schaubühne)
Leider ist diese Inszenierung, die 2013/2014 in Kooperation mit der Staatsoper an der Schaubühne lief, nicht mehr zu sehen. Umso schöner, dass der Autor und Regisseur zusammen mit seinen Schauspieler/innen Ursina Lardi und Tilmann Strauß das Stück noch einmal mit Texten und Musik aufleben ließ. Zugleich durften wir dem Gesang von Helgi Jónsson, der neben anderen die Musik dafür komponierte, lauschen. Falk Richter las außerdem einige Texte aus "Small Town Boy" (Maxim Gorki Theater), "Never Forever" (Schaubühne) und "Zwei Uhr Nachts" (Schauspiel Frankfurt). Seine Texte gibt es übrigens auch in Buchform, zu erwerben u.a. in der Theaterbuchhandlung Einar & Bert.


19.06.16 Keiner findet sich schön von René Pollesch (Volksbühne)
Hier habe ich über diese Inszenierung geschrieben: "Iggy Pop oder Robocop".


23.06.16 Freunde der Schaubühne // Freunde hinter den Kulissen: Führung durch die Kostümbildnerei (Schaubühne)
Mein Bericht im Archiv der Freunde der Schaubühne e.V. hier.


25.06.16 re-visited FEAR von Falk Richter (Schaubühne)
Ich habe das Stück nach den rechtlichen Streitigkeiten und der umfangreichen Breichterstattung noch mal mit anderen Augen gesehen. Unter dem unmittelbaren Eindruck des Brexit erscheint auch der Europa-Monolog von Lise Risom Olsen neu.


27.06.16. Freunde der Schaubühne // Freunde treffen Künstler: Ein Abend mit Peter Moltzen, Andreas Schröders und Ingo Hülsmann über Michael Thalheimers „Wallenstein“ (Schaubühne)

Wir sprachen mit Wallenstein, Octavio Piccolomini und Illo oder vielmehr den Schauspielern Ingo Hülsmann, Peter Moltzen und Andreas Schröders über Michael Thalheimers Wallenstein-Inszenierung. Was gibt es Neues aus Politik, Kultur und Sport? Mit dieser Frage beschäftigen sich nicht etwa die Figuren in Schillers Stück. Sie wurde zu Beginn der Proben gestellt. Im Rahmen unseres Abends mit den drei Schauspielern ging es dann natürlich auch um Astrologie und die Frage, warum Wallenstein seine Sache im wahrsten Sinne des Wortes aussitzt.

Alle drei Schauspieler haben bereits mit Michael Thalheimer gearbeitet, der nach "Die Macht der Finsternis" von Leo Tolstoi (2011), "Tartuffe" von Molière (2013) und "Nachtasyl" von Maxim Gorki (2015) mit "Wallenstein" von Friedrich Schiller (Premiere: 5. Mai 2016) nun bereits zum vierten mal an der Schaubühne inszeniert hat. In der kommenden Spielzeit wird Thalheimer sich ein weiteres mal mit Molière beschäftigen und im Januar 2017 "Der eingebildete Kranke" auf die Bühne bringen.


29.06.16 der die mann nach Texten von Konrad Bayer (Volksbühne)
Die Texte des österreichischen Literaten Konrad Bayer humorvoll und bunt von Herbert Fritsch auf die Bühne gebracht. Bayers Wortschöpfungen werden von den Schauspieler/innen zelebriert und man glaubt seinen Augen und Ohren nicht. Wer sowas kann ist ein/e große/r Künstler/in. Rhythmus. Dada. Performance. Gesang. Man verlässt das Theater und hat - kaum zu glauben - ein paar Ohrwürmer, die einen den Rest des Abends begleiten: "Aber Karl gibt nicht auf..."

Kein Wunder, dass Herbert Fritsch mit dieser Inszenierung erneut zum Berliner Theaterterffen eingeladen wurde.

