31. Januar 2023

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 21: Huggy Wuggy Poppy Playtime - Titus Andronicus (Vagantenbühne)

 

Max Penthollow schreibt mir:

 

Liebe Maren,

nach längerer Kultur-Pause war ich wieder im Theater, in der Vagantenbühne bei William Shakespeares TITUS ANDRONICUS. Premiere war am Donnerstag, 07. September 2022. 

Ich habe es inzwischen 7x gesehen. Hier sind meine Eindrücke:

DIE ZUTIEFST BEKLAGENSWERTE RÖMISCHE TRAGÖDIE VON TITUS ANDRONICUS

THE MOST LAMENTABLE ROMAN TRAGEDY OF TITUS ANDRONICUS

Foto: Vagantenbühne


Das Stück:
 
Es ist eine Geschichte von Rache und Gewalt. Die Römer haben die Goten besiegt und der neue Kaiser Saturninus ("Sati"), Sohn des verstorbenen Kaisers, hat die Gotenkönigin Tamora zur Frau genommen, sie ist nun neue Kaiserin von Rom. Tamora nimmt Rache am römischen Heerführer Titus Andronicus, der ihren Sohn ungeachtet ihres Flehens um dessen Leben hinrichten ließ. Es ist eine Geschichte von Gewalt, Erniedrigungen und Demütigungen, ein Bericht von Unterwerfung, Angst, Lügen, Herrschaft, einer Orgie von Macht, Rohheit, Verhöhnung und Menschenverachtung.

Die Motive sind an Grausamkeit kaum zu überbieten: Mord und Totschlag, Vergewaltigung, Verstümmelung und Kannibalismus. Wir bekommen das volle Programm an Gräueln von Shakespeares erster und besonders grausamer Tragödie (ca.1592), zu Shakespeares Zeit ein Publikumserfolg (Quelle: Programmheft der Vagantenbühne zum Stück). Slash und Splatter.


Die Inszenierung:

Die Protagonisten finden sich in einer therapeutischen Sitzung bei Dr. Aaron (im Video zugeschaltet) und durchleben nun mit Dr. Aarons therapeutischer Begleitung ihre traumatischen Erfahrungen ein zweites Mal. Wir durchleben sie mit ihnen. Das ist der Rahmen der Inszenierung.

Das Bühnenbild besteht aus einfachen grifflosen, glattweißen Truhen, Kästen und Schränken, beliebig wandelbar und verschiebbar, sie enthalten die Spiel-Utensilien fürs Stück. Die Kostüme und Requisiten sind schlicht, einfach, allen Epochen und allen Klischees frei zuzuordnen. Es gibt allerfeinste Texte von Shakespeare und Ovid ("Metamorphosen") und eigene Texte des Ensembles, dazu ein Crossover von exquisiter Pop- und Discomusik.

Viele der Figuren und Gewaltopfer sind Kuscheltiere: Teddybären, Huggy Wuggy Plüschpuppen, schwarze und weiße Baumwollsocken mit aufgenähten Kulleraugen als Handpuppen, dazu der Schuhlöffel als todbringender Dolch. Es sind unsere Kuscheltiere, unsere Teddybären, die hier so viel Leid erfahren müssen, unsere Liebsten aus unserem eigenen Kinderbettchen. Umso schlimmer.

Die Inszenierung hat für mich den Charakter eines Kasperletheaters, mit Präsentation des schaurigen Inhalts in komödiantischer Form und mit Slapstick-Elementen. Als sich Titus Andronicus – zur Sühne – von Tamora auf deren Anregung hin seine rechte Hand abhacken lässt, hören wir tiefenentspannte Bossa-Nova-Musik: "The Girl From Ipanema" mit Astrud Gilberto (1963).

Zum Schluss gibt Titus Andronicus als Küchenchef für Tamora und Saturninus ein Festbankett vor einem großen Duschvorhang, als Kostüme haben die Gäste durchsichtige Plasitkcapes. Es gibt klaren grünen Wackelpudding – die Götterspeise. Text: "Da ist viel Herzblut drin!" – "Ja, das schmeckt man!"

Dann geht alles ganz schnell (Originaltext Titus Andronicus): Titus Andronicus ersticht die Kaiserin Tamora, Kaiser Saturninus tötet daraufhin Titus Andronicus und Titus' Sohn Lucius tötet daraufhin Saturninus.

