4. April 2017

FIND 2017 - Kochen und Tragödie (Rückblick Tag 1-4)

Demokratie und Tragödie ist das Motto des diesjährigen FIND. Das Festival Internationale Neue Dramatik hat begonnen und ist mittlerweile auch schon fünf Tage alt. Den Auftakt machte eine Inszenierung von Angélica Lidell (schon vor zwei Jahren beim FIND zu Gast), die das erste mal mit einem deutschen Ensemble arbeitete. Außerdem wurde in den ersten Tagen auffällig viel gekocht. Zeit für eine Zwischenbilanz.


30.3.2017 PREMIERE Toter Hund in der Chemischen Reinigung: Die Starken von Angélica Lidell

Eine der Hauptaufgaben des Schauspielers ist es Ethik und Ästhetik mit Unterhaltung zu verbinden, sagt der Hund (Damir Avdic), der, wie er erklärt, durch einen Schauspieler ersetzt wurde, weil der viel billiger ist. Die Publikumsbeschimpfung mit der anschließenden Aufforderung an das Publikum zu gehen, sollte das Stück nicht gefallen, ist das Spannendste an der Inszenierung.  Es entsteht dabei eine etwas 10minütige Pause, die für die Zuschauer*innen erst unangenehm ist und sich nach einer Weile in Entspannung auflöst. Diese Zumutung an das Publikum ist für viele erträglicher als die Performance. Schon vor dieser Szene haben viele das Theater verlassen. Warum? Es fällt schwer zu folgen – es wird viel gerannt, etwas zertrümmert, herumgeschrien. Rousseau und Diderot werden zitiert. Vielleicht liegt es daran, dann man die Botschaft daher nur schwer herausfiltern kann. Es soll ja um „Europa in einer dystopischen Zukunft“ gehen, in der es keine Migrant*innen und keine Kriminalität mehr gibt. In der chemischen Reinigung treffen Personen aufeinander, die Geschichten ihrer Schuld und Sünden erzählen. Mit großer Spannung wurde diese Produktion von Angélica Lidell erwartet, die derzeit zu den interessantesten Theatermacher*innen gehört. Wahrscheinlich wird es das Stück schwer haben, vielleicht findet es aber auch seine Fans.


"Toter Hund in der Chemischen Reinigung: Die Starken" von Angélica Lidell - Ulrich Hoppe, Renato Schuch, Veronika Bachfischer, Iris Becher (Foto: Gianmarco Bresadola)



Regie, Bühne und Kostüme: Angélica Liddell   
Mitarbeit Regie: Gumersindo Puche
Dramaturgie: Florian Borchmeyer   

Der Hund: Damir Avdic   
Getsemani: Iris Becher   
Octavio: Ulrich Hoppe   
Combeferre: Renato Schuch   
Lazar: Lukas Turtur   
Hadewijch: Veronika Bachfischer   
Susana: Susana AbdulMajid

Dauer: ca. 155 Minuten

Essay zum Stück in Pearson's Preview: Poesie, die unsere Bequemlichkeit zertrümmert. Angélica Liddell’s »Toter Hund in der Chemischen Reinigung«

31.3.2017 & 1.4.2017 The Gabriels:  Election Year in the Life of one Family von Richard Nelson (New York)
Teil 1: Hungry
Teil 2: What did you expect?
Teil 3: Women of a Certain Age

Menschen sind die einzigen Lebewesen, die kochen – egal wie schlimm die Zeiten sind.
Jeder der drei Teile der Gabriels hat die Dauer der Zubereitung eines Essens. Ratatouille, Pasta, Kekse und andere Dinge werden von den Mitgliedern der Familie Gabriel zubereitet. Die Handlung ist im Jahr der Wahlen zum neuen Präsidenten der USA angelegt und spielt im Frühjahr, Sommer und Herbst (am Wahltag) 2016. Die Familie Gabriel trifft sich, um gemeinsam zu kochen und über die Familie zu sprechen – vor allem im Andenken über den verstorbenen Thomas. Dabei fließen immer wieder Überlegungen über die anstehenden Wahlen und die Kandidat*innen ein. Das Besondere für alle Zuschauer*innen, die vor zwei Jahren die Apple Family (ebenfalls von Richard Nelson und mit den gleichen Schauspieler*innen) gesehen haben: Es fühlt sich an, würde man alte Bekannte wieder sehen und schnell wächst einem auch diese Familie mit all ihren sympathischen (und unsympathischen) Eigenschaften ans Herz.

"The Gabriels: Election Year in the Life of one Family" von Richard Nelson, Regie: Richard Nelson (Foto: Joan Marcus)

Eine Produktion des Public Theater New York.

