12. Mai 2017

FIND 2017 - Beziehungen und Trennungen (Rückblick Tag 9-11)

Finale beim FIND. In den letzten drei Tagen habe ich noch einmal Produktionen gesehen, die sowohl inhaltlich als auch formal sehr unterschiedlich sind.


7.4.2017. LOS INCONTADOS – Anatomía de la violencia en Colombia: un tríptico von Mapa Teatro (Bogotá)

Ein Karneval der Skurrilitäten. Eine Kinder-Marching-Band beginnt und beschließt diesen verrückten und ziemlich wirren Abend. Während das Bühnenbild immer weiter mit Requisiten, Pflanzen, Glitzerluftschlangen und Luftballons gefüllt wird und sich dadurch mehrmals verändert, wird ein Stück kolumbianische Geschichte erzählt. Drei ineinander geschachtelte Bühnenbilder, drei phantastische Mikrokosmen. LOS INCONTADOS - DIE UNERZÄHLTEN macht sichtbar, was in den letzten 50 Jahren in Kolumbien passierte: Ein langer Krieg. Die surrealen Bilder werden in den drei Teilen miteinander verbunden und zeigen eine Vision der lateinamerikanischen Demokratien seit Ende des Zweiten Weltkriegs. - Ein anstrengendes Stück, bei dem sich mir vieles nicht erschließt. Mit besseren Kenntnisse über das Land und die Geschichte Kolumbiens, hätte ich sicher mehr verstanden.

Das kolumbianische Kollektiv Mapa Teatro wurde 1984 in Paris von den Geschwistern Rolf, Heidi und Elizabeth Abderhalden gegründet. Es gehört seit mehr als 30 Jahren zu den bedeutendsten Theaterformationen Lateinamerikas. Mapa Teatro nutzt verschiedene Kunstformen (Theater, Musik, Video uvm.) und verbindet diese zu einem Gesamtkunstwerk.


"LOS INCONTADOS - Anatomía de la violencia en Colombia: un tríptico" von Mapa Teatro, Konzept und Regie: Heidi und Rolf Abderhalden (Foto: Mauricio Esguerra)
 
Koproduktion: Mapa Teatro, Iberescena, Festival Iberoamericano de Teatro de Bogotá und Prod.Art.Br, Europäisches Touring: Camille Barnaud, Ximena Vargas In Zusammenarbeit mit dem ¡Adelante! Festival des Theater Heidelberg.

Konzept, Dramaturgie und Regie: Heidi und Rolf Abderhalden
Musik und Sounddesign: Juan Ernesto Díaz
Visual Design: Heidi und Rolf Abderhalden
Kostüm: Elizabeth Abderhalden
Bühne: Pierre Henri Magnin
Video: Luis Antonio Delgado
Live Video: Ximena Vargas

Mit: Heidi Abderhalden, Agnes Brekke, Andrés Castañeda, Julián Díaz, Jeihhco, Danilo Jiménez, Santiago Nemirowski, Santiago Sepúlveda mit der Mapa Teatro Kinderkapelle: Lesly Ramírez, Melanie Ramírez, Sofía Rodríguez, Mariana Saavedra, Darío Sinisterra, Sebastián Zúñiga

Dauer: ca. 70 Minuten

Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Theatre that Lies to Tell the Truth (with an appearance by Pablo Escobar)


8.4.2017 From here I will build everything von Cédric Eeckhout

Die kurze Show des belgischen Schauspielers Cédric Eeckhout vor Mitternacht am vorletzen Tag des FIND ist eine kleine aber sehr unterhaltsame Performance, in der auch seine Mutter mitspielt (sie bereitet belgische Pommes zu, die am Schluss mit einem Zuschauer verzehrt werden). "My mother is Wallonian and my father is Flemish. They divorced in 1982. Ich bin en Europäisch produit. And I am in crisis. Just like Europe" erklärt er am Anfang. Er zieht Parallelen zwischen seiner eigenen Familiengeschichte und der Geschichte Europas (Scheidung / zerfallende EU). Vieles erinnert an die Autorenklubs von Patrick Wengenroth. Das merkt man auch am Publikum: Viele bekannte Gesichter - man fühlt sich wie in der Familie oder im Freundeskreis.

Die Inszenierung entstand beim Festival XS 2017 des Théâtre National de la communauté francaise de Belgique, Brüssel. Dank an: Théâtre de Vidy-Lausanne, La comédie de Reims, Le théâtre de la Criée à Marseille und Lieu Unique à Nantes.

Text und Regie: Cédric Eeckhout in Zusammenarbeit mit Douglas Grauwels
Dramaturgie: Nils Haarmann
Bühne und Kostüm: Frédérik Denis, Laurence Hermant
Beratung: Andrea Romano

Mit: Cédric Eeckhout, Douglas Grauwels, Jo Libertiaux

Dauer: ca. 25 Minuten


9.4.2017 Please Excuse My Dear Aunt Sally von Kevin Armento

Diese Geschichte wird aus der Sicht eines Handys erzählt. In der szenischen Lesung leihen Laurenz Laufenberg, Stephanie Eidt und Kay Bartholomäus Schulze, dem Erzähler ihre Stimmen. Ein Schüler verliebt sich in seine Lehrerin und beginnt mit ihr eine Beziehung. Zeuge dieser Verbindung ist das Handy, das mittles Fotos und Textnachrichten den Verlauf der Geschichte nachhalten kann. Mal witzig, mal hektisch, mal empört und mal (scheinbar) überlegen offenbart das Handy den Zuschauer*innen dieses Stücks, was sich zwischen den beiden Protagonist*innen abspielt und wie sich die Gefühle entwickeln. Der US-amerikanische Autor Kevin Armento erzählt in rasantem Tempo von der illusorischen Natur elektronischer Verbindungen und der Gefahr der Vereinzelung im Zeitalter digitaler Liebe. Die Schauspieler*innen der Schaubühne lesen und stehen schwarz gekleidet auf einer schwarzen Fläche mit Neon-Leuchtstreifen, sie sind die Inkarnation des Handy-Erzählers. Spannend ist diese Geschichte und Dank des hervorrangenden Vortrags mit den ausgezeichneten Stimmen ein großer Spaß beim Zuhören (und Zusehen).
Mein Wunsch: Mehr Darbietungen dieser Art beim nächsten FIND!

Laurenz Laufenberg, Kay Bartholomäus Schulze und Stephanie Eidt in »Please Excuse My Dear Aunt Sally« von Kevin Armento, Regie: Christoph Buchegger (Foto: Gianmarco Bresadola)

Regie: Christoph Buchegger
Aus dem Englischen von Theresa Schlesinger
Bühne: Emilie Cognard   
Kostüme: Anna Kurz

Mit: Stephanie Eidt, Laurenz Laufenberg, Kay Bartholomäus Schulze   

Dauer: ca. 60 Minuten


9.4.2017 Democracy in America von Romeo Castellucci (Cesena)
frei nach dem Buch von Alexis de Tocqueville

Es ist nicht unüblich, dass bei den Stücken von Romeo Castellucci das Performative mit philosphischen Gedanken verknüpft wird. In dieser Inszenierung greift er einen Text von Tocqueville auf, in dem ein neues Modell repräsentativer Demokratie beschrieben und auf deren Gefahren hingewiesen wird (Tyrannei der Mehrheit, Schwächung intellektueller Freiheit angesichts populistischer Rhetorik und die zweifelhafte Beziehung zwischen den Interessen der Gemeinschaft und individuellen Ansprüchen). Hinter einem Gaze-Vorhang tanzen Frauen und bilden aus den Buchstaben des Begriffe "Democray in America", die auf Fahnen genäht wurden, neue Begriffe; zwei Ureinwohner unterhalten sich, ebenso wie ein Paar. Etwas langatmig ist die gut zweistündige Vorstellung, optisch ist sie jedoch wie immer bei Castellucci ansprechend.