Regie & Bühne: Herbert Fritsch
Kostüme: Victoria Behr
Musikalische Leitung: Ingo Günther

Mit: Florian Anderer, Jan Bluthardt, Werner Eng, Annika Meier, Ruth Rosenfeld, Axel Wandtke und Hubert Wild & dasderdiemannorchester mit Ingo Günther, Michael Rowalska, Taiko Saito und Fabrizio Tentoni


30.6.16 ungefähr gleich von Jonas Hassen Khemiri (Schaubühne)
Als ich den Titel des Stückes das erste mal las - ohne zu wissen, worum es geht - dachte ich, es ginge vielleicht auch hier wieder um Feminismus (ein Thema, das an der Schaubühne in den letzten Monaten sehr präsent war). Auch in "thisisitgirl" und "istgleich" (man achte auf die Ähnlichkeit des Titels!) ging es darum. Doch das Stück handelt von Geld, den Wert von Kunst und Theater und die Suche nach Glück in einer durchökonomisierten Welt. Folgende Assoziation kommt mir in den Sinn: Ein Bekannter sagte kürzlich zu mir, dass Schaubühnen-Tickets mittlerweile wie Goldstaub seien. Das passt zum Bild des im Stück verwendeten goldenen Konfettis, mit dem die Regisseurin Mina Salehpour den Zauber, aber auch die Vergänglichkeit der Kunst am Theater ausdrücken wollte. Greifbar und doch nicht greifbar.

Regie: Mina Salehpour   
Bühne: Andrea Wagner   
Kostüme: Maria Anderski   
Dramaturgie: Bettina Ehrlich   
Mit: Bernardo Arias Porras, Iris Becher, Renato Schuch, Alina Stiegler

Essay zum Stück in Pearson's Preview: Sekt oder Champagner? Ungefähr gleich – Mina Salehpour nimmt Komödien ernst


 JULI
  
01.07.16 Five easy pieces von Milo Rau (Sophiensäle)
Einen ausführlichen Artikel habe ich hier verfasst: "Das Grauen spielen".
Weitere Infos zum Stück auf der Seite des IPM. In 2016/2017 u.a. noch in Frankfurt, Basel, Lausanne, Zürich, Amsterdam, Paris, Manchester/Brighton, Barcelona und Rotterdam zu sehen. Hingehen - es lohnt sich!


08.07.16 My Fair Lady (Komische Oper)
Mein letzter Musical-Besuch liegt schon ein paar Jahre zurück. Was mir an der Inszenierung dieses Klassikers an der Komischen Oper besonders gefiel: Das reduzierte Bühnenbild (Grammophone in verschiedenen Größen) und die bekannten Lieder. Im anschließenden Publikumsgespräch entpuppten sich die beiden Hauptdarsteller/innen Musical-Star Katharine Mehrling (Eliza Doolitle) und Schauspieler Max Hopp (Henry Higgins) als äußerst sympathisch. Was ich sonst noch lernte: Das Musical wird fälschlicherweise meistens als Komödie gesehen, dabei ist der Ausgang der Pygmalion-Geschichte von George Bernard Shaw eher traurig.

Musikalische Leitung: Kristiina Poska, Peter Christian Feigel
Inszenierung: Andreas Homoki
Choreographie: Arturo Gama
Bühnenbild: Frank Philipp Schlößmann
Kostüme: Mechthild Seipel

Professor Henry Higgins: Max Hopp
Eliza Doolittle: Katharine Mehrling, Mirka Wagner
Alfred P. Doolittle: Jens Larsen, Carsten Sabrowski
Oberst Pickering: Christoph Späth, Tom Erik Lie
Mrs. Higgins: Susanne Häusler
Mrs. Pearce: Christiane Oertel
Freddy Eynsford-Hill: Johannes Dunz, Adrian Strooper
Professor Zoltan Karpaty: Zoltan Fekete, Mate Gyenei
Chorsolisten der Komischen Oper Berlin


11.07.16 Eisler on the Beach (Deutsches Theater)
Wie in Shakespeares Dramen geht es zu in der Familie Eisler soll Charlie Chaplin gesagt haben. Die Geschichte um Hanny Eisler und seine beiden Geschwister Gerhart und Ruth, die als Zeugin der Anklage vor dem "Ausschuss für unamerikanische Umtriebe" aussagt. Zusammen mit der Bolschewistischen Kurkapelle Schwarz-Rot erzählen Tom Kühnel und Jürgen Kuttner die Geschichte der Linken im 20. Jahrhundert als Familiengeschichte. Das Problem der Inszenierung: Es wird nicht klar, warum die beiden Regisseure die Geschichte erzählen. Außerdem wird man das Gefühl nicht los, dass auch die Schauspieler nicht richtig bei der Sache sind. Enttäuschend!

Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner
Bühne: Jo Schramm
Kostüme: Daniela Selig
Musik: Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot
Mit Maren Eggert, Daniel Hoevels, Jürgen Kuttner, Ole Lagerpusch, Jörg Pose, Thomas Neumann, Simone von Zglinicki


15.07.16 The blind poet von Jan Lauwers & Needcompany (Foreign Affairs Festival // Berliner Festspiele)
Portraits der sieben Performer/innen dargestellt in Bewegung und Text. Beleuchtet und gegenüber gestellt werden dabei die persönlichen Biographien und die verschiedenen Nationalitäten - alleine, im Chor, als Songs, als Tänze.  Sie entwickeln auf der Bühne verschiedene Identitäten im gegenwärtigen multikulturellen Europa - mal traurig, mal lustig.

Grace Ellen Barkey mit Clowns-Nase und Clowns-Schuhen (Foto: Maarten Vanden Abeele)

Das belgische Künstlerkollektiv Needcompany wurde 1986 von dem Theatermacher und Künstler Jan Lauwers und der Choreographin Grace Ellen Barkey gegründet.

Text, Regie & Bühne: Jan Lauwers
Musik: Maarten Seghers
Kostüme: Lot Lemm, Bachir bin Ahmed bin Rhaïem El Toukabri

Mit Grace Ellen Barkey, Jules Beckman, Anna Sophia Bonnema, Hans Petter Melø Dahl, Benoît Gob, Maarten Seghers, Mohamed Toukabri, Elke Janssens, Jan Lauwers

Weitere Infos & Trailer auf der Seite der Berliner Festspiele.


16.6.16 Freunde der Schaubühne // Freunde hinter der Kulissen: Theaterführung mit Jürgen Schitthelm & Spielzeitende (Schaubühne)
Jürgen Schitthelm, der 1962 die Schaubühne gründete, ist das, was man eine lebende Theater-Legende nennt. Nicht jede/r kommt in den Genuss, seinen Ausführungen aus über 50 Jahren Schaubühnen-Geschichte zu lauschen. Ein Bericht folgt in Kürze und wird dann im Archiv der Freunde der Schaubühne e.V. veröffentlicht. Der ideale Ausklang der Spielzeit 2015/2016!


"Spaceship Schaubühne": Die Unterbühne (Foto: Maren Vergiels)

Bilder aus über 50 Jahren Schaubühne (Foto: Maren Vergiels)

19. Juli 2016

Theaterferien - aber nicht ganz ohne Theater

Theaterferien! Was die Mitarbeiter/innen der Berliner Theater herbeigesehnt haben - schließlich gibt es auch ein Leben jenseits des Theaterbetriebs -, ist für uns Zuschauer/innen eine Zeit, in der wir auf unsere Lieblingsbeschäftigung verzichten müssen. Es lohnt sich allerdings, bis Ende August/Anfang September, bevor die Stadtheater wieder in die neue Spielzeit starten, einmal die Programme der diversen Off-Theater und kleinen Bühnen zu studieren. Außerdem besteht natürlich die Möglichkeit Festivals im Ausland zu besuchen. Ich plane einen Trip zum "Dans o Theater Festival" in Göteborg und werde natürlich davon berichten. Außerdem möchte ich das ein oder andere Theater-relevante Thema aufgreifen und darüber schreiben. Zudem wurden mir von meinen Gastblogger/innen weitere Beiträge zugesagt.

4. Juli 2016

"Mit Interesse und Bestürzung" - Reaktion auf Volksbühnen-Brief: Offener Brief internationaler Kunstschaffender

Ein weiteres Kapitel in der Debatte um die Nachfolge der Volksbühnen-Leitung.

Ein offener Brief internationaler Kulturarbeiter/innen sorgt für neuen Gesprächsstoff. Die Unterzeichnenden, unter ihnen Okwui Enwezor, Dercons Nachfolger als Leiter des Münchner Hauses der Kunst, haben sich am 1. Juli 2016 schriftlich mit Chris Dercon solidarisiert.

Die Verfasser/innen unterstellen den Volksbühnen-Mitarbeiter/innen, dass es ihnen nicht um den Erhalt von Arbeitsplätzen und den Schutz des Erbes der Volksbühne ginge ("A cursory reading of the complaints and the charges leveled within the letter reveals clearly that the motive is not about jobs or the defense and protection of the legacy of the Volksbühne...), sondern glauben, dass hier Machtmissbrauch vorliege, um Ideen bzw. eine persönliche Vision zu vernichten ("the abuse of the privilege conferred by public employment to defeat an individual’s vision"). Sie loben Dercons Qualitäten im Bereich der bildenden Kunst, der als visionärer Leiter im Bereich des Museumswesens während der letzten drei Jahrzehnte starke und nachhaltige Strukturen aufgebaut habe ("Chris Dercon brings with him to Berlin strong record of visionary leadership in the museum field over three decades").

Hier mehr zum offenen Brief der Volksbühnen-Mitarbeiter/innen vom 20. Juni 2016.

2. Juli 2016

Das Grauen spielen: "Five Easy Pieces" von Milo Rau (Sophiensäle)

Five Easy Pieces: Sieben Kinder spielen. (Foto: Phile Deprez)
Kann man mit Kindern als Schauspieler/innen das Leben, die Verbrechen und das Umfeld des belgischen Kindermörders Marc Dutroux in einem Stück darstellen? Wo sind die Grenzen? Kann man Kindern soetwas überhaupt zumuten? Und wie weit darf man in der Darstellung gehen?

Jedes Kind in Belgien kennt diesen negativen nationalen Mythos, erkennt Marc Dutroux auf einem Foto, kann sofort erzählen, was er getan hat. In „Five Easy Pieces“ zeigt Milo Rau in fünf Szenen mit sieben Kinder-Schauspieler/innen aus Belgien und einem erwachsenen Schauspieler (Peter Seynaeve), der als Spielleiter fungiert, die Familien vom Marc Dutroux und seiner Opfer sowie die Opfer selber. Er geht dabei auch auf geschichtliche Details wie die Kolonialisierung des Kongo durch Belgien ein, in der Dutrouxs Vater Lehrer war, sowie die plötzliche Unabhängigkeit des Landes und den kongolesischen Unabhängigkeitskämpfer Patrice Lumumba. Milo Rau geht dabei an Grenzen (und man überlegt: überschreitet er sie sogar?) des für die Kinder Zumutbaren. Etwa als eine achtjährige Kinder-Schauspielerin eines der entführten Mädchen darstellen und sich dabei entkleiden soll. Oder als ein dreizehnjähriger Junge, der den Vater eines Opfers spielt, dazu gedrängt wird, echte Tränen zu weinen. Wahrscheinlich weiß jede/r im Raum, dass alles nur mit dem absoluten Einverständnis der Kinder geschieht und niemand zu etwas gezwungen wird. Aber trotzdem fühlt man sich bei diesen Szenen extrem unwohl. Erträglich ist das alles nur, weil die Szenen immer wieder gebrochen und die Zuschauer/innen daran erinnert werden, dass wir uns im Theater befinden und die Kinder „nur“ Rollen spielen. Spielen wollen ("Theater ist wie Puppenspiel, nur mit echten Menschen").

Maurice Leerman als Victor Dutroux im Interview (Foto: Phile Deprez)

Dabei handelt es sich um mehr als Reenactments. Denn es werden Performancefragen erörtert und mit moralischen Themen verknüpft: Was ist das Wichtigste für eine/n Schauspieler/in? Würdet ihr eine/n andere/n Schauspieler/in in einer Szene küssen? Habt ihr schon einmal getötet?

Jede Szene wird mit einer kurzen Videoaufnahme eingeleitet, in der erwachsene Schauspieler/innen das Thema des Pieces anspielen, die Kinder stellen dabei synchron das Dargestellte auf der Bühne nach. Dann beginnen die Monologe von Victor Dutroux, einem Polizisten, einem Opfer und den Eltern der entführten Mädchen. Die Monologe werden von Peter Seynaeve gefilmt. Zwischen den Szenen sprechen er und die Kinder über Alltägliches, die eigene Familie und Belgien. Sie fühlen sich auf der Bühne und in ihren Szenen offensichtlich nicht unwohl und spielen dabei so gut wie ausgebildete Schauspieler/innen. Eine solche Leistung von Kindern habe ich noch nie auf der Bühne gesehen.

Reenactment: Die belgisch-kongolesische Schauspielerin Elle Liza Tayou als Patrice Lumumba (Foto: Phile Deprez)

Der Titel des Stückes ist übrigens angelehnt an Igor Stravinskys „Five Easy Pieces“, eine Komposition, mit der Kindern das Klavier­spielen beigebracht werden sollte, sowie an Marina Abramovićs „Seven Easy Pieces”, die ikonische Aktionen der Performance­kunst nachspielte.

Wie alle Stücke, die ich bisher von Milo Rau („Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ an der Schaubühne, „The Dark Ages“ im Rahmen des FIND 2016, „The Civil Wars“ im Rahmen des FIND 2015) gesehen habe, geht mir das alles sehr nahe. Und wenn die Kritik schreibt, dass Milo Rau einer der wichtigsten Regisseur unserer Zeit ist, dann hat sie hier recht.

Ich überlege, wem ich empfehlen würde, in dieses Stück zu gehen (im Grunde jedem/jeder) und bei wem dabei zu viele Ängste produziert würden (mein Bruder und meine Freund/innen, die Kinder haben)...

"Five Easy Pieces" läuft noch am 2. und 3. Juli, jeweils um 19.30 Uhr in den Sophiensaelen.

Winne Vanacker als König möchte tanzen. (Foto: Phile Deprez)


Das Stück wurde bereits in Brüssel, Utrecht und Berlin gezeigt und ist in 2016/17 außerdem in Oslo, Hertogenbosch, Singapur, Genf, Rom, Terni, Prato, München, Gent, Aalst, Frankfurt, Valenciennes, Basel, Turnhout, Lausanne, Zürich, Amsterdam, Mons, Genk, Paris, Manchester/Brighton, Oostende, Barcelona, Rotterdam und Roeslare zu sehen. 

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Eine Produktion von IIPM und CAMPO Gent in Koproduktion mit Kunstenfestivaldesarts Brussels 2016, Münchner Kammerspiele, La Bâtie – Festival de Genève, Kaserne Basel, Gessnerallee Zürich, Singapore International Festival of Arts (SIFA), SICK! Festival UK, Le phénix scène nationale Valenciennes pôle européen de création und SOPHIENSÆLE.

Konzept, Text, Regie: Milo Rau
Spiel: Rachel Dedain, Maurice Leerman, Pepijn Loobuyck, Willem Loobuyck, Polly Persyn, Peter Seynaeve, Elle Liza Tayou, Winne Vanacker
Spiel Video: Sara De Bosschere, Pieter-Jan De Wyngaert, Johan Leysen, Jan Steen, Ans Van den Eede, Hendrik Van Doorn, Annabelle Van Nieuwenhuyse
Dramturgie: Stefan Bläske
Regieassistenz, Performance Coach: Peter Seynaeve
Bühne, Kostüme: Anton Lukas

Weitere Infos zum Stück auf der Seite des IIPM.

23. Juni 2016

"Wir sehen die Zukunft der Volksbühne bedroht!" - Offener Brief der Volksbühnen-Mitarbeiter/innen

Aus aktuellem Anlass: Am 20.6.2016 richteten sich die Mitarbeiter/innen der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in einem offenen Brief an die Berliner Kulturpolitik. Ab 2017 wird Chris Dercon (bisher Leiter der Londoner Tate Modern) Intendant der Volksbühne, er hat umfangreiche Veränderungen für das Haus angekündigt. In dem Brief, der von 180 Schauspieler/innen, Regiseur/innen und weiteren Mitarbeiter/innen des Hauses unterzeichnet wurde, wird die Sorge um die Zukunft der Volksbühne und die Befürchtung vor einem massiven Stellenabbau ausgedrückt. Eine konzeptionelle Weiterentwicklung sei bei Dercon nicht zu erkennen.

Die Unterzeichner/innen kritisieren die Berliner Kulturpolitik:
"Im Namen einer vermeintlichen Internationalisierung und Vielfalt arbeitet sie intensiv an der Zerstörung von Originalität und Eigensinn, mit der die Volksbühne weltweit Anerkennung findet."

Der Brief endet mit der Bitte an den Senat das Konzept von Chris Dercon und der Programmdirektorin Marietta Piekenbrock zu überprüfen.

Der offene Brief der Volksbühne an  die Parteien im Abgeordneten Haus von Berlin und die Staatsministerin für Kultur und Medien, Frau Prof. Monika Grütters.

Eine Reaktion von Claus Peymann, Direktor des Berliner Ensembles, ließ natürlich nicht lange auf sich warten. Er schrieb seinerseits einen offenen Brief und schimpft darin erneut auf den Regierenden Bürgermeister von Berlin Michael Müller sowie den Kulturstaatssekretär Tim Renner, glaubt die Volksbühne wird zur "Eventbude" degradiert und fordert Müller auf "seinen Fehler einzusehen". Peymanns Brief birgt, wie zu erwarten, eine gewisse Komik - größtenteils sicherlich gewollt, teilweise bestimmt auch ungewollt, wenn er z.B. von dem "ganzen, anderen modischen Quatsch, von dem man hört und weiß" spricht.

Der offene Brief von Claus Peymann an den Regierenden Bürgermeister von Berlin Michael Müller.

Zur Debatte um die Führung der Volksbühne hat sich u.a. Herbert Fritsch, Regisseur an der Volksbühne, in einem Tagesspiegel-Interview geäußert.

Auch Jürgen Schitthelm, Gründer und bis 2012 Direktor der Berliner Schaubühne, sprach im rbb kulturradio dazu. Er kritisierte, dass Dercon bisher keine klaren Aussagen zum Programm gemacht hat, obwohl er den Kurator für seine Verdienste in der bildenden Kunst schätzt, und äußerte Verständnis für die Mitarbeiter/innen der Volksbühne.

19. Juni 2016

Iggy Pop oder Robocop: "Keiner findet sich schön" von René Pollesch (Volksbühne)

„Wer so eine Frisur hat, hat doch kein Leben!“

Es wurde viel gelacht in der Volksbühne und alle, die da saßen, erkannten sich in Polleschs Stück wieder. Auf Tinder und Grinder matcht es oder auch nicht. Immer wieder die Frage, gehe ich raus (zum Iggy Pop Konzert, bei dem alle nur kurz das Smartphone wegstecken, um den stage-divenden Star aufzufangen) oder bleibe ich zu Hause (und schaue Robocop). Und wenn ich rausgehe oder rausgegangen wäre, was wäre dann geschehen? Mit mir, dem Nachbarn, der Frau, die ich (nicht) getroffen habe (hätte)...

"no fear" - Teddy auf Stripes-Boden: Bühnenbild von Bert Neumann (Foto: Maren Vergiels)

Trotz all des Witzes und trotz des Lachens – irgendwie ist die Essenz des Stückes auch ein wenig traurig und frustrierend oder macht zumindest nachdenklich. Es geht um Liebeskummer, Beziehungsunmöglichkeit, das Gescheitert-Sein der Vierziger, die Frage „Was wäre gewesen wenn“, die Restzeit-Story (untermalt von der Musik der West Side Story mit Jets- und Sharks-Tänzer/innen in US-Flaggen-Stars auf US-Flaggen-Stripes). Der knuddelige aufblasbare Teddy lässt sich auch nicht richtig aufrichten und Fabian Hinrichs singt "I did it your way" - nicht in New York sondern Schweinfurt.

„Ein Paar sitzt im Restaurant. Sagt der eine zum anderen: Warum bist du so geistesabwesend? - Ja, bitte mit Eis.“ (Sigmund Freud)

Nach dem Schlussapplaus kommt Fabian Hinrichs noch einmal auf die Bühne und erklärt entschuldigend, er habe die Souffleuse heute ein wenig zu oft um Hilfe gebeten (dabei habe ich gedacht: bei Pollesch ist das doch immer so - die Souffleusen haben hier immer einen wichtigen Part, weil die Schauspieler/innen dauernd nach dem Text fragen und sie spielen in seinen Stücken häufig quasi eine Nebenrolle, manchmal auch auf der Bühne). Er sei vor zwei Tagen zum zweiten mal Vater geworden und habe daher so gut wie nicht geschlafen, er sei daher mit dem Kopf teilweise nicht bei der Sache gewesen. Aaaw!

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Mit: Fabian Hinrichs

Tanz und Choreographie: Nina Baukus, Rebekka Esther Böhme, Uri Burger, Nikos Fragkou, Jessica Kammerer, Denise Noack, Tobias Roloff

Text und Regie: René Pollesch
Bühne: Bert Neumann
Kostüme: Tabea Braun
Licht: Frank Novak
Ton: Tobias Gringel, William Minke
Souffleuse: Katharina Popov
Dramaturgie: Anna Heesen

Spieldauer: 1 Stunde 20 Minuten 

Weitere Infos und Textauszug auf der Seite der Volksbühne.

28. Mai 2016

Ein Land, das es nicht mehr gibt: "Common Ground" von Yael Ronen & Ensemble (Maxim Gorki Theater)

Basierend auf einer gemeinsamen Reise nach Bosnien hat Yael Ronen mit sieben Schauspieler/innen, davon fünf aus dem ehemaligen Jugoslawien (bzw. Serbien, Bosnien und Herzegowina), das Stück entwickelt. Sie kamen als Kinder oder Jugendliche während des Kriegs in den 90ern nach Berlin. Welchen Common Ground (= Gemeinsamkeiten, auch: gemeinsamen Boden) haben sie? Wo kreuzen sich die Biographien? Und kann die Generation, die nach dem Krieg aufwuchs, vergeben und die Schuld der Eltern sühnen. Welche Konflikte und Vorurteile herrschen heute, über 20 Jahre nach dem Krieg, noch?

Im ersten Teil des Stückes wird in schnellen kurzen Szenen die Geschichte Jugoslawiens, Deutschlands, Europas zu Beginn der 90er gezeigt und die mit den Biographien der Schauspieler/innen zu diese Zeit verknüpft. Im zweiten Teil geht es um die Reise nach Bosnien und den Versuch, den Balkankonflikt zu verstehen. Immer wieder treten dabei auch (rassistisch) Vorurteile zu Tage.

Das Schaffen von Feindbildern und deren Entmenschlichung, das Schüren von Ängsten, die Inszenierung von Bedrohung durch die "anderen" - als das hat zu den Kriegen geführt. Und wie aktuell ist das Stück damit heute! Denn genau das ist es, was Rechtpopulisten derzeit in Deutschland tun...

Das Stück funktioniert u.a. deswegen so gut, weil neben Schauspieler/innen aus Ex-Jugoslawien auch Niels Borman (Deutschland) und Orit Nahmias (Israel) auf der Bühne stehen. Und weil sie witzig sind. Die Spannung des Stückes liegt in den oftmals schnellen Wechseln zwischen Bestürzung über die Kriegsverbrechen und Lachen können über die humorvoll gespielten Szenen aus dem Leben der Darsteller/innen.

Wieder  -  wie in Milo Raus ""The Dark Ages"  - schafft man es nicht so einfach, die einzelnen geschichtlichen Details, Parteien, Zugehörigkeiten, Religionen etc. klar zu definieren und ausseinanderzuhalten. Auch das ist Thema des Stückes und wird unter anderem geschildert in der Familiengeschichte von Dejan Bucin.

Die Figur der Jasmina (Tochter eines Mannes, der im KZ ermordet wurde) wird von der Schauspielerin Mateja Meded und die der Mateja (Tochter eines Mannes, der in einem KZ arbeitete) von der Schauspielerin Jasmina Musić gespielt - also in vertauschten Rollen. Möglicherweise sollte somit das sehr Persönliche der beiden Schicksale aufgelöst werden. Im Stück treffen sie aufeinander und müssen einen Weg finden miteinander umzugehen, vor allem Mateja weiß nicht, wie sie Jasmina entgegentreten soll und fühlt sich schuldig.

Am Ende haben manche der Schauspieler/innen Tränen in den Augen. Man weiß nicht so genau, ob es "echt" ist oder gespielt. Dennoch: es gehört zum Stück.

Standing ovations vom Publikum für dieses tolle Stück und viele gerührte Menschen.

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Die Inszenierung wurde zum Theatertreffen 2015 eingeladen und ist Gewinner des Publikumspreises "Stücke 2015" Mülheimer Theatertage.

Regie: Yael Ronen
Bühne: Magda Willi
Kostüme: Lina Jakelski
Video: Benjamin Krieg, Hanna Slak
Dramaturgie: Irina Szodruch
Musik: Nils Ostendorf

Mit: Vernesa Berbo, Dejan Bućin, Niels Bormann, Mateja Meded, Jasmina Musić, Orit Nahmias, Aleksandar Radenković

Weitere Infos zum Stück auf der Seite des Maxim Gorki Theater.

Ein Interview mit Yael Ronen zur Stückentwicklung zum Anschauen.