"Ende der Tragödie des Titus Andronicus."

Auf der Bühne: Urs Fabian Winiger in zwei Rollen, Stella Denis-Winkler als Tamora, Urs Stämpfli in fünf Rollen, Sebastian Wirnitzer als Dr. Aaron in der Videoprojektion. Sie spielen mit sichtbarer Freude und Begeisterung.

 
Mein Resümee:

Seit der Premiere am 7. September 2022 habe ich es mittlerweile schon sieben Mal gesehen. Für mich ist es etwas ganz Besonderes, diese selten aufgeführte und besonders grausame Shakespeare-Tragödie in Brian Bell's neuer Inszenierung in der Berliner Vagantenbühne sehen zu können.

Im Gespräch nach einer Aufführung erfahre ich: aktueller Anlass für diese Inszenierung von Titus Andronicus ist der Kriegsausbruch in der Ukraine im Februar 2022.

Foto: Vagantenbühne


Ich finde Stück und Inszenierung fantastisch, alles passt zusammen. 90 Minuten.

Einer der Darsteller hat zu mir gesagt: Eigentlich ist es gar nicht inszenierbar.

Voílà!

Nix wie hin!

Allerliebste Grüße

Max 

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Regie: Brian Bell
Bühne & Kostüme: Clara Wanke
Fassung: Brian Bell und Lars Georg Vogel
Videoprojektionen: Stella Schimmele

Deutsch von Frank Günther

Mit Urs Fabian Winiger, Stella Denis-Winkler, Urs Stämpfli, Sebastian Wirnitzer 

Premiere: 7. September 2022 

Weitere Infos auf der Website der Vagantenbühne.

22. März 2020

"Zwangsvorstellungen": Die Schaubühne zeigt Aufzeichnungen von Inszenierungen der letzten Jahre

Zugegeben, der Titel ›Zwangsvorstellungen‹ ist von Karl Valentin entliehen, aber was könnte in diesen Zeiten besser passen, in denen man sich morgens kneifen muss, um sich zu vergewissern, dass man nicht träumt?

Auch die Schaubühne musste aufgrund der Einschränkungen durch das Corona-Virus den Spielbetrieb einstellen. Um Theater-Fans trotzdem Zugang zum Theater ermöglichen zu können, zeigt sie Aufzeichnungen von Inszenierungen der vergangenen Jahre.

Den Anfang macht "Ein Volksfeind" am 21.3.2020. Bis zum 17.4 wird jeden Tag ab 18.30 Uhr eine Inszenierung auf der Seite der Schaubühne zu sehen sein.

Zuvor gibt es ab 18 Uhr kurze Lesungen, Improvisationen, Geschichten oder Lieder. Den Auftakt machen Thomas Ostermeier, Stephanie Eidt, David Ruland, Carolin Haupt und Thomas Bading. Welcher Beitrag wann gesendet wird, wird noch nicht verraten.

Hier das Online-Programm der Schaubühne:

Sendezeit:
täglich von 18.30 – 24 Uhr

Samstag, 21. März
Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
Regie: Thomas Ostermeier
Premiere am 18.07. 2012 in Avignon 
Premiere am 8.09.2012 an der Schaubühne am Lehniner Platz 
Die Aufzeichnung erfolgte in Kooperation mit 3sat. 
>>> Hier geht's zur Aufzeichnung
 Achtung: Verlängerte Sendezeit bis Sonntag 18 Uhr.

Sonntag, 22. März
Die Mutter
von Bertolt Brecht
nach dem Roman von Maxim Gorki
Regie: Wolfgang Schwiedrzik / Frank-Patrick Steckel / Peter Stein

Premiere am 8.10.1970 an der Schaubühne am Halleschen Ufer
Eine Aufzeichnung des SFB
>>> Anmerkung: Die Tonqualität der alten Aufzeichnung ist leider zu Beginn nicht sehr gut. Haben Sie bitte etwas Geduld. Nach etwa fünf Minuten wird der Ton klar und verständlich.

