1. November 2017

General Assembly und Sturm auf den Reichstag (IIPM / Milo Rau)

Demokratie für alle und alles.

Vom 3. bis 5. November 2017 versam­meln sich 60 Abgeordnete der General Assembly aus der ganzen Welt, um zu verhandeln, wo wir als Weltgemeinschaft stehen. Soziale, ökologische, technologische und politische Fragen werden im Rahmen dieses ersten "Weltparlaments" der Menschheitsgeschichte gestellt, begleitet von einer Gruppe internationaler politischer Beobachter*innen.

Was sind die Forderungen des globalen "Dritten Standes"? Dies wird in der sogenannten "Charta für das 21. Jahrhundert“ verabschiedet.

Den Abschluss bildet am 7. November der „Sturm auf den Reichstag“ (ein Reenactement des "Sturms auf den Winterpalast vor 100 Jahren). Dieses zukunftweisende Symbol soll den Weg für den notwendigen politischen Umbruch, für globale Demokratie und internationale Solidarität im 21. Jahrhundert schaffen.

Wer etwas dazu beitragen möchte, sollte dabei sein und um 15 Uhr auf die Wiese vor dem Reichstag kommen.

Für die General Assembly gibt es noch Tickets für die 4. Plenarsitzung (Cultural Global Commons) am 5.11.2017, 10 - 13 Uhr.

Weitere Informationen (z.B. Tagesordnung, Abgeordnete) und Livestream der Plenarsitzungen in deutsch, englisch und französisch auf www.general-assembly.net.

3. Oktober 2017

Rückblick September 2017: Spielzeitbeginn - Fritsch erstmals auf der Schaubühne - "Rückkehr nach Reims" jetzt auch in der deutschen Fassung

Die theaterfreie Zeit ist vorbei - die Spielzeit 2017/18 hat begonnen. Und hier kommt der erste Monatsrückblick.


08.09.2017 Gastspiel Acceso von Roberto Farías und Pablo Larraín (Schaubühne)

Dieses Ein-Mann-Stück von Roberto Farías und Pablo Larraín wurde im Rahmen des Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) 2017 erstmals an der Schaubühne gezeigt. Aufgrund der großen Nachfrage lud die Schaubühne die Produktion aus Chile noch einmal für drei Vorstellungen ein. Beim zweiten mal war es nicht weniger berührend und nachhaltig beeindruckend.

Hier habe ich während des FIND 2017 darüber berichtet.

"Acceso" von Roberto Farías und Pablo Larraín, Regie: Pablo Larraín (Foto: Sergio Armstrong)


17.09.2017 Brunch der Freunde der Schaubühne e.V.

Mittlerweile können wir über 1.000 Mitglieder verzeichnen. Kein Wunder also, dass bei unserem diesjähringen Brunch zur Spielzeiteröffnung über 120 Freundinnen und Freunde anwesend waren. Wer Interesse an einer Mitgliedschaft hat, findet hier entsprechende Infos. Wir bieten neben Künstler*innen-Treffen auch Führungen hinter die Kulissen, Reisen und gemeinsame Feiern an. Mit unseren Mitteln fördern wir diverse Projekte der Schaubühne.


19.09.2017 PREMIERE Zeppelin von Herbert Fritsch frei nach Texten von Ödön von Horvàth  (Schaubühne)

Es ist soweit. Herbert Fritsch ist mit seinen Schauspieler*innen (Florian Anderer, Werner Eng, Bastian Reiber, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler, Axel Wandtke) und dem Musiker Ingo Günther an der Schaubühne angekommen. Für seine erste Produktion holt er sich Jule Böwe und Alina Stiegler aus dem bisherigen Ensemble dazu. In Zeppelin bedient sich Fritsch diverser Texte von Horváth und mischt diese fröhlich durcheinander. Der Satz "Irgendwann werden sie das alles verstehen" ist fast schon Programm und natürlich auch sehr selbtreferenziell ironisch. Denn Fritsch geht es gar nicht darum, dass alles immer einen Sinn ergibt. Was zählt ist die Freude an den Worten, die von der Fritsch-Truppe gesprochen, gerufen, gesungen werden. Große Augen, Grimassen, turnerische Darbietung. Sie hängen, klammern und klettern im Zeppelin. Immer wieder der Balanceakt auf, in und unter dem Ding, das über der Bühne schwebt. Da zeigt sich wahre Körperbeherrschung und Können. Der Zeppelin ist dabei allerdings nur ein Gerüst bzw. das Skelett eines Luftschiffs und scheint mal leicht, mal schwer. Ein Gerippe, ein Käfig, Schutz und Bedrohung zugleich. Auch diese Produktion ist wie alle Stücke von Fritsch vor allem Augen- und Ohrenweide - Hauptsache die Zuschauer*innen haben Spaß. Einer der Höhepunkte: Am Ende stehen sie auf den Sprossen im Zeppelin, es pendelt gefühlte zehn Minuten aus. Geklatscht werden darf erst, wenn es still steht. Das muss man aushalten da unten im Zuschauerraum.

Balanceakt im Zeppelin: Florian Anderer, Ruth Rosenfeld, Bastian Reiber, Jule Böwe, Carol Schuler, Axel Wandtke, Alina Stiegler (Foto: Thomas Aurin)

Regie und Bühne: Herbert Fritsch   
Kostüme: Victoria Behr   
Musik: Ingo Günther   
Dramaturgie: Bettina Ehrlich   
Licht: Torsten König   

Mit: Florian Anderer, Jule Böwe, Werner Eng, Ingo Günther, Bastian Reiber, Ruth Rosenfeld, Carol Schuler, Alina Stiegler, Axel Wandtke 

Essay zum Stück in Pearson's Preview:  »Kein Piña Colada«. Herbert Fritsch, Volksbühnen-Vertriebene und ein riesiges Luftschiff


24.09. PREMIERE Rückkehr nach Reims nach Didier Eribon in einer Fassung der Schaubühne
Regie: Thomas Ostermeier

Nach der Uraufführung in englischer Sprache beim Manchester International Festival (MIF) im Juli - hier habe ich darüber berichtet - folgte nun die deutschsprachige Erstaufführung von "Rückkehr nach Reims" nach dem Buch von Didier Eribon. Die Premiere wurde extra auf den Sonntag der Bundestagswahl gelegt, um (wie Ostermeier in verschiedenen Interviews erklärte), sich damit auseinandersetzen zu müssen, warum es die SPD wieder nicht geschafft habe. Wie wir mittlerweile wissen, ist das Ergebnis für sie so schlecht wie nie ausgefallen. Dafür konnte die AfD erschreckend viele Wähler*innen gewinnen.

Die Rollen von Bush Moukarzel und Ali Gadema übernehmen in der deutschen Fassung Hans-Jochen Wagner und Renato Schuch. Für mich hat das Stück in meiner Muttersprache und durch die unterschiedliche Besetzung eine andere Stimmung erhalten. Insbesonder die Rolle des Regisseurs (Wagner) bekommt einen anderen Aspekt. Während Bush Moukarzel witziger oder ironischer wirkt, kommt H.-J. Wagner arroganter rüber. Nina Hoss' langer, ruhiger Bericht über das Leben ihres Vaters Willi Hoss wirkt auf mich in der deutschen Fassung weniger "angeheftet". Auch wenn Nina Hoss im ersten Teil des Stücks noch die Schauspielerin Katrin ist und erst im letzten Drittel sie selbst wird, ist sie für mich doch immer Nina Hoss. Und in H.-J. Wagner erkennte man Thomas Ostermeier zumindest optisch, denn er trägt Hose, Pullover und Reebok-Turnschuhe, die quasi zu Ostermeiers Signature Look gehören.

Nina Hoss als Katrin und Hans-Jochen Wagner als Regisseur diskutieren (Foto: Arno Declair)


Im November wird "Rückkehr nach Reims" / "Returning to Reims" auch fünf mal in der englischen Originalbesetzung gezeigt:
22. und 25.-28.11.2017 (hierfür sind noch Tickets erhältlich).

Regie: Thomas Ostermeier   
Bühne und Kostüme: Nina Wetzel   
Film: Sébastien Dupouey, Thomas Ostermeier   
Kamera: Markus Lenz, Sébastien Dupouey   
Ton: Peter Carstens
Musik: Nils Ostendorf   
Sounddesign: Jochen Jezussek
Dramaturgie: Florian Borchmeyer, Maja Zade   
Licht: Erich Schneider   

Mit: Nina Hoss   
Mit: Bush Moukarzel / Hans-Jochen Wagner   
Mit: Ali Gadema / Renato Schuch

8. September 2017

Don't miss: "Acceso" von Roberto Farías und Pablo Larraín im September noch mal an der Schaubühne

Beim diesjährigen Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) an der Schaubühne wurde das beeindruckende Ein-Mann-Stück "Acceso" von Roberto Farías und Pablo Larraín gezeigt.

Es handelt sich um ein Bühnen-Folgeprojekt von Pablo Larraíns Film "El Club", der 2015 bei der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. Zusammen mit dem Schauspieler Roberto Farías, der bereits im Film die Figur des Paria Sandokan spielte, hat Larraín einen schonungslos offenen Monolog entwickelt.

Im Film stehen die Täter im Fokus, das Stück konzentriert sich auf die Opfer von sexuellem Missbrauch und entwirft eine unerbittliche Anklage gegen das korrupte System in Chile.

Für alle, die während des FIND nicht die Möglichkeit hatten (die beiden Abende waren schnell ausverkauft), dieses Stück zu sehen, bei denen einem der Schauspieler in jeder Hinsicht Nahe kommt, gibt es jetzt an drei Abenden in der Schaubühne noch einmal die Möglichkeit.

Für den 15., 16. und 17. September 2017 gibt es hier noch Karten.

Hier mein Bericht zum Stück beim FIND.


Roberto Farías als Sandokan in "Acceso", Regie: Pablo Larraín (Foto: Sergio Armstrong)





28. August 2017

Petition: Freiheit für Kirill Serebrennikov / Free Kirill Serebrennikov

Thomas Ostermeier und Marius von Mayenburg haben eine Petition gestartet, um gegen die Verhaftung des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov zu protestieren.

