14. Mai 2011

tt11: "Verrücktes Blut" von Nurkan Erpulat


Schiller in Kreuzberg mit sieben Schüler/innen arabischer und türkischer Herkunft. Die Lehrerin kämpft zunächst einen aussichtslosen Kampf: An die Umsetzung des Sturm-und-Drang Stücks "Die Räuber" mit den Jugendlichen ist nicht zu denken, denn sie schafft es zunächst kaum, sie zu einem respektvollen Umgang miteinander und ihr gegenbüber zu bewegen. Dabei ist "Respekt" ein Begriff, der den Protagonisten zwar leicht und häufig über die Lippen geht, deswegen aber keinesfalls praktiziert wird.

Als ihr eine geladene Pistole aus dem Rucksack eines Schüler in die Hände fällt, übernimmt sie die Regie. Zunächst noch unsicher und zitternd entwickelt sie sich im Laufe des Stücks zu einer kompromislosen Bestimmerin über die Handlungen der Jugendlichen. Mit Drohungen und Gewalt erzwingt sie Dialoge aus "Die Räuber" und "Kabale und Liebe", die sich im Laufe des Spiels verselbständigen. Plötzlich verschwimmen die Realität der jungen Schauspieler mit der Handlung bzw. den Texten der Dramen. Die Lehrerin will die Schülerin mit Kopftuch dazu bringen, sich aus ihrer Rolle der unterdrückten Muslima zu befreien, fordert von dem Jungen kurdischer Herkunft endlich selbstbewusst zu sein und sich gegen seine Peiniger zu wehren und bringt den Macho, der die anderen unterdrückt dazu, sich mit heruntergelassener Hose zu unterwerfen.

Während die Lehrerin zunehmend aggressiver versucht, die Schüler/innen dazu zu bewegen, über ihre Handlungen und ihre Attitüden zu reflektieren, kippen die Reaktionen dieser: Plötzlich fordern sie Toleranz und eine zweite Chance für den Schurken - sie schreien nach den Werten der Aufklärung, die ursprünglich auf dem Lerhplan standen.

Irgendwann gelangt das Mädchen mit Kopftuch in den Besitz der Waffe und hat zum ersten mal die Chance, den jungen Männern zu sagen, wo es lang geht. Sie nimmt ihr Kopftuch ab, kann aber mit der neuen Situation nicht umgehen. Sie verliert die Kontrolle über ihr Tun. Ist die Forderung der Lehrerin nach mehr Emanzipation muslimischer Mädchen zu naiv, zu schnell? Sind ihr die Konsequenzen bewusst? Und so wird jeder Befreiungsschlag der Schüler/innen sofort wieder in Frage gestellt...

Am Schluss wird klar: Es ist alles bloß Theater. Doch einer - der schüchterne kurdische Junge, der während der ungewöhnlichen Probe, den Franz Moor spielen musste - nimmt seine Rolle allzu ernst und kann das Spiel nicht beenden. Auch dann nicht als alle alle ihn beschwören, jetzt aufzuhören.

Trotz des ernsten Themas und der Brutalität und Rücksichtslosigkeit, die hier inszeniert wird, erlaubt das Stück den Zuschauer/innen immer wieder aberwitzige Momente und Lacher, die einem freilich in der nächsten Sekunde wieder im Halse stecken bleiben.

Verrücktes Blut
Ballhaus Naunynstraße, Berlin / Ruhrtriennale
von Nurkan Erpulat und Jens Hillje

Mit Sesede Terziyan und Nora Rim Abdel-Maksoud, Erol Afşin, Emre Aksızoğlu, Tamer Arslan, Sohel Altan G., Rahel Johanna Jankowski, Gregor Löbel

Uraufführung 02. September 2010, Gebläsehalle, Duisburg
Premiere 09. September 2010, Ballhaus Naunynstraße, Berlin

Termine beim Theatertreffen 2011:
11./12./13./14. Mai 2011, 20 Uhr

Weitere Infos zum Stück.

Foto: Ute Lankafel












2 Kommentare:

  1. Richtig gut! Muss man sich anschauen!

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  2. Besteht eventuel die Möglichkeit denn Handlungstext zu bekommen ?
    Vielen Dank

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