Regie: Richard Nelson   
Bühne: Jason Ardizzone-West, Susan Hilferty
Kostüme: Susan Hilferty

Mit: Meg Gibson, Lynn Hawley, Roberta Maxwell, Maryann Plunkett, Jay O. Sanders, Amy Warren

Dauer: jeweils ca. 95 Minuten

Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Home Cooking and Intimacy: Richard Nelson’s »The Gabriels«


2.4.2017 Verein zur Aufhebung des Notwendigen von Christophe Meierhans (Brüssel)

Gekocht wir auch im nächsten Stück im Studio der Schaubühne und zwar vom Publikum selbst. Jeder erhält zu Beginn eine Nummer und muss eine Aufgabe aus dem ausgelegten Kochbuch, das Skript des Stückes, erledigen: Zutaten auswählen, wegbringen, schneiden, pürieren, braten, mischen und dabei ein zwei Gänge-Menü zubereiten. Dabei wird die Gruppe auf der Bühne, die das Essen zubereitet immer größer. Man muss sich arrangieren. Manche denken dabei an die Gruppe (Sind Vegetarier anwesend, die etwas anderes als das zerlegte Lamm essen möchten?), manche halten sich streng an ihre Aufgabe. Manche nutzen die Situation, um das zu tun, was sie vermutlich zu Hause in der eigenen Küche niemals tun würden (Obst wird an die Wand geworfen). Irgendwann entscheidet jede*r selbst, wie er*sie sich einbringen möchte. Dass das zubereitete Essen hinter nicht besonders gut schmeckt (jedoch immerhin genießbar ist), spielt keine so große Rolle. Das Gemeinschaftserlebnis gilt den meisten wohl mehr. Demnach geht allerdings die Idee, dass das "fertige Essen wie die Summe aller Entscheidungen schmeckt" nicht ganz auf. Auch dass sich im Vorgang des Kochens die "verinnerlichte und alltäglich gelebte Praxis, als Weg, unsere persönlichen und kollektiven Bedürfnisse zu befriedigen und gemeinsam bindende Entscheidungen zu treffen" zeigen soll, ist nicht ganz einleuchtend. Dennoch ist ein solcher Abend eine schöne Idee und tolles Theaterexperiment, das tatsächlich Spaß macht.

Koproduktion: Kaaitheater, Vooruit, BIT Teatergarasjen, BUDA, Nouveau Théâtre de Montreuil, Vaba Lava. Mit Unterstützung von: Regierung von Flandern, Kunstenwerkplaats Pianofabriek. Ein House On Fire Projekt, mit Unterstützung des Kulturprogramms der Europäischen Union.

Konzept und Regie: Christophe Meierhans   
Dramaturgie: Bart Capelle
Bühne und Konzeptionelle Beratung: Holger Lindmüller, Michael Carstens
Produktion: Hiros

Dauer: ca. 150 Minuten


2.4.17 Accesso von Pablo Larraín (Santiago de Chile)

Sandokan versucht Produkte zu verscherbeln, die niemand braucht. Da er sie aber humorvoll an Mann und Frau bringen möchte, hat er erst mal die Lacher auf seiner Seite. Doch die lustige Performance wird immer wieder durch Flashbacks unterbrochen. Er erzählt von seiner Kindheit, dem Missbrauch durch Priester, von Armut und Drogen. Diese Schilderungen sind detailliert und schockierend und manchmal kaum zu ertragen. Um Zugang (Accesso) zu einerm "besseren" Leben (=Essen, Drogen) zu bekommen, lässt der junge Sandokan das alles über sich ergehen, überredet schließlich seine Schwester, den "Onkel" auch zur Verfügung zu stehen und verwechselt Missbrauch mit Liebe. Als die Behörden schließlich auf den Missbrauch aufmerksam werden, die Kinder befragen und wieder zurück in ihre ärmlichen Verhältnisse schicken wollen, ist er sogar empört und will die Täter schützen. Der chilenische Schauspieler Pablo Larraín (der bereits im auf der Berlinale 2015 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnetetn Film "El Club" den Paria Sandokan spielte) bewegt sich während des Stücks fortwährend durch die Zuschauerreihen und kommt den Leuten dabei sehr nah - manchen vielleicht zu nah -, spricht sie an, bietet Wein aus einer Flasche an und beendet den Abend mit einer Beschimpfung: Was für Menschen seien wir eigentlich, die ins Theater gehen und uns seine Geschichte als Kunst anschauen? Standing Ovations für Larraín. Beeindruckt und aufgewühlt verlässt man den Saal. - Bisher mein Highlight beim diesjährige FIND.

"Acceso" von Roberto Farías und Pablo Larraín, Regie: Pablo Larraín (Foto: Sergio Armstrong)

Regie: Pablo Larraín   
Produktion und Regieassistenz: Josefina Dagorret
Produktion: Association Sens Interdits (Frankreich/France) in Zusammenarbeit mit/in collaboration with Fitam, Fundación Teatro a Mil (Chile)

Mit: Roberto Farías

Dauer: ca. 55 Minuten

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