"Democracy in America" von Romeo Castellucci (Foto: Gianmarco Bresadola)

Produktion: Socìetas – Cesena Koproduktion: deSingel International Artcampus, Wiener Festwochen, Festival Printemps des Comédiens à Montpellier, National Taichung Theatre in Taichung (Taiwan), Holland Festival Amsterdam, Schaubühne Berlin, Festival d’Automne à Paris mit MC93 Maison de la Culture de Seine-Saint-Denis à Bobigny, Le Manège – Scène nationale de Maubeuge, Teatro Arriaga Antzokia de Bilbao, São Luiz Teatro Municipal (Lissabon), Peak Performances Montclair State University (NJ-USA).
Unter Beteiligung von: Théâtre de Vidy-Lausanne und Athens and Epidaurus Festival.

Regie, Bühne, Licht, Kostüme: Romeo Castellucci   
Text: Claudia Castellucci / Romeo Castellucci   
Musik: Scott Gibbons
Korrepition: Evelin Facchini
Regieassistenz: Maria Vittoria Bellingeri
Skulpturen auf der Bühne und Mechanismen: Istvan Zimmermann und Giovanna Amoroso

Mit: Olivia Corsini, Giulia Perelli, Gloria Dorliguzzo, Evelin Facchini, Stefania Tansini, Sofia Danai Vorvila
Tänzerinnen: Virág Arany, Emmanouela Dolianiti, Michèle Even, Lisanne Goodhue, Claudia Greco, Rosabel Huguet, Raisa Kröger, Elia López, Tatiana Mejia, Sofie Roels, Roberta Ruggerio, Elisabeth Ward

Choreographie inspiriert von Folkloretraditionen aus Albanien, Botswana, England, Ungarn, Sardinien.

Dauer: ca. 135 Minuten

Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: What’s Gone Wrong in America? A Conversation with Romeo Castellucci

26. April 2017

FIND 2017 - Zwei Klassiker mit neuer Perspektive (Rückblick Tag 7 & 8)

Hamlet und Iphigenie  - sie gehören mit zu den bekanntesten Bühnenfiguren, die Dramen zum Lektürekanon im Schulunterricht, die Stücke oft gespielt auf deutschen Bühnen. Zwei englischsprachige Theatermacher haben sich der Figuren angenommen und als Inspiration für ihre Stücke genommen.

5.4.2017 Hamnet von Bush Moukarzel und Ben Kidd (Dublin)

Hamnet trifft auf seinen Vater. Richtig! Hamnet mit "n", nicht mit "l" wie in Hamlet. Es handelt sich um den "echten" Sohn William Shakespeares, der im Alter von elf Jahren starb. Hamnet kann zwar in einen Dialog mit seinem Vater treten, ihn jedoch nur als Geist auf der anderen Seite der Leinwand sehen. Bis die Perspektive wechselt und Shakespeare leibhaftig auf der Bühne steht, nun aber seinen Sohn nur als Geist wahrnehmen kann. Dead Center war schon im letzten Jahr mit zwei Produktionen zum FIND eingeladen: In "Lippy" wird eine Geschichte erzählt, die so vielleicht nie stattgefunden hat und mit "Checkov's First Play" hatten sich Dead Center auch schon einen Klassiker vorgenommen und im wahresten Sinne des Wortes zerlegt. In "Hamnet" stellt der 11jährige Junge Fragen an seinen abwesenden Vater und kann sich für die Antworten nur der Stücke Shakespeares bedienen, die er jedoch nicht versteht. Das Faszinierende an diesem Abend ist zum einen die Leistung des Kinderdarstellers Ollie West, zum anderen die technischen Tricks, die den Vater auf die Leinwand zaubern. Auf dieser sind die beiden vereint, sie spielen und sprechen zusammen. Auf der Bühne ist Hamnet allein.


"Hamnet" von Dead Centre, Regie: Bush Moukarzel, Ben Kidd (Foto: Gianmarco Bresadola)

Dead Centre, gegründet 2012 in Dublin von Bush Moukarzel und Ben Kidd. Ihr erstes Projekt »Souvenir« entwickelten sie für das Dublin Fringe 2012. Mit »Souvenir« gastierten sie in London und in New York. Das zweite Projekt »(S)quark!« fand in Dublin statt und reiste anschließend nach Russland (2013). »LIPPY « feierte in Dublin Premiere (2013) und tourte bereitsnach New York, London, Deutschland und Edinburgh. 2015 fand die Premiere von »Chekhov’s First Play« in Dublin statt und wurde u. a. in Holland, Estland, Berlin, Bordeaux und Brisbane gezeigt.

Regie: Bush Moukarzel, Ben Kidd
Text: Bush Moukarzel, Ben Kidd, William Shakespeare
Bühne: Andrew Clancy
Kostüme: Grace O Hara
Lichtdesign: Stephen Dodd
Sounddesign: Kevin Gleeson
Video: Jose Miguel Jimenez
Dramaturgie: Michael West
Produktion: Matthew Smyth, Rachel Murray

Mit: Ollie West

Dauer: ca. 60 Minuten


Eine Koproduktion von Abbey Theatre und Dead Centre.



6.4.2017 Iphigenia in Splott von Gary Owen (Cardiff)

Die arbeitslose Effie lebt in Splott, einem Arbeiterviertel in Cardiff. Ihr Leben dreht sich um Ausgehen und Trinken. Als sie sich in einen Kriegsveteranen verliebt und von ihm schwanger wird, glaubt sie ihr Leben könnte sich ändern. Und sie glaubt plötzlich an die Liebe. Dank Effie kann der Ex-Soldat das erste mal seinen verstümmelten Körper ohne Scham zeigen. Sie muss allerdings bald feststellen, dass er eine Familie hat und statt ihn zu verpflichten, sich um das Kind zu kümmern, beschließt sie das Familienglück nicht zu zerstören. Sie "opfert" sich, um einem anderen zu helfen. Dennoch möchte sie das Kind zur Welt bringen. Endlich hat sie nicht nur eine Aufgabe, sondern weiß auch, dass sie nicht mehr alleine sein muss. Doch die Geburtswehen setzen viel zu früh und ausgerechnet in einer Unwetternacht ein, der Krankenwagen, der sie in eine Klinik für Frühgeburten bringen soll, kommt nicht rechtzeitig an. Das Kind stirbt bei der Geburt. Obwohl sie die Möglichkeit hat, das Krankenhaus zu verklagen und so eine hohe Summe kassieren könnte, die ihr finanzielle Sicherheit bringen würde, sieht sie davon ab, die Klage durchzubringen. Warum? Um die Angestellten des Krankenhauses zu schützen, denn die hohe Zahlung würde für das Krankenhaus hohe Einsparungen bedeuten, Entlassungen würden folgen und damit eine schlechtere Versorgung der Patientinnen. Effie "opfert" sich ein zweites mal. - "Iphigenia in Splott" ist inspiriert von der Geschichte der Iphigenie, die in der griechischen Mythologie von ihremVater geopfert wurde, um gute Winde für die Fahrt nach Troja zu bekommen. Doch hier geht es um ein marodes Sozialsystem und Opfer, die gebracht werden müssen, um Profitinteressen nicht weiter zu befüttern. - Sophie Melville spielt die Effie mit Arbeiter*innenjargon und Proll-Klamottten so echt, dass man irgendwann vergisst, dass es sich hier um eine Schauspielerin handelt. Im anschließenden Publikumsgespräch erzählt sie, dass ihr Leben auch wie das der Effie hätte verlaufen können...
Eine beeindruckende Leistung und eine bewegende Geschichte!