Montag, 23. März
TRUST
von Falk Richter
Regie und Choreographie: Falk Richter und Anouk van Dijk
Premiere am 10.10.2009 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Dienstag, 24. März      
Schlußchor
von Botho Strauss
Regie: Luc Bondy
Premiere am 4.02.1992 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Mittwoch, 25. März     
Die Ehe der Maria Braun
nach Fassbinder und Märtesheimer/Fröhlich
Regie: Thomas Ostermeier
Premiere am 6.06.2007 in den Münchner Kammerspielen

Donnerstag, 26. März   
Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Regie: Peter Stein
unter Verwendung der Übersetzungen von Christian Morgenstern und Georg Schulte-Frohlinde, bearbeitet von Peter Stein und Botho Strauß 
Erster Teil:
Jugend im GudbrandstalPremiere am 13.05.1971 an der Schaubühne am Halleschen Ufer

Freitag, 27. März                     
Peer Gynt
von Henrik Ibsen
Regie: Peter Stein
Unter Verwendung der Übersetzungen von Christian Morgenstern und Georg Schulte-Frohlinde, bearbeitet von Peter Stein und Botho Strauß
Zweiter Teil:
In der Fremde und Heimkehr
Premiere am 14.05.1971 an der Schaubühne am Halleschen Ufer

Samstag, 28. März
Hedda Gabler
von Henrik Ibsen
Regie: Thomas Ostermeier
Premiere am 26.10.2005 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Sonntag, 29. März
Prinz Friedrich von Homburg
von Heinrich von Kleist
Regie: Peter Stein
Premiere am 4.11.1972 an der Schaubühne Hallesches Ufer

Montag, 30. März
Woyzeck
von Georg Büchner
Regie: Thomas Ostermeier
Premiere am 20.05.2003 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Dienstag, 31. März
Die Bakchen
von Euripides
Regie: Klaus Michael Grüber
Premiere am 7.02.1974 im Messegelände am Funkturm-Pavillon B

Mittwoch, 1. April
Hamlet
von William Shakespeare
Regie: Thomas Ostermeier
Premiere am 16.07.2008 beim Festival d'Avignon

Donnerstag, 2. April
Sommergäste
von Maxim Gorki
Regie: Peter Stein
Premiere am 22.12.1974 
Verfilmung der Inszenierung an der Schaubühne von 1975

Freitag, 3. April
Richard III.
von William Shakespeare
Regie: Thomas Ostermeier
Premiere am 6.07.2015 beim Festival d’Avignon

Samstag, 4. April
Groß und Klein
von Botho Strauß
Regie: Peter Stein
Premiere am 8.12.1978 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Sonntag, 5. April
For the Disconnected ChildText, Regie und Choreographie: Falk Richter
Premiere am 14.06.2013 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Montag, 6. April
Kunst
von Yasmina Reza
Regie: Felix Prader
Premiere am 29.10.1995 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Dienstag, 7. April
Das System 2 / Unter Eis
von Falk Richter
Regie: Falk Richter
Premiere am 15.04.2004 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Mittwoch, 8. April   
Die Orestie des Aischylos, Teil 1
Regie: Peter Stein

Donnerstag, 9. April    
Die Orestie des Aischylos, Teil 2
Regie: Peter Stein

Freitag, 10. April
Die Orestie des Aischylos, Teil 3
Regie: Peter Stein
Premiere am 18.10.1980 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Samstag, 11. April     
Bella Figura
von Yasmina Reza
Regie: Thomas Ostermeier
Premiere am 16.5.2015 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Sonntag, 12. April
Drei Schwestern
von Anton P. Tschechow
Regie: Peter Stein
Premiere am 4.02.1984 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Montag, 13. April
Ungeduld des Herzens von Stefan ZweigFassung von Simon McBurney, James Yeatman, Maja Zade und dem Ensemble
Regie: Simon McBurney
Premiere am 22.12.2015 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Dienstag, 14. April   
Der einsame Weg
von Arthur Schnitzler
Regie: Andrea Breth
Premiere am 30.09.1991 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Mittwoch, 15. April
Die Zeit und das Zimmer
von Botho Strauß
Regie: Luc Bondy
Premiere am 8.02.1989 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Donnerstag, 16. April
Rückkehr nach Reims
nach Didier Eribon
in einer Fassung der Schaubühne
Regie: Thomas Ostermeier
Premiere am 24.9.2017 an der Schaubühne am Lehniner Platz

Freitag, 17. April                   
Jagdszenen aus Niederbayern
von Martin Sperr
Regie: Hagen Mueller-Stahl/ Wolfgang Schwiedrzik
Premiere am 27.09.1966 an der Schaubühne am Halleschen Ufer

10. Juli 2019

Revolution mit Mediation: Über eine "Volksfeind"-Vorstellung an der Schaubühne

Dafür gehe ich ins Theater. Und deswegen kann ich mir ein Stück wie Ein Volksfeind auch zum 5., 6. oder 7. mal ansehen.

Bei einer der letzten Vorstellung der Spielzeit 2018/19 nahm die Diskussion, die nach Stockmanns (Christoph Gawenda) Rede auf der Bürger*innenversammlung folgt, eine besondere Wendung.  Nach einigen Wortmeldungen und der üblichen Kritik am Verhalten des Stadtrats und des Zeitungsverlegers meldete sich eine Dame und schlug vor, die Diskussion moderiert weiterzuführen. David Ruland in der Rolle es Verlegers Aslaksen merkte an, dass er dies ja versuche. Die Dame gab daraufhin zu bedenken, dass er aufgrund seiner persönlichen Interessen nicht die richtige Person dafür sei. Sie folgte der Einladung, auf die Bühne zu kommen und das Gespräch zu führen. Sie stellte sich als Mediatorin vor und leitete eine Situation ein, in der beide Parteien, die Möglichkeit hatten, ihre Punkte ruhig und ohne Unterbrechungen darzulegen. Wären wir nicht mitten in einem Stück sondern einer realen Situation gewesen, wäre das die ideale Situation gewesen, um mit einer geführten Diskussion durch eine neutrale Person verschiedene Aspekte des Problems zu beleuchten. Es wäre sicherlich spannend gewesen, zu beobachten, in welche Richtung das Gespräch läuft. Doch da das Stück weitergehen musste – wir befanden uns halt doch „nur“ im Theater – wurde die Dame nach wenigen Minuten von der Bühne geleitet. Dennoch zeigt sich hier, insbesondere bei einer Inszenierung wie der „Volksfeind“ , was Theater möglich macht. Kein Abend ist gleich, über die Handlung und Konflikte denkt vermutlich niemand aus dem Publikum das selben und je nach Tagesgeschehen sowie aktueller politischer Situation, kann man die von den Schauspieler*innen gesprochenen Texte unterschiedlich bewerten.

Deswegen bleibt Theater für mich immer spannend und ich empfehle jedem*jeder, sich eine Inszenierung mehr als einmal anzusehen.

Christoph Gawenda als Dr. Stockmann (Foto: Arno Declair)

24. Februar 2019

Vorschau & Empfehlungen: Festival Internationale Neue Dramatik 2019 - "Archäologie der Gegenwart"

Vom 4. bis 14. April 2019 findet an der Schaubühne das 19. Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) statt. Das Motto lautet "Archäologie der Gegenwart". Die Stücke aus Brüssel, Santiago de Chile, New York, London, Barcelona und Montréal werden das erste mal in Berlin gezeigt. Aktuelle Themen wie Flucht und Migration, Klimawandel, dysfunktionale Sozialsysteme, Feminismus und patriarchale Strukturen sind die Schwerpunkte beim diesjährigen Festival. Im FIND 2019 wird durch den Blick auf die (jüngere) Geschichte versucht, das Heute zu verstehen.



Eine gute Zusammenfassung der zehn Stücke, die während des Festivals gezeigt werden, findet sich auf der Seite der Schaubühne.

Hier möchte ich ein paar Empfehlungen aussprechen.

Trap Street vom Kollektiv Kandinsky (London)
Inszeniert wurde das Stück von James Yeatman, der als Co-Regisseur von Simon McBurney schon an der Schaubühnen-Produktion »Ungeduld des Herzens« mitgewirkt hat. Wenn wir auf dem FIND das Stück über den Verfall des britischen Sozialsystems sehen - die Kulisse bildet übrigens die Ruine eines 60er Jahre Plattenbaus -, wird der Brexit eine Woche her sein. Wie sich das wohl anfühlt?

Paisajes para no colorear von Marco Layera & Ensemble (Santiago de Chile)
Der Titel bedeutet übersetzt so viel wie "Landschaft zum Nicht-Ausmalen".
Neun Mädchen zwischen 13 und 17 Jahren befreien sich durch ein Re-enactment von der Unterdrückung durch die katholische Kirche, Faschismus und Machismus in Chile. Es handelt sich um Geschichten, die von den Medien nicht erzählt wurden. Spannend wird sein, wie die jungen Frauen, die viel Unterdrückung und Gewalt erfahren haben, die Kraft des Spielens nutzen werden, um sich von ihrer Vergangenheit zu befreien. 

Danke Deutschland - Cảm ơn nước Đức ist eine Projektentwicklung von Sanja Mitrović
Von ihr waren schon beim FIND 2016 zwei Stücke ("SPEAK!" und "Do you still love me") zu sehen. In der Inszenierung, die ins  Repertoire der Schaubühne übernommen wird, hinterfragt die Schauspielerin und Regisseurin das Verhältnis von Eingewanderten und Staatsbürger*innen. Dabei stehen in die DDR Eingewanderte aus Vietnam (sogenannten "Boat People") und Bürger*innen aus der BRD und DDR im Mittelpunkt. Schauspieler*innen des Ensembles, die in den beiden Teilen Deutschlands in den 70er und 80er Jahren groß geworden sind, sowie aus Vietnam eingewanderte bzw. der zweiten Generation durchleuchten die Konflikte im wiedervereinigten Deutschland und wie sich das Verhältnis zu Migrant*innen seitdem entwickelt hat.

Post-Humains von Dominique Leclerc (Montréal)
Die Schauspielerin, Regisseurin, Autorin beschäftigt sich in dieser Inszenierung mit der Welt der Cyborgs und der transhumanistischen Bewegung. Sie untersucht eine Zukunft, die bereits Gegenwart ist, denn die Menschen sind schon längst stärker mit Technologie (z.B. Smartphones, Implantate zu medizinischen Zwecken) verbunden und davon abhängig als ihnen bewusst ist. Die zunehmende Digitalisierung als Fluch oder Segen?

THE TOWN HALL AFFAIR von The Wooster Group (New York)
Seit den 70er Jahren gilt das Künstler*innenkollektiv The Wooster Group als eine der einflussreichsten Theaterkompanien und Vorreiter*in des postdramatischen Theaters. Unter den Künstler*innen, die mit der Wooster Group gearbeitet haben, befinden sich u.a. Willem Dafoe, Laurie Anderson, John Malkovich, John Lurie, Steve Buscemi. 
Bei der eingeladenen Inszenierung handelt es sich um ein Re-enactment des 40 Jahre alten Films "Town Bloody Hall" von Chris Hegedus und D.A. Pennebaker. 1971 fand in der New Yorker Town Hall eine Debatte zwischen den Feministinnen der zweiten Welle (u.a. Germain Greer) und dem Autor Norman Mailer (eher bekannt durch seine machistischen Texte) statt. Damals ging es um Themen wie die Benachteilung von Frauen, Abtreibungsgesetze und Vergewaltigung, also Dinge über die wir heute wieder - oder immer noch - diskutieren.

Eingeladen werden konnte diese Inszenierung u.a. Dank der finanziellen Unterstützung der Freunde der Schaubühne am Lehniner Platz e.V. 
 
Poetry Slam: ONE MIC STAND mit Young Identity (Manchester)
Hierbei handelt es sich um keine Inszenierung sondern um das Rahmenprogramm des FIND 2019:
Auf diese Show des Spoken Word Kollektivs freue ich mich besonders, da ich schon beim letzten FIND fasziniert von den jungen Künstler*innen war. Young Identity Mitbegründer Ali Gadema ist übrigens in der englischsprachigen Fassung von Thomas Ostermeiers "Rückkehr nach Reims" an der Schaubühne zu sehen.

Im Anschluss findet ein Konzert mit Carol Schuler & The Maenads (Soul, Rock, Blues, Psychedelic) statt.

Weitergefeiert wird danach auf der FIND Closing Party mit DJ Preller (detektor.fm, Vice).

Der Vorverkauf für das FIND 2019 beginnt am 1. März 2019.

7. Januar 2019

Ja heißt ja und... - Lecture Performance von Carolin Emcke (Schaubühne)

Ursprüglich hatte Carolin Emcke nicht geplant, sich in Form eines Textes zu #metoo zu äußern. Doch dann musste sie ihre Gedanken dazu doch zu Papier bringen, wie sie in einem Interview erklärt.

In ihrer 1,5-stündigen Lecture Performance "Ja heißt ja und..." an der Schaubühne, wo sie seit zehn Jahren als Gastgeberin des Streitraums zu sehen ist, spricht Emcke viele Themen an: Neben Gedanken zu #metoo und zur aktuellen Genderdebatte lässt sie Persönliches einfließen, wie etwa Erlebnisse aus ihrer Zeit als Journalisin in Kriegsgebieten. Auch beschreibt sie, wie und warum ihr bisweilen das Recht abgesprochen wird, sich zu #metoo überhaupt äußern zu dürfen (als Frau, die Frauen begehrt).

Sie stellt fest, dass verschiedene Formen von Weiblichkeit als offensichtlich unterschiedlich schützenswert gelten und dass es soetwas wie eine "Schmerz-Hirarchie" gibt (unterschiedliche Erfahrungen werden als mehr oder weniger schlimm eingestuft). Dabei muss es darum gehen, überhaupt sagen zu dürfen, was einem wiederfahren ist. Das hat nichts mit Jammern oder Anklagen zu tun.

Carolin Emcke: Klare Worte (Foto: Gianmarco Bresadola)

Zum Titel: Etwas nicht zu wollen, bedeutet nicht, nichts zu wollen. Ein "Nein" grenzt nur ab und kann neue Räume und Möglichkeiten schaffen. Genausowenig ist ein "Ja" kein unbegrenztes Zugeständnis für was auch immer.

Und sie sagt, was wohl vielen durch den Kopf geht: Warum kann das denn nicht mal jemand anderes ansprechen? Warum müssen es immer, die sein, die selbst betroffen sind. Damit spricht sie an, was der nächste wichtige Schritt im Streben für Gerechtigkeit sein sollte: Es müssen auch diejenigen sich engagieren und Ungerechtigkeit aufzeigen, die die davon profitieren.

Der Text von Carolin Emcke soll im Frühjahr in Buchform erscheinen.
Es lohnt sich aber allemal, sie live zu sehen.


Von und mit: Carolin Emcke   
Video: Rebecca Riedel, Mieke Ulfig   
Dramaturgische Mitarbeit: Bettina Ehrlich   
Assistenz: Angelika Schmidt   
Licht: Erich Schneider   
Einrichtung Raum: Jan Pappelbaum   
Stage Manager: Roman Balko
Modellbau Video: Maïté Dietzel


Weitere Vorstellungen:
24. und 25. Januar 2019
1. und 2. Februar 2019

4. Dezember 2018

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 20: Sehnsucht und Erfüllung - Die Glasmenagerie (Deutsches Theater)

Max Penthollow schreibt mir:


Liebe Maren,

am 26. November war ich im Deutschen Theater in Tennessee Williams' "Glasmenagerie" aus dem Jahr 1944, Regie Stephan Kimmig, Premiere am 16. Dezember 2016.

Menagerie (französisch Ménagerie), die,

1) ein kleiner Tierpark an Fürstenhöfen;

2) Wandertierschau, häufig zu einem Zirkus gehörend.

(aus: Goldmann Lexikon, Bertelsmann Lexigraphisches Institut, Gütersloh 1998, Band 15, S. 6533)


Auf der Bühne ist die kleine Familie, Mutter, Sohn und Tochter - Amanda, Tom und Laura, in ihrem Wohn- und Esszimmer mit Schneiderei. Der Vater ist weg, es gibt nur noch die Erinnerung an ihn und ein Bild auf der Bühne. Ein Mann und Verehrer, Jim, kommt schließlich noch hinzu. Zwei Hühner – eine Henne und ein Hahn – sind in einem kleinen gläsernen Gehege links seitlich auf der Bühne untergebracht und haben ab und zu eigene Bühnenauftritte.

Die Glasmenagerie ist Lauras Sammlung kleiner zarter und zerbrechlicher Glastiere in einem kleinen Pappkarton, mit dabei auch ein Einhorn, das in der Spielhandlung durch versehentliche unachtsame Behandlung sein Horn verliert. "Das ist aber überhaupt nicht schlimm. Gar nicht schlimm."

Als Zweites hat Laura ihre Schallplatten.

