Prima Vista Lesungen kenne ich vor allem aus der Kulturbrauerei. Hier mit bekannten Synchronschauspielern wie David Nathan, Simon Jäger, Michael Pan oder Oliver Rohrbeck. Von ganz anderer Qualität ist die Prima Vista Lesung von Tilo Nest im Berliner Ensemble. Ende Dezember fand seine zweite Auf-den-ersten-Blick-Lesung statt, aber der Schauspieler (seit der Spielzeit 2017/18 neu im Ensemble, davor schon in Yasmina Rezas „Gott des Gemetzels“ am BE zu sehen) hat dieses Format bereits mehrmals an anderen Spielorten erprobt. Romanauszüge, Gedichte, Essays, Kurzgeschichten, aber auch Kochrezepte, Gebrauchsanweisungen, E-Mails und dergleichen – jede*r darf mitbringen, was er*sie schon immer mal vorgelesen haben möchte. Auch Selbstgeschriebenes ist erlaubt. Das macht den Reiz des ganzen aus: Lieblingstexte, Lustiges, Schwermütiges und Tiefsinniges werden von einem professionellen Sprecher vorgetragen und bekommen so (vielleicht) einen ganz neue Anstrich.
In der Kulisse von „Die letzte Station“ sitzt Tilo Nest und spielt Klavier als wir den Bühnenraum des Kleinen Hauses im BE betreten. Es riecht nach Tannen, weil auf der Bühne etwas 30 ungeschmückte Bäume stehen. Feierliche Stimmung. Überall sind von der Requisite Bücher verteilt worden und ich lege die dazu, die ich mitgebracht habe (u.a. "Liebesgedichte" von Bertolt Brecht – dem Haus treu bleibend-, "Grrrimm" von Karen Duve – eine bitterböse Abrechnung mit den Märchen der Gebrüder Grimm -. und der "Urfaust auf Hessisch" – Tilo Nest kommt wie ich aus Hessen), weil ich nicht kapiere, dass die vor allem aus Dekogründen da liegen. Das was gelesen werden soll, liegt nämlich auf einem kleinen Tischchen neben einem Sessel, in dem Tilo Nest Platz nimmt. Es handelt sich vorwiegend um Zettel mit selbstgeschriebenen Texten, die die anderen Zuschauer*innen auf die Probe stellen: Auszüge aus Romanen, eine kryptische Auflistung von Zahlen und Namen, ein Gedicht eines afghanischen Flüchtlings (Teilnehmer beim Poetry Project), dadaistische Kurztexte usw. Aber darum geht’s ja: Es muss gelesen werden, was die Zuschauer*innen ins Spiel bringen. Und der Vorleser hat die nicht ganz einfache Aufgabe, daraus eine Dramaturgie zu schaffen. Deswegen kann ein Brief des afghanischen Flüchtlings an die AfD auf ein witziges Gedicht folgen. Und es funktioniert!
Mit unter 20 Zuschauer*innen sind wir ein sehr kleiner Kreis, was die Lesung zu einem Erlebnis mit fast privatem Charakter macht. Ich find's wunderbar so, aber denke natürlich darüber nach, dass sich der Gastgeber sicherlich mehr Interessent*innen gewünscht hätte. Es ist ein Geschenk Tilo Nest – wunderbar angenehme Stimme und natürlich höchst professionell beim Vortragen auch der Texte, die ihm persönlich vielleicht nicht so zusagen – zuzuhören.
Und das beste kommt wie immer zum Schluss: Ein Teil der Zuschauer*innen findet sich nach der Veranstaltung mit dem Schauspieler in der Kantine ein, um über Schreiben, Lesen, Theater und viele andere Dinge bei einem Bier zu diskutieren. Nach eine paar Minuten fallen die Hemmungen und Masken. Wir freuen uns, uns in diesem Rahmen kennengelernt zu haben, Kontaktdaten werden ausgetauscht, denn über die Texte entstehen unerwartete Verbindungen und wir haben einen wunderbaren Abend bis die letzte Bahn fährt.
Hoffentlich gibt es in 2018 eine neue Ausgabe der Prima Vista Lesung!
23. Dezember 2017
6. Dezember 2017
Rückblick Oktober & November 2017: Eine Welt im Theater, ein Theater in der Welt
Mir fällt auf, dass der Oktober fast ausschließlich im Zeichen des Feminismus stand und gleichzeitig ein Vorbote auf die Themen im November war: Weltpolitik, Globalisierung, Demokratie.
OKTOBER
1.10.2017 Es sagt mir nichts das sogenannte draußen von Sibylle Berg (Maxim Gorki Theater)
Vier Schauspielerinnen spielen eine Frau – typische (?) Mitzwanzigerin, aber kein role models, wie sie selbst sagt. Keine Lust auf Zumba? Aber auch andere sagen, dass sie sich damit total gut fühlen („den Körper spüren“). Was ist so schlimm daran, zu Hause zu bleiben? Die Versprechungen der Party erfüllen sich ja doch nicht. Schließlich muss sie auf dem Laufenden bleiben, was die Liebes-Ent-und Verwicklungen des Schwarms angeht – das Handy immer am Start (nur mal kurz in die Nachricht gucken). Die Anrufe der Mutter, die wissen will, was sie so für die Zukunft geplant hat, stören da eigentlich auch nur. Lieber Typen verprügeln. Sibylle Berg hat einen Tex für vier Schauspielerinnen des Maxim Gorki Theaters geschrieben - und die sind vor allem eins: wütend - aber dabei auch unglaublich komisch. Sie zeigt, wie Frauenbilder von der Medien und der Werbung produziert werden. Körperkult und Fitnesswahn, Shoppingexzesse zwischen den BWL-Vorlesungen und der Vertrieb von selbstsynthetisierten Drogen über das Internet - wie soll Frau da wissen, wie sie leben soll?
Das Stück wurde von der Fachzeitschrift „Theater Heute“ zum deutschsprachigen Stück des Jahres 2014 gewählt.
Text: Sibylle Berg
Regie: Sebastian Nübling
Choreografie: Tabea Martin
Bühnenbild: Magda Willi
Kostüme: Ursula Leuenberger und Moïra Gilliéron
Mit: Nora Abdel-Maksoud, Cynthia Micas, Suna Gürler, Rahel Jankowski
5.10.2017 revisited thisisitgirl von Patrick Wengenroth (Schaubühne)
Das war mein sechster Besuch dieser Inszenierungen. Es gibt aber auch immer noch Freund*innen, die dieses tolle Stück noch nicht gesehen haben. Hier noch mal ein Link zu meinem Bericht aus 2015.
19.10.2017 PREMIERE LENIN von Milo Rau (Schaubühne)
Nach der Oktoberrevolution 1917 kämpft Lenin (Ursina Lardi) in seinem Landhaus mit seinem körperlichen Verfall, mehrere Schlaganfälle führen dazu, dass er auf die Hilfe seiner Familie und Freund*innen angewiesen ist. Dieses Setting wählt Milo Rau für sein Stück. Und sein Nachfolger und Gegenspieler Stalin (Damir Avdic) wird immer stärker. Der Autor-Regissuer und das Ensemble der Schaubühne blicken auf die zentralen Charaktere der wohl folgenreichsten Revolution der Menschheitsgeschichte. Aufbruch und Apathie, Revolutionssehnsucht und reaktionäre Widerstände, ein Labyrinth der Hoffnungen und Ängste, der politischen Ideale und kollektiven Gewalterfahrung. Düster und beklemmend sieht man auf der Bühne und parallel per Video, was nicht aufzuhalten ist. Ein "Gruselfilm in historischen Kostümen" hat Milo Rau sein Inszenierung genannt. Die Schauspieler*innen verwandeln sich immer mehr in ihre Figuren, sie ziehen sich auf der Bühne um und erhalten ihre Masken. Auch wenn diese Inszenierung sich von den letzten Arbeiten Raus unterscheidet, ist hier doch das Re-Enactment zu erkennen. Während am Anfang noch alle deutsche sprechen, ist zum Schluss fast nur noch russisch zu hören.
Essay zum Stück in Pearson's Preview: Schöpferische Unruhe: Milo Raus »LENIN«
Regie: Milo Rau
Bühne und Kostüme: Anton Lukas, Silvie Naunheim
Video: Kevin Graber
Dramaturgie: Stefan Bläske, Florian Borchmeyer, Nils Haarmann
Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin: Ursina Lardi
Nadeschda Konstantinowna Krupskaja: Nina Kunzendorf
Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Leo Trotzki: Felix Römer
Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin: Damir Avdic
Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski: Ulrich Hoppe
Fjodor Alexandrowitsch Guetier: Kay Bartholomäus Schulze
Pjotr Petrowitsch Pakaln: Lukas Turtur
Lydia Alexandrowna Koschkina: Iris Becher
Sapogow: Konrad Singer
Feiga Shabat: Veronika Bachfischer
Kinder: Jakov und Sophia Ahrens / Georg Arms und Lia Vinogradova / Benjamin und Mirjam Wachsmuth
Live-Kamera: Florian Baumgarten, Moritz von Dungern, Matthias Schoebe
Dauer: ca. 120 Minuten
23.10.17 Feminista, Baby! (Deutsches Theater)
nach dem SCUM-Manifesto von Valerie Solanas
1968 schoss Valerie Solanas auf Andy Warhol, verletze ihn lebensgefährlich. Jahre später verstarb der Künstler an den Spätfolgen dieses Attentats. Als Solanas nach den Gründen für die Tat gefragt wurde, verwies sie auf ihr Manifest: SCUM. Bedeutung? Abschaum. Aber auch Society for cutting up men. Auch: Eine Selbstbezeichnung einer weiblichen, zukünftigen Elite, "dominierenden, sicheren, selbstvertrauenden, widerlichen, gewalttätigen, eigensüchtigen, unabhängigen, stolzen, sensationshungrigen, frei rotierenden, arroganten Frauen, die sich imstande fühlen, das Universum zu regieren."
Den feministischen Text von Valerie Solanas, der voller Witz und Furor steckt, hat Jürgen Kuttner mit drei Schauspielern (Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose) im Deutschen Theater auf die Bühne gebracht. Ein feministisches Manifest gespielt von drei Männern - funktioniert das?
Zu Beginn des Stückes ziehen sich die drei Marilyn-Monroe-Kleider und -Perücken an und schminken sich. Und dann geht es los. Kuttner hat sich wohl dafür entschieden, die Texte von Solanas von Männern sprechen zu lassen, weil sie somit an Schärfe verlieren und koödiantischer wirken. Das ist keine schlechte Idee. Aber trotzdem denke ich die ganze Zeit: Wie wäre es, wenn das jetzt eine Frau sagen würde. Am Ender legen die Schauspieler die Frauenkleider wieder ab und steigen in ihre Männerklamotten. Alles nur ein Spiel. Alles nicht ganz ernst?
Kuttner selbst spielt auch mit: Prototyp des Machos und deswegen schwer erträglich. Diese plakative Vorstellung braucht es für mich nicht, ärgert eigentlich nur. Solanas Text reicht doch.
Das Beste an dem Abend sind die Songs von Christiane Rösinger, die einzig wahre Feministin des Abends.
Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner
Bühne: Jo Schramm
Kostüme: Daniela Selig
Musik: Christiane Rösinger, Andreas Spechtl
Jürgen Kuttner, Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose
Live-Musik: Christiane Rösinger, Andreas Spechtl, Ramin Bijan
Live-Kamera: Marlene Blumert, Bernadette Knoller
30.10.17 Die Entführung Europas (Berliner Ensemble)
Ein Crime Noir von Alexander Eisenach
...oder der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft.
Der Privatdetektiv Max Messer (Alter Ego von Heiner Müller) wird beauftragt, die verschwundene Europa ausfindig zu machen. Tipps erhält er vom Börsenspekulaten Teiresias. Nach einer durchzechten Nacht befindet er sich im Kongo, verwirrt und ohne eine Ahnung, welche Zeit gerade herrscht. Autor und Regisseur Alexander Eisenach nimmt ein Hörspiel von Heiner Müller als Vorlage für sein Stück, um zentrale Fragen unserer Gegenwart zu stellen: Kann Europa, das noch vor wenigen Jahren ein Versprechen schien, neues Leben eingehaucht werden? Oder wird unser auch kulturell vielfältiger Kontinent unter der Vorherrschaft des ökonomischen Paradigmas weiter an Attraktivität einbüßen?
Regie: Alexander Eisenach
Bühne: Daniel Wollenzin
Kostüme: Lena Schmid , Pia Dederichs
Musik: Sven Michelson
Video: Mareike Trillhaas
Dramaturgie: Frank Raddatz
Max Messer: Christian Kuchenbuch
Grace / Europa: Stephanie Eidt
Margaret: Kathrin Wehlisch
Jupiter Kingsby: Peter Moltzen
Teiresias: Laurence Rupp
NOVEMBER
01.11.17 General Assembly: Was ist globaler Realismus? - Diskussion mit Harald Welzer und Milo Rau (Schaubühne)
Moderation: Doris Akrap (taz)
Als Auftakt zur General Assembly und anlässlich des Erscheinens des Buches »Wiederholung und Ekstase« wurde im Rahmen dieser Diskussionsrunde der Versuch unternommen, die Hintergründe für soziale und politische Ungerechtigkeit im 21. Jahrhundert, zu erklären. Dabei wurden folgende Fragen angeschnitten: Was sind die Aufgaben und Grenzen eines Weltparlaments im Zeitalter von globalem Kapitalismus, Klimawandel und Massenmigration?
In Kooperation mit FuturZwei, Diaphanes Verlag und taz.die tageszeitung.
03.-5.11.2017 General Assembly: Plenarsitzungen (Schaubühne)
07.11.17 General Assembly: Sturm auf den Reichstag (Schaubühne)
Einen ausführlichen Bericht zu den Sitzungen der General Assembly und dem Sturm auf den Reichstag habe ich bereits veröffentlicht.
18.11.2017 revisitd Bella Figura von Yasmina Reza (Schaubühne)
Eine Freundin hat sich gewünscht, dieses Stück (Regie: Thomas Ostermeier), deren Rollen Reza auf die Schauspieler*innen zugeschnitten hat, zu sehen. Also habe ich es nach gut zweieinhalb Jahren noch mal angeschaut. Es kratzt ja immer etwas an der Boulevard Komödie, ist es aber dank seiner Dialoge dann eben doch nicht. Natürlich ist das eingespielte Duo Hoss-Waschke sowie das übrige Ensemble weit davon entfernt Boulevard zu sein. Die Anleihen sind vielleicht gewollt? Neben mir die Freundin kommentiert: Das ist wie bei uns zu Hause! Wie viele im Publikum denken das auch? Und wieder bin ich entzückt von der perfekten Auswahl der Kostüme (Florence von Gerkan).
21.11.17 Filmvorführung & Diskussion: Ein Volksfeind unterwegs (Freunde der Schaubühne e.V.)
Es passt, dass der Volksfeind-Film, der von den weltweiten Gastpielen der Schaubühne mit der Inszenierung "Ein Volksfeind" von Thomas Ostermeier, handelt, die weltpolitischen Themen, die in der General Assembly verhandelt wurden, beinhaltet. Für die Freund*innen der Schaubühne wurde die zweistündige Dokumentation über die Aufführungen der Inszenierung in Instanbul, London, Moskau, Torun, Seoul, Dehli, Santiago de Chile u.a. Städten exklusiv gezeigt. Die Filmemacher Matthias Schellenberg und Andreas Nickel waren anwesend und standen im Anschluss für eine Diskussion mit den Freundekreismitgliedern zur Verfügung.
Bisher ist noch nicht sicher, in welchem Rahmen, der Film noch einmal gezeigt wird. Interessierte können sich aber in der Mediathek der Schaubühne Ausschnitte ansehen.
OKTOBER
1.10.2017 Es sagt mir nichts das sogenannte draußen von Sibylle Berg (Maxim Gorki Theater)
Vier Schauspielerinnen spielen eine Frau – typische (?) Mitzwanzigerin, aber kein role models, wie sie selbst sagt. Keine Lust auf Zumba? Aber auch andere sagen, dass sie sich damit total gut fühlen („den Körper spüren“). Was ist so schlimm daran, zu Hause zu bleiben? Die Versprechungen der Party erfüllen sich ja doch nicht. Schließlich muss sie auf dem Laufenden bleiben, was die Liebes-Ent-und Verwicklungen des Schwarms angeht – das Handy immer am Start (nur mal kurz in die Nachricht gucken). Die Anrufe der Mutter, die wissen will, was sie so für die Zukunft geplant hat, stören da eigentlich auch nur. Lieber Typen verprügeln. Sibylle Berg hat einen Tex für vier Schauspielerinnen des Maxim Gorki Theaters geschrieben - und die sind vor allem eins: wütend - aber dabei auch unglaublich komisch. Sie zeigt, wie Frauenbilder von der Medien und der Werbung produziert werden. Körperkult und Fitnesswahn, Shoppingexzesse zwischen den BWL-Vorlesungen und der Vertrieb von selbstsynthetisierten Drogen über das Internet - wie soll Frau da wissen, wie sie leben soll?
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Vier Frauen auf der Suche nach dem richtigen Leben: Rahel Jankowski, Cynthia Micas, Suna Gürler, Nora Abdel-Maksoud (Foto: Thomas Aurin) |
Das Stück wurde von der Fachzeitschrift „Theater Heute“ zum deutschsprachigen Stück des Jahres 2014 gewählt.
Text: Sibylle Berg
Regie: Sebastian Nübling
Choreografie: Tabea Martin
Bühnenbild: Magda Willi
Kostüme: Ursula Leuenberger und Moïra Gilliéron
Mit: Nora Abdel-Maksoud, Cynthia Micas, Suna Gürler, Rahel Jankowski
5.10.2017 revisited thisisitgirl von Patrick Wengenroth (Schaubühne)
Das war mein sechster Besuch dieser Inszenierungen. Es gibt aber auch immer noch Freund*innen, die dieses tolle Stück noch nicht gesehen haben. Hier noch mal ein Link zu meinem Bericht aus 2015.
19.10.2017 PREMIERE LENIN von Milo Rau (Schaubühne)
Nach der Oktoberrevolution 1917 kämpft Lenin (Ursina Lardi) in seinem Landhaus mit seinem körperlichen Verfall, mehrere Schlaganfälle führen dazu, dass er auf die Hilfe seiner Familie und Freund*innen angewiesen ist. Dieses Setting wählt Milo Rau für sein Stück. Und sein Nachfolger und Gegenspieler Stalin (Damir Avdic) wird immer stärker. Der Autor-Regissuer und das Ensemble der Schaubühne blicken auf die zentralen Charaktere der wohl folgenreichsten Revolution der Menschheitsgeschichte. Aufbruch und Apathie, Revolutionssehnsucht und reaktionäre Widerstände, ein Labyrinth der Hoffnungen und Ängste, der politischen Ideale und kollektiven Gewalterfahrung. Düster und beklemmend sieht man auf der Bühne und parallel per Video, was nicht aufzuhalten ist. Ein "Gruselfilm in historischen Kostümen" hat Milo Rau sein Inszenierung genannt. Die Schauspieler*innen verwandeln sich immer mehr in ihre Figuren, sie ziehen sich auf der Bühne um und erhalten ihre Masken. Auch wenn diese Inszenierung sich von den letzten Arbeiten Raus unterscheidet, ist hier doch das Re-Enactment zu erkennen. Während am Anfang noch alle deutsche sprechen, ist zum Schluss fast nur noch russisch zu hören.
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Damir Avdic, Ursina Lardi, Jakov Ahrens (Foto: Thomas Aurin) |
Essay zum Stück in Pearson's Preview: Schöpferische Unruhe: Milo Raus »LENIN«
Regie: Milo Rau
Bühne und Kostüme: Anton Lukas, Silvie Naunheim
Video: Kevin Graber
Dramaturgie: Stefan Bläske, Florian Borchmeyer, Nils Haarmann
Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin: Ursina Lardi
Nadeschda Konstantinowna Krupskaja: Nina Kunzendorf
Lew Dawidowitsch Bronstein, genannt Leo Trotzki: Felix Römer
Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin: Damir Avdic
Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski: Ulrich Hoppe
Fjodor Alexandrowitsch Guetier: Kay Bartholomäus Schulze
Pjotr Petrowitsch Pakaln: Lukas Turtur
Lydia Alexandrowna Koschkina: Iris Becher
Sapogow: Konrad Singer
Feiga Shabat: Veronika Bachfischer
Kinder: Jakov und Sophia Ahrens / Georg Arms und Lia Vinogradova / Benjamin und Mirjam Wachsmuth
Live-Kamera: Florian Baumgarten, Moritz von Dungern, Matthias Schoebe
Dauer: ca. 120 Minuten
23.10.17 Feminista, Baby! (Deutsches Theater)
nach dem SCUM-Manifesto von Valerie Solanas
1968 schoss Valerie Solanas auf Andy Warhol, verletze ihn lebensgefährlich. Jahre später verstarb der Künstler an den Spätfolgen dieses Attentats. Als Solanas nach den Gründen für die Tat gefragt wurde, verwies sie auf ihr Manifest: SCUM. Bedeutung? Abschaum. Aber auch Society for cutting up men. Auch: Eine Selbstbezeichnung einer weiblichen, zukünftigen Elite, "dominierenden, sicheren, selbstvertrauenden, widerlichen, gewalttätigen, eigensüchtigen, unabhängigen, stolzen, sensationshungrigen, frei rotierenden, arroganten Frauen, die sich imstande fühlen, das Universum zu regieren."
Den feministischen Text von Valerie Solanas, der voller Witz und Furor steckt, hat Jürgen Kuttner mit drei Schauspielern (Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose) im Deutschen Theater auf die Bühne gebracht. Ein feministisches Manifest gespielt von drei Männern - funktioniert das?
Zu Beginn des Stückes ziehen sich die drei Marilyn-Monroe-Kleider und -Perücken an und schminken sich. Und dann geht es los. Kuttner hat sich wohl dafür entschieden, die Texte von Solanas von Männern sprechen zu lassen, weil sie somit an Schärfe verlieren und koödiantischer wirken. Das ist keine schlechte Idee. Aber trotzdem denke ich die ganze Zeit: Wie wäre es, wenn das jetzt eine Frau sagen würde. Am Ender legen die Schauspieler die Frauenkleider wieder ab und steigen in ihre Männerklamotten. Alles nur ein Spiel. Alles nicht ganz ernst?
Kuttner selbst spielt auch mit: Prototyp des Machos und deswegen schwer erträglich. Diese plakative Vorstellung braucht es für mich nicht, ärgert eigentlich nur. Solanas Text reicht doch.
Das Beste an dem Abend sind die Songs von Christiane Rösinger, die einzig wahre Feministin des Abends.
Regie: Tom Kühnel, Jürgen Kuttner
Bühne: Jo Schramm
Kostüme: Daniela Selig
Musik: Christiane Rösinger, Andreas Spechtl
Jürgen Kuttner, Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose
Live-Musik: Christiane Rösinger, Andreas Spechtl, Ramin Bijan
Live-Kamera: Marlene Blumert, Bernadette Knoller
30.10.17 Die Entführung Europas (Berliner Ensemble)
Ein Crime Noir von Alexander Eisenach
...oder der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft.
Der Privatdetektiv Max Messer (Alter Ego von Heiner Müller) wird beauftragt, die verschwundene Europa ausfindig zu machen. Tipps erhält er vom Börsenspekulaten Teiresias. Nach einer durchzechten Nacht befindet er sich im Kongo, verwirrt und ohne eine Ahnung, welche Zeit gerade herrscht. Autor und Regisseur Alexander Eisenach nimmt ein Hörspiel von Heiner Müller als Vorlage für sein Stück, um zentrale Fragen unserer Gegenwart zu stellen: Kann Europa, das noch vor wenigen Jahren ein Versprechen schien, neues Leben eingehaucht werden? Oder wird unser auch kulturell vielfältiger Kontinent unter der Vorherrschaft des ökonomischen Paradigmas weiter an Attraktivität einbüßen?
Regie: Alexander Eisenach
Bühne: Daniel Wollenzin
Kostüme: Lena Schmid , Pia Dederichs
Musik: Sven Michelson
Video: Mareike Trillhaas
Dramaturgie: Frank Raddatz
Max Messer: Christian Kuchenbuch
Grace / Europa: Stephanie Eidt
Margaret: Kathrin Wehlisch
Jupiter Kingsby: Peter Moltzen
Teiresias: Laurence Rupp
NOVEMBER
01.11.17 General Assembly: Was ist globaler Realismus? - Diskussion mit Harald Welzer und Milo Rau (Schaubühne)
Moderation: Doris Akrap (taz)
Als Auftakt zur General Assembly und anlässlich des Erscheinens des Buches »Wiederholung und Ekstase« wurde im Rahmen dieser Diskussionsrunde der Versuch unternommen, die Hintergründe für soziale und politische Ungerechtigkeit im 21. Jahrhundert, zu erklären. Dabei wurden folgende Fragen angeschnitten: Was sind die Aufgaben und Grenzen eines Weltparlaments im Zeitalter von globalem Kapitalismus, Klimawandel und Massenmigration?
In Kooperation mit FuturZwei, Diaphanes Verlag und taz.die tageszeitung.
03.-5.11.2017 General Assembly: Plenarsitzungen (Schaubühne)
07.11.17 General Assembly: Sturm auf den Reichstag (Schaubühne)
Einen ausführlichen Bericht zu den Sitzungen der General Assembly und dem Sturm auf den Reichstag habe ich bereits veröffentlicht.
18.11.2017 revisitd Bella Figura von Yasmina Reza (Schaubühne)
Eine Freundin hat sich gewünscht, dieses Stück (Regie: Thomas Ostermeier), deren Rollen Reza auf die Schauspieler*innen zugeschnitten hat, zu sehen. Also habe ich es nach gut zweieinhalb Jahren noch mal angeschaut. Es kratzt ja immer etwas an der Boulevard Komödie, ist es aber dank seiner Dialoge dann eben doch nicht. Natürlich ist das eingespielte Duo Hoss-Waschke sowie das übrige Ensemble weit davon entfernt Boulevard zu sein. Die Anleihen sind vielleicht gewollt? Neben mir die Freundin kommentiert: Das ist wie bei uns zu Hause! Wie viele im Publikum denken das auch? Und wieder bin ich entzückt von der perfekten Auswahl der Kostüme (Florence von Gerkan).
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Die Fassade bröckelt: Renato Schuch, Lore Stefanek, Nina, Hoss, Mark Waschke und Stephanie Eidt (Foto: Arno Declair) |
21.11.17 Filmvorführung & Diskussion: Ein Volksfeind unterwegs (Freunde der Schaubühne e.V.)
Es passt, dass der Volksfeind-Film, der von den weltweiten Gastpielen der Schaubühne mit der Inszenierung "Ein Volksfeind" von Thomas Ostermeier, handelt, die weltpolitischen Themen, die in der General Assembly verhandelt wurden, beinhaltet. Für die Freund*innen der Schaubühne wurde die zweistündige Dokumentation über die Aufführungen der Inszenierung in Instanbul, London, Moskau, Torun, Seoul, Dehli, Santiago de Chile u.a. Städten exklusiv gezeigt. Die Filmemacher Matthias Schellenberg und Andreas Nickel waren anwesend und standen im Anschluss für eine Diskussion mit den Freundekreismitgliedern zur Verfügung.
Bisher ist noch nicht sicher, in welchem Rahmen, der Film noch einmal gezeigt wird. Interessierte können sich aber in der Mediathek der Schaubühne Ausschnitte ansehen.
10. November 2017
General Assembly vom 3.-5.11. & Sturm auf den Reichstag am 7.11. - Ein Fazit (Wenn die persönlichen Probleme ganz klein werden)
Ein wahnsinniges Projekt. Wie soll man 19 Stunden in sieben Sitzungen und die Wortbeiträge von 60 Abgeordneten plus Diskussionen bei diesem Weltparlament in ein paar Worte fassen? Ist es möglich ein Fazit zu ziehen? Kann ich eigentlich darüber urteilen, ob die General Assembly sinnvoll, richtig und erfolgreich war?
Ob die Idee, ein Weltparlament zu inszenieren funktioniert hat, ist eine der Fragen, die sich stellt. Die Antwort: Ja. Schon allein, weil die General Assembly stattgefunden hat. Mit echten Akteur*innen und echten Fragen der Weltpolitik, in ernsthaften Debatten. Das Ziel: Demokratische Strukturen finden, die die gesamte Welt betreffen.
Ist es dann überhaupt noch Theater? Ja und nein. Tatsächlich hätte dieses Weltparlament nicht stattgefunden, wenn es nicht als Theaterprojekt mit einem vorher festgelegten Ablauf, mit von der Regie bestimmten Regeln und ausgewählten Parlamentarier*innen geplant worden wäre. Andererseits handelt es sich um echte Probleme der Welt, um Betroffene mit wahren Geschichten und tatsächlicher Geschichte. Das Theater (die Schaubühne als Raum und Rahmen) bildet dabei nur die Möglichkeit, dies alles überhaupt stattfinden zu lassen. Es sei performativ, so Robert Misik in seiner Rede in der Abschlusssitzung, und daher Theater. Aber indem es so tue, als sei es ein echtes Weltparlament, sei es das letzlich auch. Die Utopie eines Weltparlaments ist wahr geworden, allein dadurch, dass es jemanden gab, der sie "einfach" umgesetzt hat.
Wäre ein nicht-inszeniertes Weltparlement ebenso abgelaufen, wie an diesen drei Tagen am vergangenen Wochenende? Nein. Denn vermutlich wären andere Personen an der Generalversammlung beteiligt gewesen. Die Regeln wären andere gewesen (z.B. mehr Raum für Diskussionen für die einzelnen Themen und Anträge, vielleicht mehr Antagonist*innen, womöglich mehr Mitbestimmung den Ablauf betreffend). Doch: Die General Assembly hat nie für sich in Anspruch genommen, perfekt zu sein oder die ideale Plattform für die Fragen der Weltpolitik darzustellen. Wichtig ist, dass sie ein Anfang ist. Auch wenn in der Abschlusssitzung Kritik an der Form und den Abläufen geübt wurde, ist am Ende doch jedem und jeder klar geworden - so zumindest mein Eindruck - dass es ein Weltparlement braucht und die Idee Nachahmer*innen finden muss.
Das Weltparlament wird weitergehen in anderen Städten und Ländern, mit den gleichen und teilweise anderen Abgeordneten. Der Anfang war voller Fragen, z.B. wie die Abgeordneten in Zukunft ausgewählt werden, resümmierte Milo Rau.
Und die General Assembly hat noch mehr bewirkt: Noch nie habe ich erlebt, dass ein Theaterpublikum so intensiv, hitzig und wach in den Pausen diskutierte. Und dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob nun Freund*in oder Fremde*r gerade da stand. Alle fühlten sich als Teil des Geschehens auf der Bühne des Theaters. Trotz unterschiedlichster Meinungen, waren alle Menschen, die als Beobachter`*innen, die Sitzungen verfolgten so stark involviert, dass sich niemand entziehen wollte. Und da werden die persönlichen Sorgen und Nöte auf einmal ganz klein und unwichtig.
Wir hatten miterlebt, wie einer der Parlemtarier von den weiteren Sitzungen ausgeschlossen werden sollte, weil er den Genozid an den Armenieren geleugnet hatte. Genauso so groß wie die Empörung über die Aussage des AKP-Anhängers saß der Schock, darüber, dass es hier ja dann doch eine Regie gab, die den Ausschluss bestimmen kann. Verstärkt wurde diese Schrecksekunde durch die Aussage des Parlamentspräsidenten, der erklärte er sei "just an actor" und müsse die Anweisung der Regie befolgen. Theater oder nicht...?! Die Frage: Kann oder muss der Raum, das Theater, die Form die Menschen dort oben schützen oder muss man sich hier genau darüber hinwegsetzen? Meines Erachtens war der Ausschluss richtig, aber weil sie als Regieanweisung kam (oder so wirkte), entstand das Gefühl, dass hier über die Köpfe der "eigentlichen" Entscheider*innen bestimmt wurde. Weil die Parlamentarier*innen jedoch darauf insistierten, abstimmen und entscheiden zu können, ob der Delegierte bleiben kann oder nicht, bewiesen sie ihre Macht. Der Ausschluss wurde rückgängig gemacht, die Regie stand trotz begründeter Einwände eine Fehlentscheidung ein.
Dieser Vorfall zeigte, dass das Konzept des Weltparlements noch vieler Verbesserungen bedarf. Sie zeigte aber aber auch, dass die Idee der Selbstermächtigung funkioniert. Die Regie war nötig, um die Utopie umsetzen zu können. Aber sobald diese Utopie einmal real wird, entwickelt sie sich von allein.
Noch mal Robert Misik: Das Parlament der Träume sei auch eines der Alpträume.
Die Folgen der Kolonialisierung, die Ausbeutung von Menschen, Tieren und der Umwelt, die Macht der Konzerne, die Folgen des Konsums der westlichen Welt, der durch uns verursachte Klimawandel, Hunger, Folter, Krieg - all das wissen wir ja eigentlich, aber es ist auch irgendwie wichtig, dies in allen schonungslosen Einzelheiten noch mal geschildert zu bekommen, auch wenn es oft schwer zu ertragen ist. Damit wir hier in unserem gemütlichen Theatersessel darüber nachdenken, dass es so wie es ist, nicht bleiben kann. "Sie können uns nicht alles nehmen und dann erwarten, dass wir nicht kommen" sagte Abou Bakar Sidibé (Filmemacher aus Mali). Und "Afrika ist die Mülldeponie für die Konsumprodukte der westlichen Welt" erklärte die Aktivistin Joana Adesuwa Reiterer.
Jeder*r kann in seinem Leben und Konsumverhalten etwas ändern, um die inakzeptablen Zustände nicht weiter zu fördern. Aber genauso wichtig ist es auch, dass die von uns gewählten Politiker*innen, sich dieser Probleme annehmen und Lösungen dafür anbieten. Die Abgeordneten der General Assembly repräsentierten diejenigen, die von den Entscheidungen der Politik betroffen sind, aber kein Mitspracherecht haben. Aber globale Politik muss mit einem globalen Parlament gemacht werden.
Daher sollte am Ende der General Assembly die Verabschiedung eine Charta für das 21. Jahrhundert stehen, die mit dem Sturm auf den Reichstag dem Deutschen Bundestag symbolisch übergeben werden sollte. Elf Anträge wurden von der Generalversammlung angenommen, zwei abgelehnt, zwei konnten aufgrund von Formulierungsfragen nicht entschieden werden. Aus diesen Anträgen und den diskutierten Erweiterungsvorschlägen wird in den nächsten Tagen in Zusammenarbeit mit den politischen Beobachter*innen die finale Charta für das 21. Jahrhundert entstehen. Diese wird in verschiedenen europäischen Parlamenten, auch dem Deutschen Bundestag, verlesen werden.
Der Sturm auf den Reichstag war vor allem eine letzte Zusammenkunft aller Beteiligten, Abgeordneten, Unterstützer*innen (auch Mitglieder des Bundestages waren dabei) und ein guter Abschluss der General Assembly. Wir haben den Reichstag nur symbolisch gestürmt, d.h. bis zur für uns vorgesehenen Abgrenzung. Aber es hat gut getan, zu sehen, wie etwas in Gang gesetzt wurde, was nun hoffentlich überall auf der Welt wiederholt werden wird.
Ein wahnsinniges Projekt - ja. Aber so wichtig und so richtig!
Themen, Abgeordnete, Ziele der General Assembly.
Idee & Umsetzung: International Institute of Political Murder (IIPM )/ Milo Rau.
Kooperationspartner: Schaubühne am Lehniner Platz
Fotos: Elmar Engels, Maren Vergiels
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Das Weltparlament in der Schaubühne. |
Ob die Idee, ein Weltparlament zu inszenieren funktioniert hat, ist eine der Fragen, die sich stellt. Die Antwort: Ja. Schon allein, weil die General Assembly stattgefunden hat. Mit echten Akteur*innen und echten Fragen der Weltpolitik, in ernsthaften Debatten. Das Ziel: Demokratische Strukturen finden, die die gesamte Welt betreffen.