"Iphigenia in Splott" von Gary Owen, Regie: Rachel O'Riordan (Foto: Mark Doeut)

Mit "Iphigenia in Splott" gewann Gary Owen den Preis für das Beste Neue Stück bei den UK Theatre Awards 2015, den James Tait Black Drama Prize, sowie den George Devine, Meyer Whitworth und Pearson Best Play Award. Weitere Stücke: "Violence and Son", "Crazy Gary’s Mobile Disco", "The Shadow of a Boy", "The Drowned World", "Mrs Reynolds and the Ruffian" und "Love Steals Us From Loneliness".

Eine Produktion des Sherman Theatre, Cardiff.

Regie: Rachel O’Riordan   
Bühne und Kostüme: Hayley Grindle
Mit: Sophie Melville

Dauer: ca. 80 Minuten


19. April 2017

FIND 2017 - Traurigkeit und Selbstversuch (Rückblick Tag 5 & 6)

Mit etwas Verspätung hier nun weitere Rückblicke des insgesamt sehr eindrucksvollen und wechselhaften (im positiven Sinne!) FIND 2017.


3.4.2017 Tristesses von Anne-Cécile Vandalem (Brüssel/Liège)

Auf einer fiktiven dänischen Insel mit Namen "Traurigkeiten" leben acht Menschen. Dort wird an einem Abend die Leiche von Ida gefunden, an den Fahnenmast mit der dänischen Flagge geknüpft. Ihre Tochter Martha, die Parteiführerin der rechten "Partei des völkischen Erwachens", kommt auf die Inseln, um zu verhindern, dass der Vorfall in die Öffentlichkeit gelangt. Das Stück ist eine merkwürdige Mischung aus schwarzer Komödie, Kriminalfall und Politstück mit einem großen Schauspielensemble und eigens dafür komponierten Musik. Melancholie (vor allem verkörpert durch die Töchter) und Humoriges (die hysterische Figur des Pfarrers) wechseln sich ab bzw. greifen ineinander. Auf der Bühne ist das komplette Dorf mit kleinen beengenden Häusern nebst Kirche errichtet. Ein Großteil der Handlung spielt sich im Inneren der Häuser ab, die per Live-Video auf eine Leinwand projiziert wird, was zusammen mit der überdrehten Spielweise der Figuren stark an die Castorf-Inszenierungen der Volksbühne erinnert. In "Tristesses" untersucht Anne-Cécile Vandalem, die auch die Rolle der Martha Heiger spielt, die Beziehung zwischen Macht und Emotionalisierung.

"Tristesses" Konzept, Text und Regie: Anne-Cécile Vandalem (Foto: Christophe Engels)


Koproduktion: Théâtre de Liège / Le Volcan – Scène Nationale du Havre / Théâtre National – Bruxelles / Théâtre de Namur, centre dramatique / Le Manège.Mons / Bonlieu Scène Nationale Annecy / Maison de la Culture d’Amiens – Centre européen de création et de production / Les Théâtres de Marseille – Aix en Provence. Im Rahmen des europäischen Theaternetzwerks PROSPERO: Théâtre National de Bretagne / Théâtre de Liège / Schaubühne Berlin / Göteborgs Stadsteatern / Théâtre National de Croatie, World Theatre Festival Zagreb / Festival d’Athènes et d’Epidaure / Emilia Romagna Teatro Fondazione.

Konzept, Text und Regie: Anne-Cécile Vandalem   
Musik: Vincent Cahay, Pierre Kissling
Bühne: Ruimtevaarders
Video: Arié van Egmond, Federico D’Ambrosio
Technische Leitung: Damien Arrii
Produktion: Das Fräulein (Kompanie)

Mit: Vincent Cahay, Anne-Pascale Clairembourg, Epona und Séléné Guillaume, Pierre Kissling, Vincent Lécuyer, Bernard Marbaix, Catherine Mestoussis, Jean-Benoit Ugeux, Anne- Cécile Vandalem, Françoise Vanhecke

Dauer: ca. 130 Minuten

Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Creating Distance

Hierzu wird es in Kürze noch einen Gastbeitrag von Steffi Eisenschenk geben.


4.4.2017 Tijuana von Lagartijas tiradas al sol (Mexiko-Stadt)

Der mexikanische Schauspieler Gabino Rodríguez wagte eine Selbstversuch, indem er sich mit angeklebtem Bart, unter falschem Namen und ohne Kontakt zu Freund*innen und Familie in Tijuana an der US-Grenze in einer Montagefabrik als Arbeiter verdingte. Sechs Monate tauschte er sein Leben gegen das der Figur Santiago Ramírez und erlebt, was es bedeutet von einem Lohn von umgerechnet 3,50 Euro am Tag zu leben sowie den Arbeitsbedigungen, der Ausbeutung und der Willkür der Vorgesetzten ausgeliefert zu sein. Darüber hinaus muss er mit den Lebenumständen im Arbeiterviertel umgehen, in dem häufig Gewalt herrscht. Daneben plagen ihn ethische Zweifel, weil er die Menschen, die ihm vertrauen, für diesen Versuch permament anlügen muss. Rodríguez ließ sich dafür u.a. von der Methode Günter Walraffs inspirieren, filmte und fotografierte mit seinem Handy heimlich u.a. einen Mob, der einen vermeintlichen Dieb im Viertel fast totprügelt. Diese Bilder und Aufnahmen werden im Stück verwendet. Das Stück, das vornehmlich aus den Schilderungen des Schauspielers besteht, ist die Dokumentation über diesen Versuch, der - das zeigt das Stück - am Ende doch nicht widerspiegeln kann, wie es denen ergeht, die immer so leben müssen. Und man fragt sich: War es für Rodríguez schlimmer, weil er in einer Situation zurchtkommen muss, die er so nicht kennt, oder besser, weil er immer die Gewissheit hat, wieder in sein altes Leben zurückkehren zu können? Ein weiteres Highlight für mich bei diesem Festival - auch wegen des tollen Schauspielers!

"Tijuana" ist der Auftakt eines großangelegten politischen und gesellschaftlichen Panoramas mit dem Titel "Die Demokratie in Mexiko (1965–2015)", das insgesamt aus 32 Teilen bestehen soll (für jeden der mexikanischen Bundesstaaten). Das Theaterkollektiv Lagartijas tiradas al sol (gegründet 2003) versucht in verschiedenen theatralen Formen die Grenze von Dokumentartheater und Schauspiel auszuloten, um die Widersprüche des Landes aufzudecken und so mit den Mitteln des Theaters politisch zu mobilisieren.