Das Stück ist ein Spiel über Hoffnung und Sehnsucht nach Nähe, Liebe und Glück und über die Unmöglichkeit ihrer Erfüllung. Ein Leben in Geborgenheit und Liebe und Glück ist "eine Realität, von der sie nur träumen können".

Anja Schneider und Linn Reusse (Foto: Arno Declair)

Die wunderbaren Darstellerinnen und Darsteller dürfen zeigen, was sie alles können, womit sie – so stelle ich es mir vor - vielleicht schon immer und schon in der Schule und in ihrem ganzen Leben ihre Lieben und andere Menschen begeistert und zum Lachen und zum Staunen gebracht haben, mit Kunststückchen, Kabarett, Klamauk und slapstickartigem Witz. Hinreißend spielen sie das melancholische Spiel um Erwartung, Enttäuschung, Liebesverlangen und Liebesverlust, herzzerreißend und zum Weinen. Sie sind fantastisch und in ihrem Element: Anja Schneider, Linn Reusse, Marcel Kohler und Holger Stockhaus.

Durch das in Form und Inhalt gegensätzliche Spiel entsteht ein eindrückliches Bild einer unendlichen Sehnsucht und grenzenlosen Hoffnung sowie einer großen und unermesslichen Traurigkeit. Für mich war das Stück gerade in dieser polaren Art der Inszenierung ganz wunderschön und bezaubernd und der Abend für mich besonders anrührend, bewegend und entzückend!

Anja Schneider als Amanda Wingfield (Foto: Arno Declair)
 
Die Bedeutung der beiden leitmotivischen Hühner auf der Bühne, Henne und Hahn, bestimmen wir selbst. Uns allein ist es überlassen, was wir an Interpretation in dieses Motiv hineinlegen möchten oder nicht. Ich habe dieses Moment sehr genossen!

In der Nacht gibt es einen heftigen Regenschauer.

Jeder (jede) sollte eine Glasmenagerie haben.


Allerliebste Grüße

Max

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Regie: Stephan Kimmig
Bühne: Katja Haß
Kostüme: Anja Rabes
Musik: Michael Verhovec

Deutsch von Jörn van Dyck

Amanda Wingfield: Anja Schneider
Laura Wingfield: Linn Reusse
Tom Wingfield: Marcel Kohler
Jim O’Connor: Holger Stockhaus

20. November 2018

Max Penthollow schreibt mir // Kapitel 19: Total Therapy - Therapeutisierung des Alltags

Max Penthollow schreibt mir...

Liebe Maren,

am 13. November war ich bei der Premiere von Interrobangs neuer Performance "Total Therapy" im Festsaal der Berliner Sophiensäle.

In der Programm-Ankündigung steht: "in Total Therapy widmen sich Interrobang der zunehmenden Therapeutisierung des Alltags. Im Zuge von gesteigerter Selbstoptimierung, omnipräsentem Coaching und allgegenwärtiger Feedbackkultur werden immer weitere Lebensbereiche therapeutisiert."

Interrobang ist eine Performancegruppe aus Berlin.

Wir sind im Festsaal der Sophiensäle, gefühlt etwa 50 Theatergäste, Frauen und Männer. Im Raum stehen mehrere mit Buchstaben bezeichnete runde weiße Tische mit umgebenden Stühlen, am Boden sind große kreisrunde weiße Felder angelegt, es gibt das stufenförmige Theater-Podest, mehrere Kabinen mit weißen Vorhängen und ein Info-Center in der Mitte des Saals. Es ist ein Spiel und dauert zwei Stunden. Es gibt mehrere Spielgruppen mit jeweils wechselndem Teilnehmerinnen und Teilnehmern und dazu jeweils jemand vom Performance-Team, die oder der die jeweilige Gruppe in der jeweiligen Spielphase leitet. Teilweise findet das Spiel im freien Raum statt, teilweise an den runden Tischen.