Serebrennikow steht unter Hausarrest und wird beschuldigt, staatliche Gelder veruntreut zu haben. Er darf bis zum Prozess keine Theater besuchen, keine Filme drehen und keinen Kontakt zu Medien aufnehmen. Diese Art der Vorverurteilung und Kontaktsperre ist untragbar. Es drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft.

Die Petition richtet sich an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Sigmar Gabriel sowie Wladimir Putin und die Russische Staatsanwaltschaft.

Der Text der Petition in deutsch und englisch:

Wir protestieren gegen die Verhaftung von Kirill Serebrennikov. Die Vorwürfe gegen ihn sind unhaltbar und lassen erkennen, dass hier ein international renommierter Regisseur mundtot gemacht werden soll.

Serebrennikov wird vorgeworfen, Gelder mittels einer nie stattgefundenen Inszenierung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ veruntreut zu haben. Videoaufnahmen, Rezensionen, Zuschauerberichte auf Facebook, Gastspiele in Riga und Paris, eine Nominierung für den Russischen Nationaltheaterpreis „Golden Mask“ und nicht zuletzt der Spielplan des Gogol Center in Moskau beweisen, dass dieser Vorwurf absurd ist. Dennoch drohen Serebrennikov eine Verurteilung und bis zu zehn Jahre Gefängnis.

Unverhältnismäßig ist auch der Hausarrest, der bis Prozessbeginn über ihn verhängt wurde. Serebrennikov muss eine Fußfessel tragen, darf Internet und Email nicht nutzen und nur nahe Familienangehörige empfangen. Das bedeutet nichts anderes als Kontaktsperre, Vorverurteilung und Arbeitsverbot für einen der berühmtesten russischen Gegenwartskünstler.

Wir fordern die russische Staatsanwaltschaft auf, die Strafverfolgung gegen Kirill Serebrennikov einzustellen und die fadenscheinigen Vorwürfe gegen ihn fallenzulassen.

An unsere Regierungsvertreter richten wir den Appell, aufs Schärfste darauf zu drängen, dass Serebrennikov nicht als Opfer eines politisch motivierten Rufmords im Gefängnis landet.


+++

We protest against the arrest of Kirill Serebrennikov. The charges against him are untenable and indicative of the fact that the intention is to silence an internationally renowned director.

Serebrennikov stands accused of having embezzled government funds for a production of Shakespeare’s „A Midsummer Night’s Dream“ that allegedly never took place. Video recordings, reviews, Facebook entries by audience members, tours to Riga and Paris, a nomination for the Russian national theatre award „Golden Mask“ and, last but not least, the programme of the Gogol Center in Moscow prove that this charge is absurd. And yet Serebrennikov stands in danger of being convicted and of receiving a prison sentence of up to ten years.

Just as disproportionate is the house arrest he has been placed under until the trial. Serebrennikov has to wear an ankle monitor, isn’t allowed to use the Internet or write emails and is only permitted to see close family members. This is in effect a communication ban, a prejudgement and a prohibition to work for one of the most famous contemporary Russian artists.

We ask the Russian public prosecution office to stop the criminal prosecution of Kirill Serebrennikov and to drop the flimsy accusations against him.

We urgently appeal to our government representatives to ensure that Serebrennikov doesn’t become the victim of a politically motivated defamation of character and doesn’t end up in prison.



Erstunterzeichnende / Initial signers:


1.    Maren Ade (film director)

2.    Benedict Andrews (theatre and film director)

3.    Josef Bierbichler (actor / author)

4.    Cate Blanchett (actress)

5.    Andrea Breth (theatre director)

6.    Sophie Calle (artist)

7.    Teodor Currentzis (conductor)

8.    Lars Eidinger (actor)

9.    Carolin Emcke (author / publicist)

10.  Kristín Eysteinsdóttir (artistic director Reykjavik City Theatre)

11.  Jürgen Flimm (artistic director Staatsoper unter den Linden)

12.  Herbert Fritsch (theatre director)

13.  David Harrower (author)

14.  Nina Hoss (actress)

15. Elfriede Jelinek (author)

16.  Vladimir Jurowski (conductor)

17.  Ulrich Khuon (artistic director Deutsches Theater Berlin / president of german theatre association)

18.  Barrie Kosky (artistic director Komische Oper Berlin)

19.  David Lan (artistic director Young Vic London)

20.  Igor Levit (pianist)

21.  Joachim Lux (artistic director Thalia Theater Hamburg / president of International Theatre Institut Germany)

22.  Ari Mattthíassin (artisitic director National Theatre of Iceland)

23.  Marius von Mayenburg (author / theatre director)

24.  Simon McBurney (theatre director / actor)

25.  Sergio Moabito (dramaturg)

26.  Sergej Newski (composer)

27.  Thomas Ostermeier (artistic director Schaubühne Berlin and president of the Franco-German council)

28.  Milo Rau (theatre director / author)

29.  Mark Ravenhill (author)

30.  Falk Richter (author / theatre director)

31.  Julian Rosefeldt (video artist)

32.  Volker Schlöndorff (film director)

33.  Danis Tanović (film director)

34.  Enda Walsh (author)

35.  Jossi Wieler (artistic director Oper Stuttgart)

Hier mitzeichnen!