"Tijuana" von Lagartijas tiradas al sol (Foto: Escensas do cambio)

Ein Projekt von Gabino Rodríguez, basierend auf Texten und Ideen von Günter Walraff, Andrés Solano, Martin Caparrós

Mitarbeit Regie: Luisa Pardo
Licht: Sergio López Vigueras
Bühne: Pedro Pizarro
Sounddesign: Juan Leduc
Video: Chantal Peñalosa, Carlos Gamboa
Künstlerische Mitarbeit: Francisco Barreiro

Dauer: ca. 75 Minuten


4. April 2017

FIND 2017 - Kochen und Tragödie (Rückblick Tag 1-4)

Demokratie und Tragödie ist das Motto des diesjährigen FIND. Das Festival Internationale Neue Dramatik hat begonnen und ist mittlerweile auch schon fünf Tage alt. Den Auftakt machte eine Inszenierung von Angélica Lidell (schon vor zwei Jahren beim FIND zu Gast), die das erste mal mit einem deutschen Ensemble arbeitete. Außerdem wurde in den ersten Tagen auffällig viel gekocht. Zeit für eine Zwischenbilanz.


30.3.2017 PREMIERE Toter Hund in der Chemischen Reinigung: Die Starken von Angélica Lidell

Eine der Hauptaufgaben des Schauspielers ist es Ethik und Ästhetik mit Unterhaltung zu verbinden, sagt der Hund (Damir Avdic), der, wie er erklärt, durch einen Schauspieler ersetzt wurde, weil der viel billiger ist. Die Publikumsbeschimpfung mit der anschließenden Aufforderung an das Publikum zu gehen, sollte das Stück nicht gefallen, ist das Spannendste an der Inszenierung.  Es entsteht dabei eine etwas 10minütige Pause, die für die Zuschauer*innen erst unangenehm ist und sich nach einer Weile in Entspannung auflöst. Diese Zumutung an das Publikum ist für viele erträglicher als die Performance. Schon vor dieser Szene haben viele das Theater verlassen. Warum? Es fällt schwer zu folgen – es wird viel gerannt, etwas zertrümmert, herumgeschrien. Rousseau und Diderot werden zitiert. Vielleicht liegt es daran, dann man die Botschaft daher nur schwer herausfiltern kann. Es soll ja um „Europa in einer dystopischen Zukunft“ gehen, in der es keine Migrant*innen und keine Kriminalität mehr gibt. In der chemischen Reinigung treffen Personen aufeinander, die Geschichten ihrer Schuld und Sünden erzählen. Mit großer Spannung wurde diese Produktion von Angélica Lidell erwartet, die derzeit zu den interessantesten Theatermacher*innen gehört. Wahrscheinlich wird es das Stück schwer haben, vielleicht findet es aber auch seine Fans.


"Toter Hund in der Chemischen Reinigung: Die Starken" von Angélica Lidell - Ulrich Hoppe, Renato Schuch, Veronika Bachfischer, Iris Becher (Foto: Gianmarco Bresadola)



Regie, Bühne und Kostüme: Angélica Liddell   
Mitarbeit Regie: Gumersindo Puche
Dramaturgie: Florian Borchmeyer   

Der Hund: Damir Avdic   
Getsemani: Iris Becher   
Octavio: Ulrich Hoppe   
Combeferre: Renato Schuch   
Lazar: Lukas Turtur   
Hadewijch: Veronika Bachfischer   
Susana: Susana AbdulMajid

Dauer: ca. 155 Minuten

Essay zum Stück in Pearson's Preview: Poesie, die unsere Bequemlichkeit zertrümmert. Angélica Liddell’s »Toter Hund in der Chemischen Reinigung«

31.3.2017 & 1.4.2017 The Gabriels:  Election Year in the Life of one Family von Richard Nelson (New York)
Teil 1: Hungry
Teil 2: What did you expect?
Teil 3: Women of a Certain Age

Menschen sind die einzigen Lebewesen, die kochen – egal wie schlimm die Zeiten sind.
Jeder der drei Teile der Gabriels hat die Dauer der Zubereitung eines Essens. Ratatouille, Pasta, Kekse und andere Dinge werden von den Mitgliedern der Familie Gabriel zubereitet. Die Handlung ist im Jahr der Wahlen zum neuen Präsidenten der USA angelegt und spielt im Frühjahr, Sommer und Herbst (am Wahltag) 2016. Die Familie Gabriel trifft sich, um gemeinsam zu kochen und über die Familie zu sprechen – vor allem im Andenken über den verstorbenen Thomas. Dabei fließen immer wieder Überlegungen über die anstehenden Wahlen und die Kandidat*innen ein. Das Besondere für alle Zuschauer*innen, die vor zwei Jahren die Apple Family (ebenfalls von Richard Nelson und mit den gleichen Schauspieler*innen) gesehen haben: Es fühlt sich an, würde man alte Bekannte wieder sehen und schnell wächst einem auch diese Familie mit all ihren sympathischen (und unsympathischen) Eigenschaften ans Herz.

"The Gabriels: Election Year in the Life of one Family" von Richard Nelson, Regie: Richard Nelson (Foto: Joan Marcus)

Eine Produktion des Public Theater New York.

Regie: Richard Nelson   
Bühne: Jason Ardizzone-West, Susan Hilferty
Kostüme: Susan Hilferty

Mit: Meg Gibson, Lynn Hawley, Roberta Maxwell, Maryann Plunkett, Jay O. Sanders, Amy Warren

Dauer: jeweils ca. 95 Minuten

Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Home Cooking and Intimacy: Richard Nelson’s »The Gabriels«


2.4.2017 Verein zur Aufhebung des Notwendigen von Christophe Meierhans (Brüssel)

Gekocht wir auch im nächsten Stück im Studio der Schaubühne und zwar vom Publikum selbst. Jeder erhält zu Beginn eine Nummer und muss eine Aufgabe aus dem ausgelegten Kochbuch, das Skript des Stückes, erledigen: Zutaten auswählen, wegbringen, schneiden, pürieren, braten, mischen und dabei ein zwei Gänge-Menü zubereiten. Dabei wird die Gruppe auf der Bühne, die das Essen zubereitet immer größer. Man muss sich arrangieren. Manche denken dabei an die Gruppe (Sind Vegetarier anwesend, die etwas anderes als das zerlegte Lamm essen möchten?), manche halten sich streng an ihre Aufgabe. Manche nutzen die Situation, um das zu tun, was sie vermutlich zu Hause in der eigenen Küche niemals tun würden (Obst wird an die Wand geworfen). Irgendwann entscheidet jede*r selbst, wie er*sie sich einbringen möchte. Dass das zubereitete Essen hinter nicht besonders gut schmeckt (jedoch immerhin genießbar ist), spielt keine so große Rolle. Das Gemeinschaftserlebnis gilt den meisten wohl mehr. Demnach geht allerdings die Idee, dass das "fertige Essen wie die Summe aller Entscheidungen schmeckt" nicht ganz auf. Auch dass sich im Vorgang des Kochens die "verinnerlichte und alltäglich gelebte Praxis, als Weg, unsere persönlichen und kollektiven Bedürfnisse zu befriedigen und gemeinsam bindende Entscheidungen zu treffen" zeigen soll, ist nicht ganz einleuchtend. Dennoch ist ein solcher Abend eine schöne Idee und tolles Theaterexperiment, das tatsächlich Spaß macht.

Koproduktion: Kaaitheater, Vooruit, BIT Teatergarasjen, BUDA, Nouveau Théâtre de Montreuil, Vaba Lava. Mit Unterstützung von: Regierung von Flandern, Kunstenwerkplaats Pianofabriek. Ein House On Fire Projekt, mit Unterstützung des Kulturprogramms der Europäischen Union.

Konzept und Regie: Christophe Meierhans   
Dramaturgie: Bart Capelle
Bühne und Konzeptionelle Beratung: Holger Lindmüller, Michael Carstens
Produktion: Hiros

Dauer: ca. 150 Minuten


2.4.17 Accesso von Pablo Larraín (Santiago de Chile)

Sandokan versucht Produkte zu verscherbeln, die niemand braucht. Da er sie aber humorvoll an Mann und Frau bringen möchte, hat er erst mal die Lacher auf seiner Seite. Doch die lustige Performance wird immer wieder durch Flashbacks unterbrochen. Er erzählt von seiner Kindheit, dem Missbrauch durch Priester, von Armut und Drogen. Diese Schilderungen sind detailliert und schockierend und manchmal kaum zu ertragen. Um Zugang (Accesso) zu einerm "besseren" Leben (=Essen, Drogen) zu bekommen, lässt der junge Sandokan das alles über sich ergehen, überredet schließlich seine Schwester, den "Onkel" auch zur Verfügung zu stehen und verwechselt Missbrauch mit Liebe. Als die Behörden schließlich auf den Missbrauch aufmerksam werden, die Kinder befragen und wieder zurück in ihre ärmlichen Verhältnisse schicken wollen, ist er sogar empört und will die Täter schützen. Der chilenische Schauspieler Pablo Larraín (der bereits im auf der Berlinale 2015 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnetetn Film "El Club" den Paria Sandokan spielte) bewegt sich während des Stücks fortwährend durch die Zuschauerreihen und kommt den Leuten dabei sehr nah - manchen vielleicht zu nah -, spricht sie an, bietet Wein aus einer Flasche an und beendet den Abend mit einer Beschimpfung: Was für Menschen seien wir eigentlich, die ins Theater gehen und uns seine Geschichte als Kunst anschauen? Standing Ovations für Larraín. Beeindruckt und aufgewühlt verlässt man den Saal. - Bisher mein Highlight beim diesjährige FIND.

"Acceso" von Roberto Farías und Pablo Larraín, Regie: Pablo Larraín (Foto: Sergio Armstrong)

Regie: Pablo Larraín   
Produktion und Regieassistenz: Josefina Dagorret
Produktion: Association Sens Interdits (Frankreich/France) in Zusammenarbeit mit/in collaboration with Fitam, Fundación Teatro a Mil (Chile)

Mit: Roberto Farías

Dauer: ca. 55 Minuten

26. März 2017

Rückblick Februar & März 2017: Über Schuld, Kunst und Karrieristen

Auch wenn der Februar natürlich vor allem von der Berlinale bestimmt wurde, blieb immer etwas Zeit fürs Theater. Und weil Ende März schon wieder das FIND (Festival Internationale Neue Dramatik an der Schaubühne am Lehniner Platz - 30.3. bis 9.4.) beginnt und ich hierfür eigene Beiträge geplant habe, fasse ich die letzten beiden Moante in einem Artikel zusamen.


FEBRUAR
01.02.17 Interrobang: Der Prozess 2.0 (Sophiensäle)
Ein Schuldlabyrinth nach Kafka. Theater zum Mitmachen. Mitmachen müssen, können, sollen. Nach dem Betreten des Parcours, müssen die Zuschauer*innen (=Teilnehmer*innen) dieses Theaterprojekts sich ihren persönlichen Ordner abholen, verschiedene Fragen beantworten, Aufgaben erledigen und sich entscheiden, welchen persönlichen Weg sie gehen wollen. All das wird von einem Gericht ausgewertet und in einer Verhandlung für und gegen einen vorgetragen. Das sogenannte "Innere Gericht" verurteilt zunächst noch präzise und detalliert, später im Sammel- und noch später im Eilverfahren jede*n zum Handeln. Dabei spielt es für das Gericht gar keine Rolle mehr, was wirklich hinter den Antworten steckt und (scheinbar) willkürlich werden einzelne Sätze oder Aussagen aus der Akte gegen eine*n verwendet. Eine Mischung aus "Bloß nicht meinen Fall verhandeln" und "Warum nicht meine Akte? Bin ich etwas so langweilig?" macht sich breit. Und was dabei verdächtig im Raum schwebt, ist die Tatsache, dass es egal ist, wie man sich verhält oder was man denkt, alles kann gegen mich verwendet werden. Die Zusammenhänge sind gleichgültig. Und wie Josef K. in Kafkas Prozess, hege ich den Verdacht, dass an dem, was das Gericht da gegen mich vorbingt, vielleicht etwas dran sein könnte...
Interrobang schafft es, die gegenwartsrelevanten Motive aus Kafkas Klassiker in ein instellatives Stück zu packen und die Zuschauer*innen dabei ordentlich aufzurütteln.

Von und mit Till Müller-Klug, Nina Tecklenburg, Lajos Talamonti, Elisabeth Lindig


02.02.17 Zeit der Kannibalen von Johannes Naber nach dem Drehbuch von Stefan Weigl (Vagantenbühne)
Sollte man einen Film einfach so nachspielen? Die Verfilmung mit Katharina Schüttler, Sebastian Blomberg und Devid Striesow ist großartig - keine Frage. Die kammerspielartige Kapitalismus-Kritik mit dem bösen Humor und der Darstellung der Busninessmenschen, deren Welt in nur wenigen Stunden ins Wanken gerät, bietet sich auch fürs Theater an. Dennoch habe ich von dieser Inszenierung  etwas Neues erwartet. Allerdings ist für diejenigen, die den Film nicht kennen, die Bühnenadaption sicher sehr lohnenswert. Meine Empfehlung: Hingehen sollte, wer den Film nicht kennt.

Regie: Bettina Rehm

Mit Björn Bonn, Johann Fohl, Senita Huskić, Hannah von Peinen, Joachim Villegas und Axel Strothmann


03.02.17 Love Hurts In Tinder Times von Patrick Wengenroth (Schaubühne)
Gleich mal vornweg: Mit Tinder hat das Stück (zum Glück) gar nicht so viel zu tun. Tinder Times steht viel mehr für diese Zeit, in der viele nach neuen Wegen des Zusammenlebens und von Liebesbeziehungen suchen. Kann ich einen exklusiven Anspruch auch eine*n Partner*in erheben? Warum schmerzt es den*die andere*n, wenn man sich außerhalb der Beziehung Befriedigung und Bestätigung sucht? Und: Ist es nicht immer ganz anders als es aussieht? Garniert wird dieser Wengenroth-Abend (wie immer) mit viel Musik, diesmal vorrangig aus den 80ern. Und so findet auch der kürzlich verstorbene George Michael seinen Platz im Stück. Die sich nackt in Farbe wälzenden und Kunst machenden Protagonist*innen (Mark Waschke, Lise Risom Olsen, Andreas Schroeders) sehe ich weniger als Provokation, denn als humorvolle gedachte Anspielung auf Performance Künstler und vielleicht sogar das Theater selbst.

Realisation: Patrick Wengenroth   
Bühne: Mascha Mazur   
Künstlerische Mitarbeit Bühne: Céline Demars   
Kostüme: Ulrike Gutbrod   
Musik: Matze Kloppe  

Mit Matze Kloppe, Lise Risom Olsen, Andreas Schröders, Mark Waschke, Patrick Wengenroth

Andreas Schröders, Mark Waschke, Lise Risom Olsen (Foto: Gianmarco Bresadola)


Essay zum Stück in Pearson's Preview: LOVE HURTS IN TINDER TIMES. Ein Gespräch mit Patrick Wengenroth


12.02.17    revisited Hedda Gabler von Henrik Ibsen (Schaubühne)
Nach vielen Jahren mal wieder dieses Stück. Die Angst vor dem sozialen Abstieg, jede*r kennt sie und erkennte sich in dem Stück wieder. Man kann Hedda (Katharina Schüttler) und ihr Handeln gleichzeitig verabscheuen und bemitleiden. Und wie steht es um ihren Mann Jorgen Tesmann (Lars Eidinger) und den um seine Arbeit betrogenen Eilert Lovborg (Kay Bartholomäus Schulze)? Das Besondere an dem Stück ist, dass man keine*n so richtig mag oder hasst. Zerissen, betroffen, gerührt verlässt man das Theater.

Lore Stefanek, Katharina Schüttler, Lars Eidinger (Foto: Arno Declair)

Regie: Thomas Ostermeier   
Bühne: Jan Pappelbaum   
Kostüme: Nina Wetzel   
Musik: Malte Beckenbach   
Dramaturgie: Marius von Mayenburg   
Video: Sébastien Dupouey   

Jørgen Tesman, Privatdozent der Kulturgeschichte: Lars Eidinger   
Frau Hedda Tesman, seine Frau: Katharina Schüttler   
Fräulein Juliane Tesman, seine Tante: Lore Stefanek   
Frau Elvstedt: Annedore Bauer   
Richter Brack: Jörg Hartmann   
Eilert Løvborg: Kay Bartholomäus Schulze
 


MÄRZ
04.03.17 Denial von Yael Ronnen (Maxim-Gorki-Theater)
Das Stück über Verleugnung und Verdrängung wurde von Yael Ronen gemeinsam mit den Schauspieler*innen entwickelt. In verschiedenen Konstellationen zeigen sie, was es bedeutet, wenn man versucht, die Realität zu verarbeiten, zurechtzubiegen oder einfach zu verstehen. Coming out, Intoleranz und Gewalt in der eigenen Familie, politische Verfolgung und andere traumatische Erlebnisse werden in kurzen Szenen aufgearbeitet bzw. dargestellt. Wie immer bei Yael Ronen wechseln sehr traurige und berührende Geschehnisse mit witzigen Einschüben. Und nie weiß man - auch das ist typisch für ihre Stücke - was aus den Biographien der Schauspieler*innen stammt und was Fiktion ist.

Regie: Yael Ronen
Bühnenbild: Magda Willi
Kostüme: Amit Epstein
Musik: Nils Ostendorf
Video: Hanna Slak

Mit Oscar Olivo, Dimitri Schad, Cigdem Teke, Maryam Zaree und Orit Nahmias.


23.03.17 re-revisited Stück Plastik (Schaubühne)
Darf man Geld rumliegen lassen, wenn die Putzhilfe da ist? Ist Michael, der für Ärzte ohne Grenzen nach Afrika gehen will, ein Egoist? Warum hat Ulrike als Künstlerin versagt?  Und ist Sohn Vincent ein Junge oder ein Mädchen? Diese und viele, viele andere Fragen werden im Stück verhandelt, vielmehr wird darüber gestritten. Das eigentlich interessante ist aber auch, dass die Person, die den Streitimpuls gibt, überhaupt nichts zur Debatte beitragen kann, weil sie einfach nicht zu Wort kommt. Sie drückt sich im Gesang aus, im Gespräch mit dem 12jährigen Sohn der Familie, für die sie putzt und übt Rache. Dialoggewaltiges und äußerst lustiges Stück über richtiges und falsches Verhalten, kommunizieren und zuhören. Stück Plastik von Marius von Mayenburg schrammt manchmal knapp an einer Boulevard-Komödie vorbei und ist deswegen gerade so gut. Die zahlreichen Anspielungen auf die Kunstwelt und das eigene Milieu mit den zackigen Monologen (die von den brillanten Schauspieler*innen einfach mitreißend gespielt werden) machen die Inszenierung zu einer Perle im Spielplan.

Mit Marie Burchard, Robert Beyer, Laurenz Laufenberg, Sebastian Schwarz und Jenny König.
Regie: Marius von Mayenburg


25.03.17 re-visited Professor Bernhardi von Arthur Schnitzler (Schaubühne)
Spannend wie beim ersten mal. Die Aktualität dieses Stückes ist so groß, dass bei fast jeder Szene der Puls hoch geht. Wie in der Sitzungszene die Intrige gegen Professor Bernhardi entsponnen wird - da muss man sich empören. Aber es gibt in dieser Inszenierung nicht immer ein klares Gut und Böse, Richtig oder Falsch. Keine unverfälschten Sympathien. Und das lässt einen noch lange über den Abend hinaus nachdenken.


Damir Avdic, Laurenz Laufenberg, Veronika Bachfischer, Jörg Hartmann (Foto: Arno Declair)

Regie: Thomas Ostermeier   
Bühne: Jan Pappelbaum   
Kostüme: Nina Wetzel   
Musik: Malte Beckenbach   
Wandzeichnungen: Katharina Ziemke

Dr. Bernhardi: Jörg Hartmann   
Dr. Ebenwald: Sebastian Schwarz   
Dr. Cyprian: Thomas Bading   
Dr. Pflugfelder: Robert Beyer   
Dr. Filitz: Konrad Singer   
Dr. Tugendvetter: Johannes Flaschberger   
Dr. Löwenstein: Lukas Turtur   
Dr. Schreimann/Kulka, ein Journalist: David Ruland   
Dr. Adler: Eva Meckbach   
Dr. Oskar Bernhardi: Damir Avdic   
Dr. Wenger/Krankenschwester: Veronika Bachfischer   
Hochroitzpointner: Moritz Gottwald   
Professor Dr. Flint: Hans-Jochen Wagner   
Ministerialrat Dr. Winkler: Christoph Gawenda   
Franz Reder, Pfarrer: Laurenz Laufenberg   

13. März 2017

FIND Festival Internationale Neue Dramatik 2017 an der Schaubühne (30. März bis 9. April)


 
Das FIND an der Schaubühne findet in diesem Jahr zum 17. mal statt und natürlich ist es auch in diesem Jahr ganz nah dran am politischen Geschehen. Die Themen, die uns zur Zeit wohl am meisten beschäftigen, werden im April ihren Weg auf die Schaubühne finden: Der erstarkende Rechtspopulismus, die gefährdete Demokratie, die Unsicherheit vieler Menschen durch Terrorismus, Fanatismus und Hass, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sind die Dinge, die uns beunruhigen.

Das Motto des FIND 2017: Demokratie und Tragödie - anknüpfend an die Ursprünge des Theaters (in der griechischen Antike stand hinter der Demokratie die Erfahrung der Tragödie als politisches Bewusstsein und Beschreibung des Daseins).

Eingeladen sind Theatermacher*innen aus der ganzen Welt, die mit ihren Arbeiten Denkanstöße geben können zu den Fragen wie wir miteinander leben wollen und welche Wiedersprüche in einer Demokratie herrschen können.

Neben den insgesamt 16 gezeigten Inszenierungen werden die Künstler*innen mit dem Publikum über "Demokratie und Tragödie" diskutieren. Der Streitraum (Carolim Emke) im Rahmen des FIND beschäftigt sich mit dem Thema "Grenzen des Respekts - die radikalisierte Gesellschaft".

Zum siebten Mal wird das Festival auch begleitet von FIND plus. Das Workshop-Programm richtet sich an internationale Theaterstudierende.

Aus der Programmbeschreibung der Schaubühne:

Angélica Liddell (Madrid) arbeitet zum ersten Mal an einem Ensemble-Theater und inszeniert mit Schauspielerinnen und Schauspielern der Schaubühne »Toter Hund in der Chemischen Reinigung: die Starken«.