Ist es dann überhaupt noch Theater? Ja und nein. Tatsächlich hätte dieses Weltparlament nicht stattgefunden, wenn es nicht als Theaterprojekt mit einem vorher festgelegten Ablauf, mit von der Regie bestimmten Regeln und ausgewählten Parlamentarier*innen geplant worden wäre. Andererseits handelt es sich um echte Probleme der Welt, um Betroffene mit wahren Geschichten und tatsächlicher Geschichte. Das Theater (die Schaubühne als Raum und Rahmen) bildet dabei nur die Möglichkeit, dies alles überhaupt stattfinden zu lassen. Es sei performativ, so Robert Misik in seiner Rede in der Abschlusssitzung, und daher Theater. Aber indem es so tue, als sei es ein echtes Weltparlament, sei es das letzlich auch. Die Utopie eines Weltparlaments ist wahr geworden, allein dadurch, dass es jemanden gab, der sie "einfach" umgesetzt hat.
Wäre ein nicht-inszeniertes Weltparlement ebenso abgelaufen, wie an diesen drei Tagen am vergangenen Wochenende? Nein. Denn vermutlich wären andere Personen an der Generalversammlung beteiligt gewesen. Die Regeln wären andere gewesen (z.B. mehr Raum für Diskussionen für die einzelnen Themen und Anträge, vielleicht mehr Antagonist*innen, womöglich mehr Mitbestimmung den Ablauf betreffend). Doch: Die General Assembly hat nie für sich in Anspruch genommen, perfekt zu sein oder die ideale Plattform für die Fragen der Weltpolitik darzustellen. Wichtig ist, dass sie ein Anfang ist. Auch wenn in der Abschlusssitzung Kritik an der Form und den Abläufen geübt wurde, ist am Ende doch jedem und jeder klar geworden - so zumindest mein Eindruck - dass es ein Weltparlement braucht und die Idee Nachahmer*innen finden muss.
Das Weltparlament wird weitergehen in anderen Städten und Ländern, mit den gleichen und teilweise anderen Abgeordneten. Der Anfang war voller Fragen, z.B. wie die Abgeordneten in Zukunft ausgewählt werden, resümmierte Milo Rau.
Ein Fazit von Regisseur Milo Rau. |
Und die General Assembly hat noch mehr bewirkt: Noch nie habe ich erlebt, dass ein Theaterpublikum so intensiv, hitzig und wach in den Pausen diskutierte. Und dabei spielte es überhaupt keine Rolle, ob nun Freund*in oder Fremde*r gerade da stand. Alle fühlten sich als Teil des Geschehens auf der Bühne des Theaters. Trotz unterschiedlichster Meinungen, waren alle Menschen, die als Beobachter`*innen, die Sitzungen verfolgten so stark involviert, dass sich niemand entziehen wollte. Und da werden die persönlichen Sorgen und Nöte auf einmal ganz klein und unwichtig.
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Kein Publikum mehr |
Wir hatten miterlebt, wie einer der Parlemtarier von den weiteren Sitzungen ausgeschlossen werden sollte, weil er den Genozid an den Armenieren geleugnet hatte. Genauso so groß wie die Empörung über die Aussage des AKP-Anhängers saß der Schock, darüber, dass es hier ja dann doch eine Regie gab, die den Ausschluss bestimmen kann. Verstärkt wurde diese Schrecksekunde durch die Aussage des Parlamentspräsidenten, der erklärte er sei "just an actor" und müsse die Anweisung der Regie befolgen. Theater oder nicht...?! Die Frage: Kann oder muss der Raum, das Theater, die Form die Menschen dort oben schützen oder muss man sich hier genau darüber hinwegsetzen? Meines Erachtens war der Ausschluss richtig, aber weil sie als Regieanweisung kam (oder so wirkte), entstand das Gefühl, dass hier über die Köpfe der "eigentlichen" Entscheider*innen bestimmt wurde. Weil die Parlamentarier*innen jedoch darauf insistierten, abstimmen und entscheiden zu können, ob der Delegierte bleiben kann oder nicht, bewiesen sie ihre Macht. Der Ausschluss wurde rückgängig gemacht, die Regie stand trotz begründeter Einwände eine Fehlentscheidung ein.
Dieser Vorfall zeigte, dass das Konzept des Weltparlements noch vieler Verbesserungen bedarf. Sie zeigte aber aber auch, dass die Idee der Selbstermächtigung funkioniert. Die Regie war nötig, um die Utopie umsetzen zu können. Aber sobald diese Utopie einmal real wird, entwickelt sie sich von allein.
Noch mal Robert Misik: Das Parlament der Träume sei auch eines der Alpträume.
Die Folgen der Kolonialisierung, die Ausbeutung von Menschen, Tieren und der Umwelt, die Macht der Konzerne, die Folgen des Konsums der westlichen Welt, der durch uns verursachte Klimawandel, Hunger, Folter, Krieg - all das wissen wir ja eigentlich, aber es ist auch irgendwie wichtig, dies in allen schonungslosen Einzelheiten noch mal geschildert zu bekommen, auch wenn es oft schwer zu ertragen ist. Damit wir hier in unserem gemütlichen Theatersessel darüber nachdenken, dass es so wie es ist, nicht bleiben kann. "Sie können uns nicht alles nehmen und dann erwarten, dass wir nicht kommen" sagte Abou Bakar Sidibé (Filmemacher aus Mali). Und "Afrika ist die Mülldeponie für die Konsumprodukte der westlichen Welt" erklärte die Aktivistin Joana Adesuwa Reiterer.
Jeder*r kann in seinem Leben und Konsumverhalten etwas ändern, um die inakzeptablen Zustände nicht weiter zu fördern. Aber genauso wichtig ist es auch, dass die von uns gewählten Politiker*innen, sich dieser Probleme annehmen und Lösungen dafür anbieten. Die Abgeordneten der General Assembly repräsentierten diejenigen, die von den Entscheidungen der Politik betroffen sind, aber kein Mitspracherecht haben. Aber globale Politik muss mit einem globalen Parlament gemacht werden.
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Weltparlament für alle und alles |
Daher sollte am Ende der General Assembly die Verabschiedung eine Charta für das 21. Jahrhundert stehen, die mit dem Sturm auf den Reichstag dem Deutschen Bundestag symbolisch übergeben werden sollte. Elf Anträge wurden von der Generalversammlung angenommen, zwei abgelehnt, zwei konnten aufgrund von Formulierungsfragen nicht entschieden werden. Aus diesen Anträgen und den diskutierten Erweiterungsvorschlägen wird in den nächsten Tagen in Zusammenarbeit mit den politischen Beobachter*innen die finale Charta für das 21. Jahrhundert entstehen. Diese wird in verschiedenen europäischen Parlamenten, auch dem Deutschen Bundestag, verlesen werden.
Da müssen wir mit unseren Forderungen hinein! Der Sturm auf den Reichstag. |
Der Sturm auf den Reichstag war vor allem eine letzte Zusammenkunft aller Beteiligten, Abgeordneten, Unterstützer*innen (auch Mitglieder des Bundestages waren dabei) und ein guter Abschluss der General Assembly. Wir haben den Reichstag nur symbolisch gestürmt, d.h. bis zur für uns vorgesehenen Abgrenzung. Aber es hat gut getan, zu sehen, wie etwas in Gang gesetzt wurde, was nun hoffentlich überall auf der Welt wiederholt werden wird.
Ein wahnsinniges Projekt - ja. Aber so wichtig und so richtig!
Themen, Abgeordnete, Ziele der General Assembly.
Idee & Umsetzung: International Institute of Political Murder (IIPM )/ Milo Rau.
Kooperationspartner: Schaubühne am Lehniner Platz
Fotos: Elmar Engels, Maren Vergiels
Labels:
IIPM,
Milo Rau,
Politik,
Reenactment,
Schaubühne
1. November 2017
General Assembly und Sturm auf den Reichstag (IIPM / Milo Rau)
Demokratie für alle und alles.
Vom 3. bis 5. November 2017 versammeln sich 60 Abgeordnete der General Assembly aus der ganzen Welt, um zu verhandeln, wo wir als Weltgemeinschaft stehen. Soziale, ökologische, technologische und politische Fragen werden im Rahmen dieses ersten "Weltparlaments" der Menschheitsgeschichte gestellt, begleitet von einer Gruppe internationaler politischer Beobachter*innen.
Was sind die Forderungen des globalen "Dritten Standes"? Dies wird in der sogenannten "Charta für das 21. Jahrhundert“ verabschiedet.
Den Abschluss bildet am 7. November der „Sturm auf den Reichstag“ (ein Reenactement des "Sturms auf den Winterpalast vor 100 Jahren). Dieses zukunftweisende Symbol soll den Weg für den notwendigen politischen Umbruch, für globale Demokratie und internationale Solidarität im 21. Jahrhundert schaffen.
Wer etwas dazu beitragen möchte, sollte dabei sein und um 15 Uhr auf die Wiese vor dem Reichstag kommen.
Für die General Assembly gibt es noch Tickets für die 4. Plenarsitzung (Cultural Global Commons) am 5.11.2017, 10 - 13 Uhr.
Weitere Informationen (z.B. Tagesordnung, Abgeordnete) und Livestream der Plenarsitzungen in deutsch, englisch und französisch auf www.general-assembly.net.
Vom 3. bis 5. November 2017 versammeln sich 60 Abgeordnete der General Assembly aus der ganzen Welt, um zu verhandeln, wo wir als Weltgemeinschaft stehen. Soziale, ökologische, technologische und politische Fragen werden im Rahmen dieses ersten "Weltparlaments" der Menschheitsgeschichte gestellt, begleitet von einer Gruppe internationaler politischer Beobachter*innen.
Was sind die Forderungen des globalen "Dritten Standes"? Dies wird in der sogenannten "Charta für das 21. Jahrhundert“ verabschiedet.
Den Abschluss bildet am 7. November der „Sturm auf den Reichstag“ (ein Reenactement des "Sturms auf den Winterpalast vor 100 Jahren). Dieses zukunftweisende Symbol soll den Weg für den notwendigen politischen Umbruch, für globale Demokratie und internationale Solidarität im 21. Jahrhundert schaffen.
Wer etwas dazu beitragen möchte, sollte dabei sein und um 15 Uhr auf die Wiese vor dem Reichstag kommen.
Für die General Assembly gibt es noch Tickets für die 4. Plenarsitzung (Cultural Global Commons) am 5.11.2017, 10 - 13 Uhr.
Weitere Informationen (z.B. Tagesordnung, Abgeordnete) und Livestream der Plenarsitzungen in deutsch, englisch und französisch auf www.general-assembly.net.
Labels:
IIPM,
Milo Rau,
Schaubühne
3. Oktober 2017
Rückblick September 2017: Spielzeitbeginn - Fritsch erstmals auf der Schaubühne - "Rückkehr nach Reims" jetzt auch in der deutschen Fassung
Die theaterfreie Zeit ist vorbei - die Spielzeit 2017/18 hat begonnen. Und hier kommt der erste Monatsrückblick.
08.09.2017 Gastspiel Acceso von Roberto Farías und Pablo Larraín (Schaubühne)
Dieses Ein-Mann-Stück von Roberto Farías und Pablo Larraín wurde im Rahmen des Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) 2017 erstmals an der Schaubühne gezeigt. Aufgrund der großen Nachfrage lud die Schaubühne die Produktion aus Chile noch einmal für drei Vorstellungen ein. Beim zweiten mal war es nicht weniger berührend und nachhaltig beeindruckend.
Hier habe ich während des FIND 2017 darüber berichtet.
17.09.2017 Brunch der Freunde der Schaubühne e.V.
Mittlerweile können wir über 1.000 Mitglieder verzeichnen. Kein Wunder also, dass bei unserem diesjähringen Brunch zur Spielzeiteröffnung über 120 Freundinnen und Freunde anwesend waren. Wer Interesse an einer Mitgliedschaft hat, findet hier entsprechende Infos. Wir bieten neben Künstler*innen-Treffen auch Führungen hinter die Kulissen, Reisen und gemeinsame Feiern an. Mit unseren Mitteln fördern wir diverse Projekte der Schaubühne.
19.09.2017 PREMIERE Zeppelin von Herbert Fritsch frei nach Texten von Ödön von Horvàth (Schaubühne)
Es ist soweit. Herbert Fritsch ist mit seinen Schauspieler*innen (Florian Anderer, Werner Eng, Bastian Reiber, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler, Axel Wandtke) und dem Musiker Ingo Günther an der Schaubühne angekommen. Für seine erste Produktion holt er sich Jule Böwe und Alina Stiegler aus dem bisherigen Ensemble dazu. In Zeppelin bedient sich Fritsch diverser Texte von Horváth und mischt diese fröhlich durcheinander. Der Satz "Irgendwann werden sie das alles verstehen" ist fast schon Programm und natürlich auch sehr selbtreferenziell ironisch. Denn Fritsch geht es gar nicht darum, dass alles immer einen Sinn ergibt. Was zählt ist die Freude an den Worten, die von der Fritsch-Truppe gesprochen, gerufen, gesungen werden. Große Augen, Grimassen, turnerische Darbietung. Sie hängen, klammern und klettern im Zeppelin. Immer wieder der Balanceakt auf, in und unter dem Ding, das über der Bühne schwebt. Da zeigt sich wahre Körperbeherrschung und Können. Der Zeppelin ist dabei allerdings nur ein Gerüst bzw. das Skelett eines Luftschiffs und scheint mal leicht, mal schwer. Ein Gerippe, ein Käfig, Schutz und Bedrohung zugleich. Auch diese Produktion ist wie alle Stücke von Fritsch vor allem Augen- und Ohrenweide - Hauptsache die Zuschauer*innen haben Spaß. Einer der Höhepunkte: Am Ende stehen sie auf den Sprossen im Zeppelin, es pendelt gefühlte zehn Minuten aus. Geklatscht werden darf erst, wenn es still steht. Das muss man aushalten da unten im Zuschauerraum.
Regie und Bühne: Herbert Fritsch
Kostüme: Victoria Behr
Musik: Ingo Günther
Dramaturgie: Bettina Ehrlich
Licht: Torsten König
Mit: Florian Anderer, Jule Böwe, Werner Eng, Ingo Günther, Bastian Reiber, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler, Alina Stiegler, Axel Wandtke
Essay zum Stück in Pearson's Preview: »Kein Piña Colada«. Herbert Fritsch, Volksbühnen-Vertriebene und ein riesiges Luftschiff
24.09. PREMIERE Rückkehr nach Reims nach Didier Eribon in einer Fassung der Schaubühne
Regie: Thomas Ostermeier
Nach der Uraufführung in englischer Sprache beim Manchester International Festival (MIF) im Juli - hier habe ich darüber berichtet - folgte nun die deutschsprachige Erstaufführung von "Rückkehr nach Reims" nach dem Buch von Didier Eribon. Die Premiere wurde extra auf den Sonntag der Bundestagswahl gelegt, um (wie Ostermeier in verschiedenen Interviews erklärte), sich damit auseinandersetzen zu müssen, warum es die SPD wieder nicht geschafft habe. Wie wir mittlerweile wissen, ist das Ergebnis für sie so schlecht wie nie ausgefallen. Dafür konnte die AfD erschreckend viele Wähler*innen gewinnen.
Die Rollen von Bush Moukarzel und Ali Gadema übernehmen in der deutschen Fassung Hans-Jochen Wagner und Renato Schuch. Für mich hat das Stück in meiner Muttersprache und durch die unterschiedliche Besetzung eine andere Stimmung erhalten. Insbesonder die Rolle des Regisseurs (Wagner) bekommt einen anderen Aspekt. Während Bush Moukarzel witziger oder ironischer wirkt, kommt H.-J. Wagner arroganter rüber. Nina Hoss' langer, ruhiger Bericht über das Leben ihres Vaters Willi Hoss wirkt auf mich in der deutschen Fassung weniger "angeheftet". Auch wenn Nina Hoss im ersten Teil des Stücks noch die Schauspielerin Katrin ist und erst im letzten Drittel sie selbst wird, ist sie für mich doch immer Nina Hoss. Und in H.-J. Wagner erkennte man Thomas Ostermeier zumindest optisch, denn er trägt Hose, Pullover und Reebok-Turnschuhe, die quasi zu Ostermeiers Signature Look gehören.
Im November wird "Rückkehr nach Reims" / "Returning to Reims" auch fünf mal in der englischen Originalbesetzung gezeigt:
22. und 25.-28.11.2017 (hierfür sind noch Tickets erhältlich).
Regie: Thomas Ostermeier
Bühne und Kostüme: Nina Wetzel
Film: Sébastien Dupouey, Thomas Ostermeier
Kamera: Markus Lenz, Sébastien Dupouey
Ton: Peter Carstens
Musik: Nils Ostendorf
Sounddesign: Jochen Jezussek
Dramaturgie: Florian Borchmeyer, Maja Zade
Licht: Erich Schneider
Mit: Nina Hoss
Mit: Bush Moukarzel / Hans-Jochen Wagner
Mit: Ali Gadema / Renato Schuch
08.09.2017 Gastspiel Acceso von Roberto Farías und Pablo Larraín (Schaubühne)
Dieses Ein-Mann-Stück von Roberto Farías und Pablo Larraín wurde im Rahmen des Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) 2017 erstmals an der Schaubühne gezeigt. Aufgrund der großen Nachfrage lud die Schaubühne die Produktion aus Chile noch einmal für drei Vorstellungen ein. Beim zweiten mal war es nicht weniger berührend und nachhaltig beeindruckend.
Hier habe ich während des FIND 2017 darüber berichtet.
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"Acceso" von Roberto Farías und Pablo Larraín, Regie: Pablo Larraín (Foto: Sergio Armstrong) |
17.09.2017 Brunch der Freunde der Schaubühne e.V.
Mittlerweile können wir über 1.000 Mitglieder verzeichnen. Kein Wunder also, dass bei unserem diesjähringen Brunch zur Spielzeiteröffnung über 120 Freundinnen und Freunde anwesend waren. Wer Interesse an einer Mitgliedschaft hat, findet hier entsprechende Infos. Wir bieten neben Künstler*innen-Treffen auch Führungen hinter die Kulissen, Reisen und gemeinsame Feiern an. Mit unseren Mitteln fördern wir diverse Projekte der Schaubühne.