4. August 2017

Rückblick Juni & Juli 2017: Abschiede und Wiederkehr

Es sind wieder Theaterferien! Daher kommt hier der letzte Rückblick der Spielzeit 2016/2717. Über welche Themen ich in der Sommerpause schreiben werde, ist noch nicht ganz klar. 


JUNI
03.06.2017 PREMIERE Peng von Marius von Mayenburg (Schaubühne)

06.06.2017 re-vistied  Peng 

Als Donald Trump im November des letzten Jahres zum Präsidenten der USA gewählt wurde, hatte Marius von Mayenburg endgültig genug von den Macho-Männern. Erdogan, Putin, Orbán, Kaczynski - es ist eine lange Reihe dieser "Anführer", die ihn dazu veranlassten, die Figur Peng zu erfinden und ein Stück darüber zu schreiben. Verkörpert wird dieser Peng echt fies und unsympatisch von Sebastian Schwar - er ist einer der Stammschauspieler*innen von M.v. Mayenburg. Im Stück ist er das Kind eines Prenzlauer-Berg Paares. Moral und Anstand sind ihm vollkommen egal, wenn es darum geht an sein Ziel zu kommen. Er verdreht jedem die Worte im Mund, macht Opfer zu Tätern und ist so rücksichtslos, dass man sich einfach nur angewidert abwenden kann. Er wütet, ätzt und schießt jedoch so ungehemmt gegen jede*n der*die sich ihm in den Weg stellt, dass wegschauen, keine Lösung sein kann. Was macht macht, um so jemanden nicht groß werden zu lassen? Diese Frage stellt man sich verzweifelt beim Ansehen des Stück und überträgt sie sogleich in die Realität, in der Trump & Co. einfach immer so weiter machen (dürfen). Kopfschütteln hilft da nicht weiter. Wut, Verzweiflung, Machtlosigkeit macht sich bemerkbar. Es kann doch nicht sein, dass so einer bestimmt, wie und wo es langgeht. Peng ist auch ein Stück, das zur Auseinanderetzung mit der eigenen Haltung zum derzeitigen Weltgeschehen anregt. Der Griff zur Waffe ist keine Lösung. Im Stück dargestellt durch Eva Meckbach als Ärztin, die die Männer pauschal für die Greueltaten verantwortlich macht. Das wird hier übersitzt, aber ein Fünckchen Wahrheit ist doch dabei... Peng ist brutal, extrem unangenehm und stellenweise überzogen, aber in der Übertreibung liegt wie immer die Veranschaulichung.

Damir Avdic und Sebastian Schwarz (Foto: Arno Declair)

Es wird vornehmlich vor einem Green Screen gespielt, damit die erfundene Realität künstlich auf die Leinwand projiziert werden kann. Wir wissen ja auch nicht, was echt ist und was inszeniert - im Theater, in der Politik und im Weltgeschehen. Alles ist nur ein Spiel mit unserer Wahrnehmnung und Voruteilen, oder?

Regie: Marius von Mayenburg   
Bühne und Kostüme: Nina Wetzel  
Video: Sébastien Dupouey   
Dramaturgie: Maja Zade   

Mit: Damir Avdic, Robert Beyer, Marie Burchard, Eva Meckbach, Sebastian Schwarz, Lukas Turtur

Essay zum Stück in Pearson's Preview: Theater sollte uns nicht in Sicherheit wiegen 


09.06.17 Gift von Lot Vekemans (Deutsches Theater)

Ein Paar (Dagmar Manzel und Ulrich Matthes), schon länger getrennt, trifft sich im Warteraum eines Friedhofs. Der verstorbene Sohn soll umgebetet werden. Stochern in der Vergangenheit, alte Wunden, Vorwürfe, Trauer, Wut, Unverständnis, Härte, aber auch Zärtlichkeit und Annäherung bestimmen das Treffen während des knapp anderthalbstündigen Stückes. So "echt" gespielt und oft am Rande des Erträglichen liebt und hasst man abwechselnd die beiden Figuren auf der Bühne wie sie es selbst tun. Echte Tränen? Das Leid und das Leiden - man möchte wegsehen und weghören und muss doch immer weiter verfolgen, was die beiden sich da oben gegenseitig antun. Die Beziehung ist vergiftet und das Gift lässt sich nicht mehr entfernen. Weitergehen kann es nur ohneeinander.

Dagmar Manzel wurde 2014 für ihre Rolle "Sie" mit dem Deutschen Theaterpreis 'Der Faust' ausgezeichnet.

Regie: Christian Schwochow
Bühne: Anne Ehrlich
Kostüme: Pauline Hüners
Dramaturgie: John von Düffel

Gift von Lot Vekemans ist auch als eBook erschienen. Über die Website www.textbuehne.eu können Sie das Theaterstück in diversen Online-Shops bestellen.


10.06.17 Authentizität! Lesung und Gespräch (Schaubühne)

Von "Exzentrikern, Spielverderbern und Dealern" - so der Untertitel des neuen Buches von Wolfgang Engler, Rektor der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Im Gespräch mit Thomas Ostermeier wird hinterfragt, wie erstrebenswert es heute ist, authentisch zu sein. Authentizität - ein Begriff der auch häufig missverstanden und mit "natürlich" verwechselt wird. Verstellung im Alltag und auf der Bühne muss nicht zwangsläufig falsch und der gesellschaftliche Rahmen kann für das Streben nach Authentizität förderlich oder hinderlich sein.



Erschienen im Verlag Theater der Zeit.


14.06.17 Autorentheatertage: Point of no return von Yael Ronen (Deutsches Theater)

Zur Eröffnungn der Autorentheatertage wurde Yael Ronens "Point of no Return" gezeigt. Der Amoklauf in München im Sommer 2016, ein vermeintlicher Terroranschlag, wurde von den Schauspieler*innen, die Yael Ronen auftreten lässt, ganz unterschiedlich wahrgenommen. Wo warst du, was hast du gemacht als es passierte? Das ist wichtig und dass es nicht Berlin als erstes traf. "Je suis Munich." Eigentlich wollteYael Ronen in ihrem neuen Stück das Thema Sex in Zeiten von Dating-Apps thematisieren, doch während der Proben geschah der Amoklauf und "Point of no return" wurde ganz anders für allen Beteiligten. Die Angst vor dem Terror überlagerte plötzlich alles, der Point of no return wird zu einem anderen Bewusstsein.

Inszenierung: Yael Ronen Bühne: Wolfgang Menardi
Kostüme: Amit Epstein

Mit Niels Bormann, Dejan Bućin, Jelena Kuljić, Wiebke Puls, Damian Rebgetz.


16.06.17 PREMIERE Auszeit (Schaubühne)
Ein Projekt der Polyrealist_innen

Wer will ich sein und wie sollte mein Leben aussehen? Im neuem Projekt der Polyrealist_innen beschäftigen sich 15 Spieler`*innen mit der Frage, was sie sein und wie sei leben wollen. Die Wünsche und Sehnsüchte sind dabei sehr unterschiedlich. Die Mitglieder der Theatergruppe zwischen 21 und 73 stellen sich dabei nicht ganz einfachen Fragen: "Magst du deine Mutter oder deinen Vater lieber?" oder "Würdest du lieber ertrinken oder verbrennen wollen?" Das regt auch die Zuschauer*innen zum Nachdenken an und wirkt nach.

Die Polyrealist_innen (Foto: Gianmarco Bresadola)

Leitung: Philipp Rost
Künstlerische Mitarbeit: Sidney Kaufmann   
Bühne: Philipp Richter
Kostüme: Christin Noel
Musik: Lukas Zepf
Dramaturgie: Theresa Schlesinger   

Mit: Robert Akstinat, Susan Amsler-Parsia-Parsi, Josefine Bomba, Jan-Robert Frank, Angelika Kadke, Solveig Kranzmann, Eva Levintova, Claudia Müller-Hoff, Julia Paulisch, Ulrich Pöll, Eva Reuss-Richter, Heike Schalk, André Schneider, Veronika Schulze, Sarah Strebelow


17.06.17 Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter von Christoph Marthaler (Volksbühne)

Mein allerletzte Vorstellung an der Volksbühne. Mal abgesehenvon der in den in den letzten Wochen immerwährenden Abschiedsschmerz-Euphorie und 30 Minuten Applaus und Standing Ovations, war dieses Stück nicht so ganz mein Ding. Auf der Bühne stehen fast alle Schauspieler*innen der legänderen Murx-Inszeneriung vor über 20 Jahren. Wahrscheinlich macht das den Zauber des Stückes aus, das sogar zum Theatertreffen eingeladen wurde. Sie zitieren sich selbst - das kann man natürlich nur dann unterhaltsam finden, wenn man "Murx" gesehen hat. Bekannte Gefühle eben!

Regie: Christoph Marthaler
Bühne & Kostüme: Anna Viebrock

Mit: Hildegard Alex, Tora Augestad, Marc Bodnar, Magne Håvard Brekke, Raphael Clamer, Bendix Dethleffsen, Altea Garrido, Olivia Grigolli, Irm Hermann, Ueli Jäggi, Jürg Kienberger, Sophie Rois, Ulrich Voß.


23.06.17 Autorentheatertage: Kartonage von Yade Yasemin Önder (Deutsches Theater)

Im Rahmen der Autorentheatertage fand die Lange Nacht der Dramatikerinnen statt. Ja, es waren drei Frauen, deren Stücke aus 125 Einsendungen ausgewählt wurden und die Jury (die Journalistin Anke Dürr, die Schauspielerin Annette Paulmann, der Regisseur Jan-Ole Gerster) hatte diese drei ausgewählt, ohne zu wissen, dass es sich um rein weibliche Autorinnen handelte.

Ich sah Kartonage von Yade Yasemin Önder. - Die Eltern sitzen fest in ihren vier Wänden und kochen Marillen ein, bittersüß, selbtgewählte Gefangenschaft im Karton. Die Tochter Rosalie kommt zu Besuch, nach 16 Jahren und erlebt diese Hölle, der sie einst entfloh erneut. Die Vorwürfe der Eltern sind alles, was sie empfängt. Wie wieder rauskommen aus dem Karton, aus dem zähen Familien-Kleinmut? Die Knie werden blutig geschlagen, die Marmelade verklebt alles, kein Verständnis für ein anderes Leben. Die andere Welt bleibt draußen.

Bernd Birkhan als Herr Werner, Petra Morzé als Frau Werner, Irina Sulaver als Rosalie (Foto: Reinhard Werner)

Regie: Franz-Xaver Mayr
Bühne: Michela Flück
Kostüme: Korbinian Schmidt
Video: Sophie Lux
Musik: Levent Pinarci

Frau Werner: Petra Morzé
Herr Werner: Bernd Birkhahn
Rosalie: Irina Sulaver
Ella: Marta Kizyma

Uraufführung am 23. Juni 2017
Koproduktion mit dem Burgtheater Wien



JULI
01.07.17 Abschiedsfeier der Castorf-Volksbühne

Die große Sause nach der letzten Vorstellung an der Volksbühne fand zwar bei strömendem Regen statt, doch haben sich hunderte von Fans auf dem Rosa-Luxemburg-Platz versammelt. Ein Riesenfest mit Musik (die Bands von Alexander Scheer und Daniel Zillmann spielen), eine Mischung aus Euphorie und Wehmut. Das Rad auf der Wiese vor der Volksbühne ist schon weg und auf dem Weg nach Avignon. Und irgendwann ist dann auch die Feier zu Ende. Als Höhepunkt singen Martin Wuttke, Milan Peschel und Frank Catorf begleitet von Shermin Langhoff, Klaus Lederer und vielen ehemaligen Schauspieler*innen der legendären Volksbühne "Für immer und dich" von Rio Reiser. Ein Trost: Viele werden an der Schaubühne und anderen Häusern zu sehen sein - auch wenn das natürlich nicht das gleiche ist.

Party im Regen - (Auf)Wiedersehen mit Volksbühnenlieblingen (Foto: Maren Vergiels)


08.07.17 PREMIERE Returning to Reims von Thomas Ostermeier nach dem Roman von Didier Eribon (MIF  / HOME / Schaubühne)

Lest hier meinen Bericht über die Premiere in Manchster!


15.07.17 re-visited Love hurts in Tinder Timesvon Patrick Wengenroth (Schaubühne)

Ein Besuch der letzten Vorstellung vor der Sommerpause in der Schaubühne ist obligatorisch. Mark Waschke küsst und flirtet wieder mit dem Publikum. Lise Risom Olsen und Andreas Schröders absolvieren ihren letzten Auftritt als Ensemblemitglieder - ein paar Tränen und Blumen für den Abschied sowie Begeisterung für diese tollen Schauspieler*innen.

Lise Risom Olsen und Mark Waschke (Foto: Gianmarco Bresadola)

 Theaterferien! Aber ich freue mich schon auf den Beginn der Spielzeit 2017/18 im September.



13. Juli 2017

Reise zurück, Blick nach vorn: Premiere von "Returning to Reims" in Manchester (MIF / Schaubühne)

Nina Hoss in "Returning to Reims" (Foto: Arno Declair)


Zur Uraufführung von „Rückkehr nach Reims/Returning to Reims“ sind wir nach Manchester gereist. Thomas Ostermeier hat den Bestseller des französischen Soziologen Didier Eribon auf die Bühne gebracht. Im Rahmen des Manchester International Festival (MIF) hatte das Stück am 8. Juli 2017 im HOME (Centre for contemporary theatre, film, art, music) Premiere.


Eine Hommage an den Text von Eribon.

In Interviews hatte Ostermeier erklärt, er habe beim Lesen des Romans immer wieder Parallelen zu seiner eigenen Kindheit und Jugend entdeckt (siehe u.a. Programmheft des MIF zum Stück). In seinem Buch beschreibt Eribon die Arbeiterklasse, aus der er stammt, die schwierigen sozialen Verhältnisse, einen homophoben Vater, sein Loslösung vom Elternhaus und Milieu, den Umzug in die Großstadt und ein intellektuelles Umfeld und wie die ehemals links wählenden Eltern zu Wähler*innen von Marine Le Pens Front National wurden.


Programmheft des MIF zu "Returning to Reims"


Im Stück wird die Reise nach Reims (Eribon kehrt nach dem Tod seines Vaters das erste mal seit seiner Jugend wieder in seine Heimatstadt zurück) durch einen Dokumentarfilm nachgestellt. Nina Hoss spielt eine Schauspielerin, die dazu den Text aus dem Buch einliest. Sie unterbricht ihre Lesung dabei immer wieder, um mit dem Regisseur des Films, gespielt von Bush Moukarzel (künstlerischer Leiter von Dead Centre, deren Produktionen beim FIND 2016 und 2017 zu sehen waren) zu diskutieren, wie man diese Reise in Bildern am besten nachzeichnen kann, welche angebracht sind und passen, welche nicht. Schließlich bringt sie ihre eigene Geschichte bzw. die ihres Vaters ein, der ursprünglich Kommunist war, später die Grünen mitbegründete und am Ende im Amazonas gearbeitet hat. Somit wird dem Bild, das Eribon von seiner Familie und seinem Aufwachsen zeichnet, ein weiterer möglicher Weg entgegengesetzt - man hat die Wahl.