Damir Avdic in "Toter Hund in der Chemischen Reinigung: die Starken" (Foto: Gianmarco Bresadola)


März bis November 2016. Eine Küche im Hause der Gabriel Familie, South Street, Rhinebeck, ein kleiner Ort 100 Meilen nördlich von New York. In drei Stücken verfolgen wir in Momentaufnahmen in Echtzeit nicht nur die amerikanische Präsidentschaftswahl sondern auch ein Jahr im Leben einer Mittelklasse-Familie, die privaten Hoffnungen und Ängste der Familienmitglieder. Richard Nelson verwebt in seiner neuen Trilogie »The Gabriels: Election Year in the Life of one Familiy« große nationale Ereignisse mit kleinen Geschehnissen privatem Lebens und zeigt ein Porträt einer Welt, in der das Persönliche, das Gesellschaftliche, das Kulturelle und das Politische unzertrennbar miteinander verknüpft sind.

Aus der Perspektive der heutigen (Post-)Demokratie blickt Romeo Castellucci (Cesena) auf »Democracy in America« (1835) von Alexis de Tocqueville als Wendepunkt des europäischen Denkens über das Staatswesen. Assoziativ folgt Castelluccis Inszenierung der Geschichte dieses jungen Franzosen, der mit Erstaunen und Erschrecken auf die amerikanische Demokratie blickt.



"Democracy in America" von Romeo Castellucci (Foto: Luca Del Pia)

 

»Tristesses« von Anne-Cécile Vandalem (Brüssel/Liège) spielt in einem Europa der Gegenwart, in dem Rechtspopulisten zunehmend Einfluss gewinnen, unter ihnen die nordeuropäische »Partei des völkischen Erwachens« von Martha Heiger. Auf der fiktiven dänischen Insel »Tristesses« wird die Leiche von Marthas Mutter gefunden. Sie hat sich erhängt und ist in eine dänische Flagge gewickelt. Martha kommt zur Beerdigung. Zwei junge Mädchen planen, die Politikerin, die ihre Zukunft bedroht, zu vernichten. Doch am Beerdigungstag kippt die Situation. Mit schwarzem Humor legt Vandalem die Hysterisierung gegenwärtiger Politik offen.

In ihrer neuen Arbeit »Hamnet«, einem Solo für einen 11jährigen Jungen, widmet sich das irische Theaterkollektiv Dead Centre William Shakespeares einzigem Sohn, der im Alter von 11 Jahren starb. Hamnet ist zu jung, um Shakespeare zu verstehen. Wir sind zu alt, um Hamnet zu verstehen. Es entwickelt sich ein Denkraum zwischen zwei Generationen, die sich befragen, welches Erbe sie weitergeben und erhalten wollen.



"Hamnet" von Dead Centre, Regie: Bush Moukarzel und Ben Kidd (Foto: Photo: Ste Murray, Image: Jason Booher)


 

Das kolumbianische Kollektiv Mapa Teatro (Bogotá) zeigt »LOS INCONTADOS – Anatomía de la Violencia en Colombia: un triptico«, ein Panorama der Welle der Gewalt, die das Land seit über einem halben Jahrhundert bestimmt. Teil 1 verwandelt ein afro-kolumbianisches Ritual in eine delirierende Performance: Maskierte, als Frauen verkleidete Männer ziehen durch die Straßen und peitschen alle aus, die nicht maskiert und transvestiert sind. Teil 2 führt den Geist eines ermordeten Drogenmafia-Chefs vor, der im kolumbianischen Dschungel in Begleitung seiner Braut den Gespenstern der eigenen Vergangenheit in die Augen sehen muss. In Teil 3 wartet eine Familie vorm Radio auf die Nachricht einer Revolution, die nie stattfinden wird.

Christophe Meierhans (Brüssel) zeigt mit »Verein zur Aufhebung des Notwendigen« ein Abendessen über die Demokratie. Die Zuschauer bereiten nach einem von Meierhans verfassten Kochbuch ein Zwei-Gänge-Menü samt Apéro und Getränken zu. Die Küche wird zum Theaterkollektiv oder individuell getroffener, allgemein bindender Entscheidungen. Das Essen schmeckt so wie deren Summe – ein Experiment mit offenem Ausgang.

»Acceso« ist die erste Theaterarbeit des vielfach preisgekrönten chilenischen Filmregisseurs (»Neruda«, »Jackie«, »El Club«) Pablo Larraín (Santiago de Chile). Der Schauspieler Roberto Farías ist darin Sandokan, ein Außenseiter, der im Transantiago-Bus Billigprodukte an die Leute bringt. Nach und nach erzählt er aus seiner Vergangenheit, die geprägt ist von Armut, Gewalt und sexuellem Missbrauch, und entwirft eine schonungslose Anklage gegen ein tief korruptes System.

»Tijuana« des jungen mexikanischen Theaterkollektivs Lagartijas tiradas al sol (Mexiko Stadt) ist Teil eines Triptychons mit dem Titel »Die Demokratie in Mexiko« und basiert auf einem realen Selbstversuch: Autor und Performer Gabino Rodríguez arbeitet sechs Monate für den Mindestlohn unter falscher Identität in einer Montagefabrik der Grenzstadt Tijuana. Dabei wird er nicht nur mit menschenverachtenden Ausbeutungsmethoden und einer aus dem Versagen staatlicher Ordnung resultierenden Selbstjustiz unter den Arbeitern konfrontiert, sondern auch mit seinen eigenen Widersprüchen und sozialen Vorurteilen als bürgerlicher Künstler.

»Pendiente de voto« von Roger Bernat (Barcelona) lässt das Publikum in einem Wahl-Experiment über Fragen des Gemeinwesens entscheiden. Ausgerüstet mit Abstimmungsgeräten werden die Zuschauer zum Modell einer Öffentlichkeit, die individuell, zu zweit und in Gruppen Standpunkte verteidigen, andere überzeugen und Entscheidungen treffen muss.

»Iphigenia in Splott« von Gary Owen (Cardiff) erzählt die unmögliche Liebe der jungen Effie aus dem walisischen Arbeiterviertel Splott zu einem behinderten Ex-Soldaten.




"Iphigenia in Splott" von Gary Owen, Regie: Rachel O'Riordan (Foto: Burning Red)


»Sei, wer du nicht bist« von Saman Arastou (Teheran) stellt, ausgehend von der eigenen Figur des Autors, Regisseurs und Hauptdarstellers, die Situation von Transsexuellen im Iran ins Zentrum.

In »Please Excuse My Dear Aunt Sally« erzählt der US-Amerikanische Autor Kevin Armento die Geschichte eines Schülers, der ein Verhältnis mit seiner Mathelehrerin eingeht – alles aus der Perspektive eines Handys. Christoph Buchegger stellt das Stück in Form einer Werkstattinszenierung mit Ensemblemitgliedern zum ersten Mal einem deutschen Publikum vor.

In »From here I will build everything« verbindet der belgische Schauspieler Cédric Eeckhout, der bei FIND 2016 in Sanja Mitrovićs Produktion »Do You Still Love Me?« zu sehen war, in einem kurzen Stand-Up-Monolog seine persönliche Lebenskrise mit der Krise Europas.


"From here I will build everything" von Cédric Eeckhout (Foto: Rachel Lang)



Weitere Informationen, die komplette Programmübersicht und Tickets gibt es auf der Seite der Schaubühne.

Außerdem wird Joseph Pearson das FIND mit Beiträgen auf seinem Blog begleiten.