 Erste Runde: Was denken wir über unsere Mitspieler*innen? (Foto: Renata Chueire)

Wir alle bekommen einen weißen Rucksack. Wir beurteilen die anderen und die anderen beurteilen uns, mit jeder Menge Vorurteilen, anhand kleiner weißer Zettel mit vorgefertigten Aufdrucken, die wir beliebig verteilen oder zuweisen können: "du hilfst den Nachbarn im Treppenhaus" oder "du hast versucht, die anderen zu übervorteilen". Alle Zettel kommen in den Rucksack. Wir bekommen Attribute in Form von bunten Spielkarten mit Aufschriften, z.B. Dominanz, Ehrgeiz, Bosheit und Mitgefühl. Wir spielen in kleinen Gruppen miteinander um den Erfolg und geben und erhalten Feedback in Form von Anerkennung oder Ablehnung, dementsprechend bekommen die anderen und bekommen wir Eigenschaften zugewiesen. Daraus entsteht jeweils ein individuelles Bild unserer Persönlichkeit.

Zweite Runde: Eigenschaften gewinnen oder verlieren (Foto: Renata Chueire)

Im letzten Viertel der Spielzeit und nachdem wir selbst erlebt haben, wie willkürlich und beliebig und zusammenhangsfrei wir untereinander Feedback und Eigenschaften vergeben und erhalten haben, geht das Spiel in eine Phase der Meditation. Wir bekommen Kopfhörer mit Frauenstimmen und Männerstimmen, die uns weiter begleiten. Die Stimmen leiten uns an, unsere im Spiel erlebten Begebenheiten und Situationen des Spielverlaufs nochmals in Gedanken an uns vorüberziehen zu lassen und zu reflektieren. Für mich war diese Phase eine besonders schöne, entspannende kathartische Situation. Aus dem Kopfhörer vernehmen wir phasenweise weitere beliebige an uns persönlich gerichtete anerkennende oder abwertende Kommentare zu unserer Persönlichkeit. In einer Kabine mit weißem Vorhang betrachten wir uns selbst im Spiegel und bekommen durch eine Lücke in der weißen Kabinenwand einen Gegenstand gereicht, einen kleinen bunten Holzpropeller oder ein kleines rotes Reh aus Plastik. Zum Abschluss begeben wir uns unterer weiterer Kopfhörer-Anleitung zum Podest und suchen uns dort einen Platz aus. Dann gestalten wir unter Anleitung auf den Boden-Ebenen des Podests unsere eigene Collage aus dem Inhalt unseres weißen Rucksacks, den Gegenständen und Zetteln und Eigenschafts-Spielkarten. Nur für uns allein und so wie wir es wollen. Jetzt sind wir ganz bei uns. Niemand bewertet unsere Collagen außer uns selbst. Für mich ist jetzt alles so richtig wie ich es mache und alles ist gut.
 
Bin ich das wirklich? (Foto: Renata Chueire)


Ich habe die Runde sehr genossen und bewundere es sehr, mit welcher Liebe und Hingabe Interrobang sich hier wieder ein wunderbares Spiel für uns ausgedacht haben. Wir alle spielen mit und erleben dabei, jeder für sich, wie relativ Selbstoptimierung, Coaching und allgegenwärtiges Feedback sein können. Wir erleben, wie gut es uns tun kann, in unserem eigenen Leben und Alltag eine Distanz zum Mainstream und zu unserem eigenen Anteil am Mainstream zu finden. So jedenfalls habe ich es erlebt.

Danke, Interrobang!

Allerliebste Grüße

Max


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Konzept: Interrobang
Von und mit: Bettina Grahs, Lisa Großmann, Kaja Jakstat, Elisabeth Lindig, Till Müller-Klug, Lajos Talamonti, Nina Tecklenburg
Bühne / Kostüm: Silke Bauer
Musik: Friedrich Greiling
Lichtdesign / Technische Leitung: Dirk Lutz Produktion ehrliche arbeit – freies Kulturbüro
Öffentlichkeitsarbeit: Tina Ebert
Hospitanz: Miriam Bach
Fotografie: Paula Reissig
Fotocollage: Silke Bauer

Eine Produktion von Interrobang in Koproduktion mit Schauspiel Leipzig, WUK Performing Arts Wien und SOPHIENSÆLE. Gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa und die Konzeptionsförderung des Fonds Darstellende Künste e.V. – aus Mitteln des Bundes.

Weitere Termine:
Residenz Schauspiel Leipzig
11.-18. April 2019

WUK Wien
Termine tbc

Bemerkenswerte Produktionen von Interrobang aus den vergangenen Jahren, über die wir berichtet haben:
Brot und Spiele
Der Prozess 2.0
To Like Or Not To Like