Max Penthollow schreibt mir:
Liebe Maren,
nach längerer Kultur-Pause war ich wieder im Theater, in der Vagantenbühne bei William Shakespeares TITUS ANDRONICUS. Premiere war am Donnerstag, 07. September 2022.
Ich habe es inzwischen 7x gesehen. Hier sind meine Eindrücke:
DIE ZUTIEFST BEKLAGENSWERTE RÖMISCHE TRAGÖDIE VON TITUS ANDRONICUS
THE MOST LAMENTABLE ROMAN TRAGEDY OF TITUS ANDRONICUS
Das Stück:
Es ist eine Geschichte von Rache und Gewalt. Die Römer haben die Goten besiegt und der neue Kaiser Saturninus ("Sati"), Sohn des verstorbenen Kaisers, hat die Gotenkönigin Tamora zur Frau genommen, sie ist nun neue Kaiserin von Rom. Tamora nimmt Rache am römischen Heerführer Titus Andronicus, der ihren Sohn ungeachtet ihres Flehens um dessen Leben hinrichten ließ. Es ist eine Geschichte von Gewalt, Erniedrigungen und Demütigungen, ein Bericht von Unterwerfung, Angst, Lügen, Herrschaft, einer Orgie von Macht, Rohheit, Verhöhnung und Menschenverachtung.
Die Motive sind an Grausamkeit kaum zu überbieten: Mord und Totschlag, Vergewaltigung, Verstümmelung und Kannibalismus. Wir bekommen das volle Programm an Gräueln von Shakespeares erster und besonders grausamer Tragödie (ca.1592), zu Shakespeares Zeit ein Publikumserfolg (Quelle: Programmheft der Vagantenbühne zum Stück). Slash und Splatter.
Die Inszenierung:
Die Protagonisten finden sich in einer therapeutischen Sitzung bei Dr. Aaron (im Video zugeschaltet) und durchleben nun mit Dr. Aarons therapeutischer Begleitung ihre traumatischen Erfahrungen ein zweites Mal. Wir durchleben sie mit ihnen. Das ist der Rahmen der Inszenierung.
Das Bühnenbild besteht aus einfachen grifflosen, glattweißen Truhen, Kästen und Schränken, beliebig wandelbar und verschiebbar, sie enthalten die Spiel-Utensilien fürs Stück. Die Kostüme und Requisiten sind schlicht, einfach, allen Epochen und allen Klischees frei zuzuordnen. Es gibt allerfeinste Texte von Shakespeare und Ovid ("Metamorphosen") und eigene Texte des Ensembles, dazu ein Crossover von exquisiter Pop- und Discomusik.
Viele der Figuren und Gewaltopfer sind Kuscheltiere: Teddybären, Huggy Wuggy Plüschpuppen, schwarze und weiße Baumwollsocken mit aufgenähten Kulleraugen als Handpuppen, dazu der Schuhlöffel als todbringender Dolch. Es sind unsere Kuscheltiere, unsere Teddybären, die hier so viel Leid erfahren müssen, unsere Liebsten aus unserem eigenen Kinderbettchen. Umso schlimmer.
Die Inszenierung hat für mich den Charakter eines Kasperletheaters, mit Präsentation des schaurigen Inhalts in komödiantischer Form und mit Slapstick-Elementen. Als sich Titus Andronicus – zur Sühne – von Tamora auf deren Anregung hin seine rechte Hand abhacken lässt, hören wir tiefenentspannte Bossa-Nova-Musik: "The Girl From Ipanema" mit Astrud Gilberto (1963).
Zum Schluss gibt Titus Andronicus als Küchenchef für Tamora und Saturninus ein Festbankett vor einem großen Duschvorhang, als Kostüme haben die Gäste durchsichtige Plasitkcapes. Es gibt klaren grünen Wackelpudding – die Götterspeise. Text: "Da ist viel Herzblut drin!" – "Ja, das schmeckt man!"
Dann geht alles ganz schnell (Originaltext Titus Andronicus): Titus Andronicus ersticht die Kaiserin Tamora, Kaiser Saturninus tötet daraufhin Titus Andronicus und Titus' Sohn Lucius tötet daraufhin Saturninus.
"Ende der Tragödie des Titus Andronicus."
Auf der Bühne: Urs Fabian Winiger in zwei Rollen, Stella Denis-Winkler als Tamora, Urs Stämpfli in fünf Rollen, Sebastian Wirnitzer als Dr. Aaron in der Videoprojektion. Sie spielen mit sichtbarer Freude und Begeisterung.
Mein Resümee:
Seit der Premiere am 7. September 2022 habe ich es mittlerweile schon sieben Mal gesehen. Für mich ist es etwas ganz Besonderes, diese selten aufgeführte und besonders grausame Shakespeare-Tragödie in Brian Bell's neuer Inszenierung in der Berliner Vagantenbühne sehen zu können.
Im Gespräch nach einer Aufführung erfahre ich: aktueller Anlass für diese Inszenierung von Titus Andronicus ist der Kriegsausbruch in der Ukraine im Februar 2022.
Ich finde Stück und Inszenierung fantastisch, alles passt zusammen. 90 Minuten.
Einer der Darsteller hat zu mir gesagt: Eigentlich ist es gar nicht inszenierbar.
Voílà!
Nix wie hin!
Allerliebste Grüße
Max
Regie: Brian Bell
Bühne & Kostüme: Clara Wanke
Fassung: Brian Bell und Lars Georg Vogel
Videoprojektionen: Stella Schimmele
Deutsch von Frank Günther
Mit Urs Fabian Winiger, Stella Denis-Winkler, Urs Stämpfli, Sebastian Wirnitzer
Premiere: 7. September 2022