4. Februar 2017

Rückblick Januar 2017: Ganz nah dran und über allem schwebend

Das Theaterjahr 2017 hat begonnen und ich habe neben dem Streitraum drei Stücke gesehen, eins davon zum wiederholten Male. Begonnen hat der Januar für mich allerdings auf dem traditionellen Neujahrsempfang bei Friedrich Barner (Direktor der Schaubühne), den er seit mittlerweile sieben Jahren für die Freundeskreismitglieder ausrichtet. Herrlich, dass man hier mit Gleichgesinnten über vergangene und kommende Theatererlebnisse bin spät in die Nacht diskutieren kann!


18.01.17 PREMIERE Der eingebildete Kranke von Molière (Schaubühne)
Der weiße gefließte Kasten, in dem die Schauspieler*innen agieren und in dem Der eingebildete Kranke (Peter Moltzen als Argan) schlimm in seinem Rollstuhl leidet, schwebt sozusagen über den Köpfen der Zuschauer*innen, schwingt wie ein Pendel hin und her und bringt eine grausige Gestalt aus Molières Komödie nach der anderen zum Vorschein. Ein Bühnenbild (wie immer von Olaf Altmann), das man als typisch für Michael Thalheimer bezeichnen könnte. Auch sonst: Vieles kennt man von dem Regisseur - die wilden Kostüme (von Michaela Barth; z.B. die Kunstbrüste von Jule Böwe als Béline oder die Woll-Halskrause mit Bommeln von Renato Schuch als Thomas Diafoirus), die fratzenhaft geschminkten Gesichter, das nervös-hektische Sprechen. Thalheimer hat hier allerdings noch etwas draufgepackt: Blut, Urin und andere Körperflüssigkeiten werden in Massen im Laufe des Stückes überall verteilt, verspritzt, verschmiert. Ekel - at it's best!

Im weiß gefließten Horror-Kabinett: R. Schuch, U. Hoppe, P. Moltzen, J. Böwe, R. Zimmermann (Foto: Katrin Ribbe)

Er ist aber auch widerlich dieser Argan. Zu Beginn spricht er Zeilen aus dem Gedicht "Die Hölle" von Andreas Gryphius ("Ach! und weh! Mord! Zetter! Jammer! Angst! Creutz! Marter! Würme! Plagen...."), quasi als Prophezeiung dessen, was da alles an Ekelhaftigkeiten auf die Figuren des Stückes und die Zuschauer*innen zukommen wird. Er suhlt sich in seinen vermeintlichen Krankheiten, im Selbstmitleid und dem ganzen Schmodder auf der Bühne. Was soll man auch tun, wenn die Ärzte (Ulrich Hoppe als Doktor Diafoirus) einem sowieso nur das Geld aus der Tasche ziehen wollen, dabei aber noch nicht mal den Puls messen können. Mal ehrlich: Jede*r hat sich doch schon mal eine Behandlungsmethode eines Arztes/einer Ärztin in Frage gestellt. Aber man ist halt ausgeliefert, was soll man tun? Und dann gibt's ja immer noch die, die sich lieber gar nicht behandeln lassen, obwohl sie ernsthaft krank sind. Also: Als wäre das alles noch nicht genug, tritt schließlich Bruder Béralde (Kay Bartholomäus Schulze) als bluttriefende Mumie auf - zumindest optisch ein noch schlimmerer Zombie als die anderen. Da wirkt das Hausmädchen Toinette (Regine Zimmermann) fast erfrischend, auch weil sie als einzige vom Bühnenrand aus das Geschehen zu Durchblicken scheint. Helfen kann sie Argan allerdings auch nicht und so bleibt dieser am Ende wieder allein mit den Zeilen aus Gryphius' Gedicht. Nach diesem anstrengenden 90-minütigen Horror-Kabinett, ist man froh, wieder an die Luft zu kommen.

     
23.01.17 Väter und Söhne von Brian Friel nach dem Roman von Iwan Turgenjew (Deutsches Theater)
Diese Produktion wurde zum Theatertreffen 2016 eingeladen. Seitdem ist sie ständig ausverkauft. A. und ich schafften es beim dritten Anlauf endlich Karten zu bekommen. In Turgenjews Roman kehren die beiden Studenten Arkadij und Bazarow für den Sommer in ihre ländliche Heimat zurück. Mit ihrer nihilistische Überzeugung stellen sie Kunst, Wissenschaft und sämtliche Konventionen in Frage. Hieran entspinnt sich in Väter und Söhne eine Generationenbild, bei dem die typischen Konflikte zwischen der Eltern- und Kindergeneration zu Tage kommen. Das Besondere der Inszenierung von Daniela Löffner ist die Anordnung im Bühnenraum. Die Zuschauer*innen sitzen im Viereck um das Bühnenquadrat, das mit wenig Ausstattung (Stühle, Sonnenschirme, ein langer Tisch) auskommt. Im Laufe der vier Stunden lässt man sich immer weiter in die Handlung hineinziehen. Man versteht die Söhne, man versteht die Eltern gleichermaßen, leidet mit, ist abgestoßen von der rücksichtslosen Art Bazarows (Alexander Khuon) und hat sofort wieder Mitleid mit diesem Verlorenen, der - so ahnt, so erfährt man zum Schluss - eigentlich auch nur Zuneigung und Anerkennung will. Marcel Kohler in der Rolle des Arkadij, der bei allem Nihilismus den Lebensfreuden zugetan ist, erhielt während des Theatertreffens 2016 den Alfred-Kerr Darstellerpreis. Das Duo Khuon-Kohler funktioniert zusammen, aber auch im Zusammenspiel mit den Frauen, die - die eine tougher und abgeklärter (Franziska Machens als Anna Sergejewna Odinzowa), die andere verspielter und unbelasteter, deswegen aber keineswegs naiv (Kathleen Morgeneyer als Katerina Sergejewna) - perfekt zusammenpassen zu scheinen. Alles gipfelt in einer Zusammekunft aller Protagonist*innen am Ende des Stückes, bei denen Wahrheiten ausgesprochen werden wollen, dann aber doch durch das erzwungene Aufrechterhalten der Fassade unterdrückt werden müssen.
   
  
27.01.17    re-re-re-visited Ein Volksfeind (Schaubühne)
Dass der Volksfeind immer aktuell ist und zwar an jedem Ort und zu jeder Zeit ist nicht mehr neu. Darum ist es auch nicht verwunderlich, wie die letzten politischen Ereignisse wie von alleine in die mit dem Publikum geführt Dikussion nach der Rede von Stockmann einfließen: Björn Höcke und Donald Trump sind damit (einmal mehr) präsent im Theater.

Christoph Gawenda als Thomas Stockmann (Foto: Arno Declair)


29.01.17 Streitraum Extra: Stimmen aus der Türkei (Schaubühne)
Seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei wird in rasendem Tempo die Demokratie und die Meinungsfreiheit abgebaut: Richter*innen, Journalist*innen und Lehrer*innen wurden ihrer Posten enthoben, Zeitungsredaktionen geschlossen und Menschen aus allen Gesellschaftsbereichen inhaftiert. Eigentlich war für diesen Streitraum eine Diskussionsrunde geplant. Da aber alle Angefragten Teilnehmer*innen aufgrund von Bedenken absagen mussten, wurde aus der Veranstaltung eine Lesung. Imran Ayata, Karen Krüger, Eva Meckbach, Katharina Narbutovic, Sebastian Schwarz, Özlem Topcu und Carolin Emcke lasen Berichte, Briefe, Interviews und Tweets von Künstler*innen und Autor*innen aus der Türkei.