Die Inszenierung lebt vom Text Eribons und dem klaren ruhigen Vortrag von Nina Hoss. Und von den Bildern des Films (Sébastien Dupouey) eine Mischung aus Dokumentation der Reise sowie historischen und aktuellen Bildern aus Frankreich, England und Deutschland. Die Unterbrechungen, in denen Bush Moukarzel und Ali Gadema (als Angestellter des Tonstudios)  - übrigens ein in Manchester bekannter Rapper und Word Artist - ihre Auftritte haben sind witzig und helfen der*m Zuschauer*in, selbst eine Zäsur zu machen und Text und Bilder zu verarbeiten.


Bush Moukarzel und Nina Hoss in "Returning to Reims" (Foto: Arno Declair)


Es ist wenig „Theater“, eher dokumentarisches Essay und für diejenigen, die den Text von Eribon kennen, weil sie ihn bereits gelesen haben, eine Nacherzählung in Bildern mit Kommentar."Wir sind ja hier nicht im Theater", weist der Regisseur die Schauspielerin zurecht. Genau! Für alle, die sich gefragt haben, wie Ostermeier den Roman dramatisiert, ist das die Antwort: Er macht es einfach nicht.

Die Deutschlandpremiere von „Rückkehr nach Reims“ mit Nina Hoss sowie Hans-Jochen Wagner und Renato Schuch wird am 24. September an der Schaubühne stattfinden, am Tag der Bundestagswahl 2017. Dies sei Absicht, erklärte Ostermeier in einem Deutschlandfunk Interview (vom 8.7.2017). Somit müsse man sich, nachdem die ersten Hochrechnungen feststünden, mit der Frage auseinandersetzen, warum Schulz es nicht geschafft habe. Der Abend befasst sich auch historisch mit der Politik und den unterschiedlichen sozialdemokratischen Regierungen der letzten 30 Jahre. Ein Ergebnis werden wir an diesem Tag sehen – im Theater sowie im Realen.

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Koproduktion mit dem Manchester International Festival MIF, HOME Manchester und dem Théâtre de la Ville Paris. Gefördert durch die Lotto Stiftung Berlin.

Regie: Thomas Ostermeier   
Bühne und Kostüme: Nina Wetzel   
Film: Sébastien Dupouey, Thomas Ostermeier   
Kamera: Markus Lenz, Sébastien Dupouey   
Ton: Peter Carstens
Musik: Nils Ostendorf   
Sounddesign: Jochen Jezussek
Dramaturgie: Florian Borchmeyer, Maja Zade   
Licht: Erich Schneider   

Mit: Nina Hoss   
Mit: Bush Moukarzel / Hans-Jochen Wagner   
Mit: Ali Gadema / Renato Schuch 


Premiere in Manchester: 8. Juli 2017
Premiere in Berlin: 24. September 2017

Weitere Infos auf der Seite der Schaubühne.

25. Juni 2017

Welches Jahr haben wir gerade? von Afsane Ehsandar / Autorentheatertage 2017 (Deutsches Theater) - Gastbeitrag von Steffi Eisenschenk


Entkommen, doch der Zeit entglitten?

„Heute morgen bin ich durchgedreht. Ich habe mein Bestes versucht.“

Wie so eine bizarre Zwiespältigkeit sitzt und steht die Hauptfigur, gespielt von zwei Schauspielerinnen, auf dem Grund eines Schwimmbeckens. Ein dünnes Licht beleuchtet das verhüllte Leben am Boden. Das Leben. Ein Fluss? Ein Meer? Oder ein eingegrenztes Becken? Wer aber setzt den Rahmen? Die Spielregeln? Die Leben einer Frau, mit mehreren Ichs. Die Stimmen aus der Vergangenheit übernimmt ein Kassettenrekorder. Ihr Geist beobachtet sich selbst aus allen Ecken oder kommentiert vom Beckenrand aus. Die Ketten der Erinnerungen, die Fluchterlebnisse - sie hängen in schweren Schatten in die Gegenwart hinein. Die grausamen Erlebnisse der Flucht zerstören jeden Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen. Geradlinig ist gar nichts. Verunsicherung und eine unterschwellige Bedrohung hängen in der Luft. Immer wieder funkt die Stimme aus dem Kassettenrekorder dazwischen – eine Störung. Eine verzerrte Wahrnehmung. Das hier? Was jetzt? Die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft? Der Schock - ein mieser Anker, der einen zu Boden zieht, besucht einen immer wieder. Was war, was ist? Diese Vorstellung von Veränderung. Ist das nicht die Nahrung von Mut? Oder ist es eher die Hoffnung?

„Ich war mit dem Kopf in den Wolken“

sagt die Schauspielerin. Die Erinnerungen, die Alpträumen, die festkleben im Gehirn und die Gegenwart beeinflussen, in die Zukunft greifen. Und doch scheint der Wille stark gewesen zu sein, die Dinge nicht mehr aushalten zu wollen. Eine andere Idee zu haben. Vom Leben. Von der Zukunft. Von der Zukunft als schöner Traum vom blauen Himmel. Die Gedanken sind längst geflohen, nur der Körper ist noch gefangen. Eingemauert, eingegrenzt, eingesperrt. Überall sucht sie nach den Verboten. Privat. Members Only. Verzweifelt versucht sie es zu richten, ihr Leben. Als ob die Risse zu kitten wären wie so ein kaputter Schlauch. Endlich die Dinge zum Laufen zu bringen. Die Löcher stopfen. Wieder fest im Sattel zu sitzen, das Leben in den Griff bekommen. Und nicht in der Leere zu hängen, nicht auf der Stelle treten, sich abstrampeln, aber nicht vorwärtskommen. Dieses Leben, diese zwei Leben zu leben, das verlangt viel. Das Öffentliche und das Private. Diese Parallelen des gleichzeitigen Ichs. Was im Herkunftsland (Iran) der Autorin notwendig ist für viele: zwei Leben zu leben in diesem repressiven Wächterstaat. Gerade als Frau. Man muss Kopftuch tragen, Fahrrad fahren ist verboten, Sport treiben ist nur in speziellen Frauenparks erlaubt, um nur einige zu nennen. Aber die beiden Ichs sind geflohen. Das neue Leben fordert neue Dinge. Die alte Ordnung gilt nicht mehr, die neue ist noch nicht gefunden. Werden es drei oder vier Ichs werden? Diese Sehnsucht nach einem Leben.

Das Theaterstück, ein Dialog mit sich selbst und der Dialog mit ihm. Oder ein Verhör? Ein Mann. Ein Partner? Einer, der im Gefängnis sitzt? Ein Vater? Mehrere Männer. Beamte, Polizisten. Vergewaltiger. So genau weiß man das nicht, wann wer spricht. Die Erinnerungen durchkreuzen das Jetzt. Ungenau. Gestaltlos. Diffus. Diese Subtilität braucht keine Handgreiflichkeiten. Beängstigend sitzt die Angst im Raum zwischen den Worten. Ort, Zeit und Umstände sind unbekannt. Doch die Schlagstöcke der weißen Kälte sind immer noch da. Ein Schlagstock mit Uniform, der Nacktheit befiehlt. Im Kopf ist das nicht so einfach zu löschen, da stapeln sich die Erlebnisse. Die zwei Stimmen der beiden Ichs fallen in Chorgesänge, die Ichs kurz vereint. In einigen Momenten singt auch die männliche Stimme mit. Die Stimmen starten unterschiedlich, drehen sich und kommen wieder zusammen, um einen gemeinsamen Rhythmus zu finden. Gemeinsam, getrennt zusammen.





Die Träume des Ichs sind schon längst hinausgeklettert und sitzen am Beckenrand. Eine Selbstbeobachtung. Mitleidig, weil der Körper hängt noch fest. Sitzt, bewegungslos. Der Körper folgt den Gedanken nicht so leicht. Der muss viel mehr aushalten und überwinden. Aber welchen Weg soll sie gehen? „Gehe nie da lang, wo alle gehen.“ warnt die männliche Stimme. „Die Polizei folgt immer den Menschenmengen.“ Immer noch bedrohlich, das Leben. Und auch, wenn der Körper die Flucht überlebt hat, mit allen Hindernissen der Vertreibung. Und auch, wenn sie allein in diesem neuen Land steht - in diesem neuen Leben, wo alles so fremd ist und die Ichs nach Halt suchen - will sie dazugehören, zu ihrer erträumten Zukunft. Dazugehören. Unbedingt dazugehören. Die beiden Ichs zusammen zum neuen Ich? Versuche, die immer wieder durchkreuzt werden, weil immer wieder andere Regeln gelten. Hier und dort, andere Spielregeln. Es muss der Maßstab gewechselt werden, was eine Orientierung erschwert.

„Neu anfangen. Sich blond machen. Sich blond färben. Alles neu.“


Afsane Ehsandar zeigt die Spaltung der Identität, die Einflüsse und die Transformation. Die Verwirrung, das Trauma der Hauptfigur ist spürbar, die sich im Titel ausdrückt: Welches Jahr haben wir gerade?

„Ein Drama über die Unmöglichkeit, Unaussprechliches auszusprechen. Gegen den Anspruch, es immer ganz genau wissen zu wollen. Gerade in der Verweigerung wird das Schreckliche spürbar.“ (Aus der Jurybegründung der Autorentheatertage 2017)

Afsane Ehsandar, geboren 1981 in Teheran, Iran. Sie ist als Autorin und Lektorin tätig. Sie lebt seit drei Jahren in Berlin und schreibt seither auf Deutsch. Ihre Stücke drehen sich häufig um Fragen von Identität, Gewalt und Sexualität.

(Gastbeitrag von Steffi Eisenschenk)

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Regie: Mélanie Huber
Bühne / Kostüme: Marie Luce Theis
Komposition: Martin von Almen
Arrangements der Liedtexte: Stephan Teuwissen

Uraufführung am 23. Juni 2017
Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich
  
Besetzung:
Sarah Gailer, Sarah Hostettler, Nicolas Rosat, Isabelle Menke (Stimme)


Weitere Infos zu den Autorentheatertagen 2017 und zum Stück hier.