19.09.2017 PREMIERE Zeppelin von Herbert Fritsch frei nach Texten von Ödön von Horvàth (Schaubühne)
Es ist soweit. Herbert Fritsch ist mit seinen Schauspieler*innen (Florian Anderer, Werner Eng, Bastian Reiber, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler, Axel Wandtke) und dem Musiker Ingo Günther an der Schaubühne angekommen. Für seine erste Produktion holt er sich Jule Böwe und Alina Stiegler aus dem bisherigen Ensemble dazu. In Zeppelin bedient sich Fritsch diverser Texte von Horváth und mischt diese fröhlich durcheinander. Der Satz "Irgendwann werden sie das alles verstehen" ist fast schon Programm und natürlich auch sehr selbtreferenziell ironisch. Denn Fritsch geht es gar nicht darum, dass alles immer einen Sinn ergibt. Was zählt ist die Freude an den Worten, die von der Fritsch-Truppe gesprochen, gerufen, gesungen werden. Große Augen, Grimassen, turnerische Darbietung. Sie hängen, klammern und klettern im Zeppelin. Immer wieder der Balanceakt auf, in und unter dem Ding, das über der Bühne schwebt. Da zeigt sich wahre Körperbeherrschung und Können. Der Zeppelin ist dabei allerdings nur ein Gerüst bzw. das Skelett eines Luftschiffs und scheint mal leicht, mal schwer. Ein Gerippe, ein Käfig, Schutz und Bedrohung zugleich. Auch diese Produktion ist wie alle Stücke von Fritsch vor allem Augen- und Ohrenweide - Hauptsache die Zuschauer*innen haben Spaß. Einer der Höhepunkte: Am Ende stehen sie auf den Sprossen im Zeppelin, es pendelt gefühlte zehn Minuten aus. Geklatscht werden darf erst, wenn es still steht. Das muss man aushalten da unten im Zuschauerraum.
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Balanceakt im Zeppelin: Florian Anderer, Ruth Rosenfeld, Bastian Reiber, Jule Böwe, Carol Schuler, Axel Wandtke, Alina Stiegler (Foto: Thomas Aurin) |
Regie und Bühne: Herbert Fritsch
Kostüme: Victoria Behr
Musik: Ingo Günther
Dramaturgie: Bettina Ehrlich
Licht: Torsten König
Mit: Florian Anderer, Jule Böwe, Werner Eng, Ingo Günther, Bastian Reiber, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler, Alina Stiegler, Axel Wandtke
Essay zum Stück in Pearson's Preview: »Kein Piña Colada«. Herbert Fritsch, Volksbühnen-Vertriebene und ein riesiges Luftschiff
24.09. PREMIERE Rückkehr nach Reims nach Didier Eribon in einer Fassung der Schaubühne
Regie: Thomas Ostermeier
Nach der Uraufführung in englischer Sprache beim Manchester International Festival (MIF) im Juli - hier habe ich darüber berichtet - folgte nun die deutschsprachige Erstaufführung von "Rückkehr nach Reims" nach dem Buch von Didier Eribon. Die Premiere wurde extra auf den Sonntag der Bundestagswahl gelegt, um (wie Ostermeier in verschiedenen Interviews erklärte), sich damit auseinandersetzen zu müssen, warum es die SPD wieder nicht geschafft habe. Wie wir mittlerweile wissen, ist das Ergebnis für sie so schlecht wie nie ausgefallen. Dafür konnte die AfD erschreckend viele Wähler*innen gewinnen.
Die Rollen von Bush Moukarzel und Ali Gadema übernehmen in der deutschen Fassung Hans-Jochen Wagner und Renato Schuch. Für mich hat das Stück in meiner Muttersprache und durch die unterschiedliche Besetzung eine andere Stimmung erhalten. Insbesonder die Rolle des Regisseurs (Wagner) bekommt einen anderen Aspekt. Während Bush Moukarzel witziger oder ironischer wirkt, kommt H.-J. Wagner arroganter rüber. Nina Hoss' langer, ruhiger Bericht über das Leben ihres Vaters Willi Hoss wirkt auf mich in der deutschen Fassung weniger "angeheftet". Auch wenn Nina Hoss im ersten Teil des Stücks noch die Schauspielerin Katrin ist und erst im letzten Drittel sie selbst wird, ist sie für mich doch immer Nina Hoss. Und in H.-J. Wagner erkennte man Thomas Ostermeier zumindest optisch, denn er trägt Hose, Pullover und Reebok-Turnschuhe, die quasi zu Ostermeiers Signature Look gehören.
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Nina Hoss als Katrin und Hans-Jochen Wagner als Regisseur diskutieren (Foto: Arno Declair) |
Im November wird "Rückkehr nach Reims" / "Returning to Reims" auch fünf mal in der englischen Originalbesetzung gezeigt:
22. und 25.-28.11.2017 (hierfür sind noch Tickets erhältlich).
Regie: Thomas Ostermeier
Bühne und Kostüme: Nina Wetzel
Film: Sébastien Dupouey, Thomas Ostermeier
Kamera: Markus Lenz, Sébastien Dupouey
Ton: Peter Carstens
Musik: Nils Ostendorf
Sounddesign: Jochen Jezussek
Dramaturgie: Florian Borchmeyer, Maja Zade
Licht: Erich Schneider
Mit: Nina Hoss
Mit: Bush Moukarzel / Hans-Jochen Wagner
Mit: Ali Gadema / Renato Schuch
8. September 2017
Don't miss: "Acceso" von Roberto Farías und Pablo Larraín im September noch mal an der Schaubühne
Beim diesjährigen Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) an der Schaubühne wurde das beeindruckende Ein-Mann-Stück "Acceso" von Roberto Farías und Pablo Larraín gezeigt.
Es handelt sich um ein Bühnen-Folgeprojekt von Pablo Larraíns Film "El Club", der 2015 bei der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. Zusammen mit dem Schauspieler Roberto Farías, der bereits im Film die Figur des Paria Sandokan spielte, hat Larraín einen schonungslos offenen Monolog entwickelt.
Im Film stehen die Täter im Fokus, das Stück konzentriert sich auf die Opfer von sexuellem Missbrauch und entwirft eine unerbittliche Anklage gegen das korrupte System in Chile.
Für alle, die während des FIND nicht die Möglichkeit hatten (die beiden Abende waren schnell ausverkauft), dieses Stück zu sehen, bei denen einem der Schauspieler in jeder Hinsicht Nahe kommt, gibt es jetzt an drei Abenden in der Schaubühne noch einmal die Möglichkeit.
Für den 15., 16. und 17. September 2017 gibt es hier noch Karten.
Hier mein Bericht zum Stück beim FIND.
Es handelt sich um ein Bühnen-Folgeprojekt von Pablo Larraíns Film "El Club", der 2015 bei der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. Zusammen mit dem Schauspieler Roberto Farías, der bereits im Film die Figur des Paria Sandokan spielte, hat Larraín einen schonungslos offenen Monolog entwickelt.
Im Film stehen die Täter im Fokus, das Stück konzentriert sich auf die Opfer von sexuellem Missbrauch und entwirft eine unerbittliche Anklage gegen das korrupte System in Chile.
Für alle, die während des FIND nicht die Möglichkeit hatten (die beiden Abende waren schnell ausverkauft), dieses Stück zu sehen, bei denen einem der Schauspieler in jeder Hinsicht Nahe kommt, gibt es jetzt an drei Abenden in der Schaubühne noch einmal die Möglichkeit.
Für den 15., 16. und 17. September 2017 gibt es hier noch Karten.
Hier mein Bericht zum Stück beim FIND.
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Roberto Farías als Sandokan in "Acceso", Regie: Pablo Larraín (Foto: Sergio Armstrong) |
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FIND,
Gastspiel,
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Roberto Farías,
Schaubühne
28. August 2017
Petition: Freiheit für Kirill Serebrennikov / Free Kirill Serebrennikov
Thomas Ostermeier und Marius von Mayenburg haben eine Petition gestartet, um gegen die Verhaftung des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov zu protestieren.
Serebrennikow steht unter Hausarrest und wird beschuldigt, staatliche Gelder veruntreut zu haben. Er darf bis zum Prozess keine Theater besuchen, keine Filme drehen und keinen Kontakt zu Medien aufnehmen. Diese Art der Vorverurteilung und Kontaktsperre ist untragbar. Es drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft.
Die Petition richtet sich an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel sowie Wladimir Putin und die Russische Staatsanwaltschaft.
Der Text der Petition in deutsch und englisch:
Wir protestieren gegen die Verhaftung von Kirill Serebrennikov. Die Vorwürfe gegen ihn sind unhaltbar und lassen erkennen, dass hier ein international renommierter Regisseur mundtot gemacht werden soll.
Serebrennikov wird vorgeworfen, Gelder mittels einer nie stattgefundenen Inszenierung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ veruntreut zu haben. Videoaufnahmen, Rezensionen, Zuschauerberichte auf Facebook, Gastspiele in Riga und Paris, eine Nominierung für den Russischen Nationaltheaterpreis „Golden Mask“ und nicht zuletzt der Spielplan des Gogol Center in Moskau beweisen, dass dieser Vorwurf absurd ist. Dennoch drohen Serebrennikov eine Verurteilung und bis zu zehn Jahre Gefängnis.
Unverhältnismäßig ist auch der Hausarrest, der bis Prozessbeginn über ihn verhängt wurde. Serebrennikov muss eine Fußfessel tragen, darf Internet und Email nicht nutzen und nur nahe Familienangehörige empfangen. Das bedeutet nichts anderes als Kontaktsperre, Vorverurteilung und Arbeitsverbot für einen der berühmtesten russischen Gegenwartskünstler.
Wir fordern die russische Staatsanwaltschaft auf, die Strafverfolgung gegen Kirill Serebrennikov einzustellen und die fadenscheinigen Vorwürfe gegen ihn fallenzulassen.
An unsere Regierungsvertreter richten wir den Appell, aufs Schärfste darauf zu drängen, dass Serebrennikov nicht als Opfer eines politisch motivierten Rufmords im Gefängnis landet.
+++
We protest against the arrest of Kirill Serebrennikov. The charges against him are untenable and indicative of the fact that the intention is to silence an internationally renowned director.
Serebrennikov stands accused of having embezzled government funds for a production of Shakespeare’s „A Midsummer Night’s Dream“ that allegedly never took place. Video recordings, reviews, Facebook entries by audience members, tours to Riga and Paris, a nomination for the Russian national theatre award „Golden Mask“ and, last but not least, the programme of the Gogol Center in Moscow prove that this charge is absurd. And yet Serebrennikov stands in danger of being convicted and of receiving a prison sentence of up to ten years.
Just as disproportionate is the house arrest he has been placed under until the trial. Serebrennikov has to wear an ankle monitor, isn’t allowed to use the Internet or write emails and is only permitted to see close family members. This is in effect a communication ban, a prejudgement and a prohibition to work for one of the most famous contemporary Russian artists.
We ask the Russian public prosecution office to stop the criminal prosecution of Kirill Serebrennikov and to drop the flimsy accusations against him.
We urgently appeal to our government representatives to ensure that Serebrennikov doesn’t become the victim of a politically motivated defamation of character and doesn’t end up in prison.
Erstunterzeichnende / Initial signers:
1. Maren Ade (film director)
2. Benedict Andrews (theatre and film director)
3. Josef Bierbichler (actor / author)
4. Cate Blanchett (actress)
5. Andrea Breth (theatre director)
6. Sophie Calle (artist)
7. Teodor Currentzis (conductor)
8. Lars Eidinger (actor)
9. Carolin Emcke (author / publicist)
10. Kristín Eysteinsdóttir (artistic director Reykjavik City Theatre)
11. Jürgen Flimm (artistic director Staatsoper unter den Linden)
12. Herbert Fritsch (theatre director)
13. David Harrower (author)
14. Nina Hoss (actress)
15. Elfriede Jelinek (author)
16. Vladimir Jurowski (conductor)
17. Ulrich Khuon (artistic director Deutsches Theater Berlin / president of german theatre association)
18. Barrie Kosky (artistic director Komische Oper Berlin)
19. David Lan (artistic director Young Vic London)
20. Igor Levit (pianist)
21. Joachim Lux (artistic director Thalia Theater Hamburg / president of International Theatre Institut Germany)
22. Ari Mattthíassin (artisitic director National Theatre of Iceland)
23. Marius von Mayenburg (author / theatre director)
24. Simon McBurney (theatre director / actor)
25. Sergio Moabito (dramaturg)
26. Sergej Newski (composer)
27. Thomas Ostermeier (artistic director Schaubühne Berlin and president of the Franco-German council)
28. Milo Rau (theatre director / author)
29. Mark Ravenhill (author)
30. Falk Richter (author / theatre director)
31. Julian Rosefeldt (video artist)
32. Volker Schlöndorff (film director)
33. Danis Tanović (film director)
34. Enda Walsh (author)
35. Jossi Wieler (artistic director Oper Stuttgart)
Hier mitzeichnen!
Serebrennikow steht unter Hausarrest und wird beschuldigt, staatliche Gelder veruntreut zu haben. Er darf bis zum Prozess keine Theater besuchen, keine Filme drehen und keinen Kontakt zu Medien aufnehmen. Diese Art der Vorverurteilung und Kontaktsperre ist untragbar. Es drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft.
Die Petition richtet sich an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel sowie Wladimir Putin und die Russische Staatsanwaltschaft.
Der Text der Petition in deutsch und englisch:
Wir protestieren gegen die Verhaftung von Kirill Serebrennikov. Die Vorwürfe gegen ihn sind unhaltbar und lassen erkennen, dass hier ein international renommierter Regisseur mundtot gemacht werden soll.
Serebrennikov wird vorgeworfen, Gelder mittels einer nie stattgefundenen Inszenierung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ veruntreut zu haben. Videoaufnahmen, Rezensionen, Zuschauerberichte auf Facebook, Gastspiele in Riga und Paris, eine Nominierung für den Russischen Nationaltheaterpreis „Golden Mask“ und nicht zuletzt der Spielplan des Gogol Center in Moskau beweisen, dass dieser Vorwurf absurd ist. Dennoch drohen Serebrennikov eine Verurteilung und bis zu zehn Jahre Gefängnis.
Unverhältnismäßig ist auch der Hausarrest, der bis Prozessbeginn über ihn verhängt wurde. Serebrennikov muss eine Fußfessel tragen, darf Internet und Email nicht nutzen und nur nahe Familienangehörige empfangen. Das bedeutet nichts anderes als Kontaktsperre, Vorverurteilung und Arbeitsverbot für einen der berühmtesten russischen Gegenwartskünstler.
Wir fordern die russische Staatsanwaltschaft auf, die Strafverfolgung gegen Kirill Serebrennikov einzustellen und die fadenscheinigen Vorwürfe gegen ihn fallenzulassen.
An unsere Regierungsvertreter richten wir den Appell, aufs Schärfste darauf zu drängen, dass Serebrennikov nicht als Opfer eines politisch motivierten Rufmords im Gefängnis landet.
+++
We protest against the arrest of Kirill Serebrennikov. The charges against him are untenable and indicative of the fact that the intention is to silence an internationally renowned director.
Serebrennikov stands accused of having embezzled government funds for a production of Shakespeare’s „A Midsummer Night’s Dream“ that allegedly never took place. Video recordings, reviews, Facebook entries by audience members, tours to Riga and Paris, a nomination for the Russian national theatre award „Golden Mask“ and, last but not least, the programme of the Gogol Center in Moscow prove that this charge is absurd. And yet Serebrennikov stands in danger of being convicted and of receiving a prison sentence of up to ten years.
Just as disproportionate is the house arrest he has been placed under until the trial. Serebrennikov has to wear an ankle monitor, isn’t allowed to use the Internet or write emails and is only permitted to see close family members. This is in effect a communication ban, a prejudgement and a prohibition to work for one of the most famous contemporary Russian artists.
We ask the Russian public prosecution office to stop the criminal prosecution of Kirill Serebrennikov and to drop the flimsy accusations against him.
We urgently appeal to our government representatives to ensure that Serebrennikov doesn’t become the victim of a politically motivated defamation of character and doesn’t end up in prison.
Erstunterzeichnende / Initial signers:
1. Maren Ade (film director)
2. Benedict Andrews (theatre and film director)
3. Josef Bierbichler (actor / author)
4. Cate Blanchett (actress)
5. Andrea Breth (theatre director)
6. Sophie Calle (artist)
7. Teodor Currentzis (conductor)
8. Lars Eidinger (actor)
9. Carolin Emcke (author / publicist)
10. Kristín Eysteinsdóttir (artistic director Reykjavik City Theatre)
11. Jürgen Flimm (artistic director Staatsoper unter den Linden)
12. Herbert Fritsch (theatre director)
13. David Harrower (author)
14. Nina Hoss (actress)
15. Elfriede Jelinek (author)
16. Vladimir Jurowski (conductor)
17. Ulrich Khuon (artistic director Deutsches Theater Berlin / president of german theatre association)
18. Barrie Kosky (artistic director Komische Oper Berlin)
19. David Lan (artistic director Young Vic London)
20. Igor Levit (pianist)
21. Joachim Lux (artistic director Thalia Theater Hamburg / president of International Theatre Institut Germany)
22. Ari Mattthíassin (artisitic director National Theatre of Iceland)
23. Marius von Mayenburg (author / theatre director)
24. Simon McBurney (theatre director / actor)
25. Sergio Moabito (dramaturg)
26. Sergej Newski (composer)
27. Thomas Ostermeier (artistic director Schaubühne Berlin and president of the Franco-German council)
28. Milo Rau (theatre director / author)
29. Mark Ravenhill (author)
30. Falk Richter (author / theatre director)
31. Julian Rosefeldt (video artist)
32. Volker Schlöndorff (film director)
33. Danis Tanović (film director)
34. Enda Walsh (author)
35. Jossi Wieler (artistic director Oper Stuttgart)
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