4. März 2012

Die Realität ist keine Party: Ostermeiers „Fräulein Julie“ nach Strindberg auf dem F.I.N.D. 2012

Festival ist schon eine besondere Theateratmosphäre! Und gerade heute, wo Thomas Ostermeier „Fräulein Julie“, das er mit dem Ensemble des Theaters der Nationen aus Moskau einstudiert hat, gezeigt wird, setzt sich das Publikum natürlich völlig anders zusammen als gewohnt. Irgendwie ist heute im Zuschauerraum alles ein bisschen schicker, glamouröser und dekadenter als sonst. Ich warte nur darauf, dass irgendwer mit einem Handtaschenhund hineinkommt. Den trägt später Juli über die Bühne und aus dem Publikum kommt das obligatorische „Ohhhh…“. Auffällig ist außerdem, dass noch während der ersten Szene überall herumgetuschelt wird und dass sich mindestens fünf Zuschauer vom Hinweis das Handy während der Vorstellung auszuschalten, nicht angesprochen fühlten. Dafür gabs am Schluss jede Menge Blumen und sogar Pralinen für die Schauspieler. Festivals ist eben anders.


Aber nun mal vom Zuschauerraum auf die Bühne:
Für Ostermeiers Julie-Inszenierung hat der russische Autor Michail Durnenkow Strindbergs Stück ins heutige Russland übertragen. In der Eingangsszene kocht die Hausangestellte Kristina (Julia Peresild) am Silvesterabend stumm ein Huhn für den eingangs erwähnten Hund. Im Hintergrund fällt Schnee, aus dem Off hört man Technoklänge. Die Szene in der verchromten Küche (Bühne: Jan Pappelbaum), die nicht eben viel Gemütlichkeit ausstrahlt, wird von Videokameras, die irgendwo versteckt sind, gefilmt und auf eine Leinwand projiziert. In diese kühle Stille platzen zuerst der Chauffeur Jean (Jewgenij Mironow) und schließlich Julie (Tschulpan Chamatowa), die Tochter des Hausherrn. Die Handlung nimmt ihren Lauf wie sie muss: Die beiden fühlen sich aus unterschiedlichen Gründen zueinander hingezogen – er wittert Aufstiegschancen, sie ein Abenteuer durch den Ausbruch aus ihrer Welt. Nach einem Flirt landen die beiden im Bett. Währenddessen besetzen die Partygäste die Bühne und feiern im eben noch klinischen Setting eine wilde orgiastische Party. Das Schlachtfeld, das sie hinterlassen wird in der Folge der Schauplatz für das ungleiche Paar. Jean, der den Standesunterschied anerkennend noch während des Flirts kontrolliert und distanziert agierte, packt nun richtig zu: Er stößt und schleudert Julie über die Bühne, sperrt sie in den Gefrierschrank, mal leidenschaftlich, mal wütend und unkontrolliert . Julie, die vor der Verführung noch Herrin der Lage war und ihre weiblichen Reize als Machtinstrument einsetzte, bekommt es, die Konsequenzen nicht abschätzen könnend, mit der Angst zu tun und wechselt von einer Rolle in die nächste: mal hysterisch, dann wieder kokett, mal als Opfer und gleich darauf wieder gefährlich provokant reizt sie Jean. Beide stoßen sich permanent an und wieder ab, sind mal zärtlich miteinander, mal brutal. Keiner scheint mehr zu wissen, in welchen Grenzen er sich zu bewegen hat, haben sie diese doch gerade selbst aufgehoben. Weil es kein zurück mehr gibt, entschließen sie sich zur Flucht, die jedoch durch das erneute Auftreten der Hausangestellten Kristian gestoppt wird. Sie führt den beiden vor Augen, welche Rollen ihnen in dieser Gesellschaft zustehen. Das sich das Geschehene jedoch nicht mehr ungeschehen machen lässt, liegt die Lösung schließlich in der bewaffneten Hand Julies.


Mit seinen beiden Hauptdarstellern hat Ostermeier eine gute Wahl getroffen: Beide sind attraktiv, energetisch und verfügen über eine extreme Körperbeherrschung (wenn Chamatowa in 14-Zentimerter-Plateautschuhen mit einer Wodkaflasche in der Hand über den spiegelglatten Boden torkelt, der über und über mit Geschirr, Flaschen und Partydekoresten übersäht ist, grenzt das an Akrobatik). Und auch wenn man kein Wort russisch versteht (Anmerkung: deutsche und englische Übertitel), kommen die Emotionen in den Dialogen sogar in den hinteren Reihen an. Ostermeier ist hier mal wieder eine Inszenierung gelungen, die ihresgleichen sucht und die zwei Tage vor der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Russland zusätzlich noch an Bedeutung gewinnt.

Weitere Infos zum F.I.N.D. 2012.

Fotos: Sergey Petrov

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen