19. April 2017

FIND 2017 - Traurigkeit und Selbstversuch (Rückblick Tag 5 & 6)

Mit etwas Verspätung hier nun weitere Rückblicke des insgesamt sehr eindrucksvollen und wechselhaften (im positiven Sinne!) FIND 2017.


3.4.2017 Tristesses von Anne-Cécile Vandalem (Brüssel/Liège)

Auf einer fiktiven dänischen Insel mit Namen "Traurigkeiten" leben acht Menschen. Dort wird an einem Abend die Leiche von Ida gefunden, an den Fahnenmast mit der dänischen Flagge geknüpft. Ihre Tochter Martha, die Parteiführerin der rechten "Partei des völkischen Erwachens", kommt auf die Inseln, um zu verhindern, dass der Vorfall in die Öffentlichkeit gelangt. Das Stück ist eine merkwürdige Mischung aus schwarzer Komödie, Kriminalfall und Politstück mit einem großen Schauspielensemble und eigens dafür komponierten Musik. Melancholie (vor allem verkörpert durch die Töchter) und Humoriges (die hysterische Figur des Pfarrers) wechseln sich ab bzw. greifen ineinander. Auf der Bühne ist das komplette Dorf mit kleinen beengenden Häusern nebst Kirche errichtet. Ein Großteil der Handlung spielt sich im Inneren der Häuser ab, die per Live-Video auf eine Leinwand projiziert wird, was zusammen mit der überdrehten Spielweise der Figuren stark an die Castorf-Inszenierungen der Volksbühne erinnert. In "Tristesses" untersucht Anne-Cécile Vandalem, die auch die Rolle der Martha Heiger spielt, die Beziehung zwischen Macht und Emotionalisierung.

"Tristesses" Konzept, Text und Regie: Anne-Cécile Vandalem (Foto: Christophe Engels)


Koproduktion: Théâtre de Liège / Le Volcan – Scène Nationale du Havre / Théâtre National – Bruxelles / Théâtre de Namur, centre dramatique / Le Manège.Mons / Bonlieu Scène Nationale Annecy / Maison de la Culture d’Amiens – Centre européen de création et de production / Les Théâtres de Marseille – Aix en Provence. Im Rahmen des europäischen Theaternetzwerks PROSPERO: Théâtre National de Bretagne / Théâtre de Liège / Schaubühne Berlin / Göteborgs Stadsteatern / Théâtre National de Croatie, World Theatre Festival Zagreb / Festival d’Athènes et d’Epidaure / Emilia Romagna Teatro Fondazione.

Konzept, Text und Regie: Anne-Cécile Vandalem   
Musik: Vincent Cahay, Pierre Kissling
Bühne: Ruimtevaarders
Video: Arié van Egmond, Federico D’Ambrosio
Technische Leitung: Damien Arrii
Produktion: Das Fräulein (Kompanie)

Mit: Vincent Cahay, Anne-Pascale Clairembourg, Epona und Séléné Guillaume, Pierre Kissling, Vincent Lécuyer, Bernard Marbaix, Catherine Mestoussis, Jean-Benoit Ugeux, Anne- Cécile Vandalem, Françoise Vanhecke

Dauer: ca. 130 Minuten

Englischsprachiger Essay zum Stück in Pearson's Preview: Creating Distance

Hierzu wird es in Kürze noch einen Gastbeitrag von Steffi Eisenschenk geben.


4.4.2017 Tijuana von Lagartijas tiradas al sol (Mexiko-Stadt)

Der mexikanische Schauspieler Gabino Rodríguez wagte eine Selbstversuch, indem er sich mit angeklebtem Bart, unter falschem Namen und ohne Kontakt zu Freund*innen und Familie in Tijuana an der US-Grenze in einer Montagefabrik als Arbeiter verdingte. Sechs Monate tauschte er sein Leben gegen das der Figur Santiago Ramírez und erlebt, was es bedeutet von einem Lohn von umgerechnet 3,50 Euro am Tag zu leben sowie den Arbeitsbedigungen, der Ausbeutung und der Willkür der Vorgesetzten ausgeliefert zu sein. Darüber hinaus muss er mit den Lebenumständen im Arbeiterviertel umgehen, in dem häufig Gewalt herrscht. Daneben plagen ihn ethische Zweifel, weil er die Menschen, die ihm vertrauen, für diesen Versuch permament anlügen muss. Rodríguez ließ sich dafür u.a. von der Methode Günter Walraffs inspirieren, filmte und fotografierte mit seinem Handy heimlich u.a. einen Mob, der einen vermeintlichen Dieb im Viertel fast totprügelt. Diese Bilder und Aufnahmen werden im Stück verwendet. Das Stück, das vornehmlich aus den Schilderungen des Schauspielers besteht, ist die Dokumentation über diesen Versuch, der - das zeigt das Stück - am Ende doch nicht widerspiegeln kann, wie es denen ergeht, die immer so leben müssen. Und man fragt sich: War es für Rodríguez schlimmer, weil er in einer Situation zurchtkommen muss, die er so nicht kennt, oder besser, weil er immer die Gewissheit hat, wieder in sein altes Leben zurückkehren zu können? Ein weiteres Highlight für mich bei diesem Festival - auch wegen des tollen Schauspielers!

"Tijuana" ist der Auftakt eines großangelegten politischen und gesellschaftlichen Panoramas mit dem Titel "Die Demokratie in Mexiko (1965–2015)", das insgesamt aus 32 Teilen bestehen soll (für jeden der mexikanischen Bundesstaaten). Das Theaterkollektiv Lagartijas tiradas al sol (gegründet 2003) versucht in verschiedenen theatralen Formen die Grenze von Dokumentartheater und Schauspiel auszuloten, um die Widersprüche des Landes aufzudecken und so mit den Mitteln des Theaters politisch zu mobilisieren.

"Tijuana" von Lagartijas tiradas al sol (Foto: Escensas do cambio)

Ein Projekt von Gabino Rodríguez, basierend auf Texten und Ideen von Günter Walraff, Andrés Solano, Martin Caparrós

Mitarbeit Regie: Luisa Pardo
Licht: Sergio López Vigueras
Bühne: Pedro Pizarro
Sounddesign: Juan Leduc
Video: Chantal Peñalosa, Carlos Gamboa
Künstlerische Mitarbeit: Francisco Barreiro

Dauer: ca. 75 Minuten


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen